- Tagebuch -


...liest gerade „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart

Am Ende lässt er sie gehen.

Sie, die er bewundert und geliebt hat.

Die er vergöttert und umsorgt hat.

Sie – seine Mutter.

 

Es ist eine raue Welt, in der Shuggie aufwächst. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit sowie die bis aufs Blut ausgetragene Fehde zwischen Katholiken und Protestanten machen Glasgow in den 80er Jahren zu einem dunklen Ort.

 

Shuggie sticht aus diesem Sumpf durch seine Feinfühligkeit heraus. Zudem vergöttert er seine Mutter, der er stets zu helfen versucht. Sie ist seine Königin, die durch ihre Schönheit besticht und selbstbewusst ihre Krone richtet, wenn sie wieder fällt.

 

Doch ihr ist nicht zu helfen. Der Alkohol zersetzt sie und im Rausch verliert sie regelmäßig die Kontrolle - bis ihr letztlich das Leben entgleitet.

 

Dies ist die bewegende Geschichte des Autors, die dieser fiktionalisiert hat. Vom rauen Klima des Umfelds über die Alkoholsucht der geliebten Mutter, ihre Selbstmordversuche vor den Kindern und die Gewalt der Männer bis hin zu den Diskriminierungen aufgrund seiner Homosexualität - es ist ein halb autobiografischer Roman, der zutiefst erschüttert.

 

Aber ist er deswegen auch gute Literatur?

 

„Shuggie Bain“ wurde überall gefeiert und erhielt 2020 den Booker Prize. Mir drängt sich aber der Verdacht auf, dass sich hier jemand seine Geschichte von der Seele schreiben wollte, seinen Schmerz und seine Erfahrungen. So zieht sich der Roman sehr lange hin, obwohl man bereits zu Beginn versteht, dass die Mutter Alkoholikerin ist und ihre Kinder vernachlässigt. Passend zur Tragödienkonzeption wird eine Episode eingesponnen, in der alles auf ein gutes Ende zusteuert, nur um dann desto radikaler das Happy End zu zerschlagen. Das ist zu durchschaubar.

 

Mich hat der Roman deswegen nicht so begeistern können, zu eng ist er an der eigenen Geschichte gestrickt, zu ergriffen ist der Autor selbst vom Stoff. Hinzu kommt eine zu polare Charakterzeichnung, denn beinahe alle Figuren sind moralisch schlecht, plump oder egoistisch. Selbst der Taxifahrer ist noch pädophil und misshandelt den kleinen Shuggie, der durch seine Einfühlsamkeit und Sensibilität als Antipode hervorsprießt. Er ist der einzige, der liebevoll und zart ist.

 

Der Roman gibt einen Einblick in die Umwälzungen des Neoliberalismus zur Zeit Margret Thatchers. Und ja – er ist drastisch in seinen Schilderungen. Aber literarisch konnte er mich nicht wirklich überzeugen.

 

Douglas Stuart: Shuggie Bain

Roman, aus dem Englischen von Sophie Seitz

Hardcover, 496 Seiten

Carl Hanser Verlag, München 2021

 

...liest gerade „Bericht zur Lage des Glücks“ von Bodo Kirchhoff

Es ist dieselbe Reise wie vor 15 Jahren.

Doch an seiner Seite ist nicht mehr die Frau, die er einst liebte.

An seiner Seite ist eine junge Unbekannte aus Afrika - eine Geflüchtete.

 

Sie wird gesucht. Ganz Italien sucht nach ihr, auch wenn niemand weiß, wie sie aussieht, allein: sie soll betörend schön sein. Seitdem ein Foto von ihr gemacht wurde, das nach der Entwicklung nur afrikanisches Land zeigte, ist sie die mysteriöse Frau, die jeder sehen will, die jeder finden will. Eine Attraktion, nach der in Presse und Fernsehen gefahndet wird.

 

Er findet sie schließlich, einsam und verlassen auf einem Parkplatz, und nimmt sie mit auf seine Tour. Zusammen fahren sie durch Italien, halten sich stets im Verborgenen. Während sie aber nur zu ihrem Cousin nach Rom möchte, um endlich in Europa anzukommen, möchte er seine alte Liebe vergessen – und verliebt sich erneut. Doch wer ist diese Schönheit wirklich? Was verbirgt sie? Und was will er von dieser jungen Frau?

 

Glück – Liebe – Heimat – wo sind sie zu finden? Kann man sie überhaupt finden?

Schwere Themen, die der Roman verhandelt…und dabei krachend scheitert.

 

Ich hasse den Begriff des alten weißen Mannes, setzt er der möglichst genauen Ausdifferenzierung unserer Zeit doch eine plumpe Pauschalisierung entgegen. Aber ich muss gestehen: Dies ist der Roman eines alten weißen Mannes.

 

Zunächst wirkte er wahrlich erfrischend auf mich, schwimmt er doch mit seiner altbackenen Erzählweise gegen den Strom der Zeit. Doch je weiter ich las, desto eintöniger wurde die Erzählung rund um verflossene Lieben und neu erwecktes Begehren.

 

Gleich drei Liebschaften werden auf altbekannte Weise verhandelt, die selbst mich - immerhin mittelalter weißer Mann - anödet. Hier strahlt der alte weiße Mann nochmal in seiner ganzen Pracht, wenn er sein Leben retrospektiv betrachtet und sich auf seine alten Tage in eine junge Frau verliebt.

 

Mit einer diffusen Erwartung las ich immer weiter, erhoffte noch irgendeinen Wendepunkt, irgendetwas Unerwartetes, aber ich wurde hoffnungslos enttäuscht.

So bleibt nur ein Roman, der altbekannte männliche Traditionen wieder aufwärmt.

Bodo Kirchhoff: Bericht zur Lage des Glücks

Roman

Hardcover, 680 Seiten

Frankfurter Verlagsgesellschaft, Frankfurt 2021

 

...liest gerade "Ritchie Girl" von Andreas Pflüger

Vor Jahren musste sie ihre Heimat verlassen.

Nun kommt sie wieder und sucht nach dem, den sie liebte.

Und nach denen, die bereuen.

Doch alles, was sie findet, ist Übermut und Überlebenskampf.

 

Zum Ende des 2. Weltkriegs landet Paula Bloom in Europa. Sie wird als Dolmetscherin für eine sich verschanzende SD-Einheit in Italien benötigt. Nach dem Krieg hört sie Gespräche von SS-Gefangenen ab und sucht nach Menschen, die bereuen, doch sie findet nur falschen Stolz und Elend.

 

Dann erhält sie einen Auftrag. Agent Sieben, der die Deutschen mit wichtigen Informationen zur UdSSR versorgt hatte, scheint gefangen worden zu sein. Sie soll herausfinden, ob dieser Mann tatsächlich der berühmte Spion ist und trifft ihn zu Gesprächen. Sie erfährt vieles über Deutschland, über die Vergangenheit, über die USA und ihre Verwicklungen mit dem Dritten Reich. Schließlich erfährt sie auch vieles über den neuen Kampf gegen den Kommunismus. Doch erfährt sie auch mehr über den Mann, den sie liebte?

 

„Ritchie Girl“ ist ein Thriller, dem man die gedankliche Verfilmung anmerkt, teilen viele Schnitte und Dialoge ihn doch wie einen Film und tragen die Handlung voran.

 

Der Roman kreist um die Frage, inwieweit Schuld und Scham kollektiv oder singulär zu betrachten sind. Er bietet gute Unterhaltung, die durchaus etwas Spannung verspricht, meines Erachtens aber nicht ganz eingehalten wird. Beinahe alle Größen der 30er und 40er geben sich hier die Klinke in die Hand. Dialoge sind oft gestellt und dienen nur dazu, neue Personen anhand eines Steckbriefs einzuführen. Hinzu kommen manche in den Kitsch abrutschende Formulierungen, z.B. wenn die Sonne mit dem Wind schmuste.

 

Wie die Amerikaner mit Nazis paktierten, wie ehemalige SS-Offiziere rekrutiert und für den Geheimdienst im Kampf gegen den Kommunismus angeworben wurden, wie das Gehlen Projekt aufgebaut wurde, dem später der BND entstammte, war nichts Neues für mich. „Das kalte Blut“ von Chris Kraus erzählt dieses Kapitel der deutschen Vergangenheit viel plastischer und spannender.

 

Wer sich mit der Materie nicht auskennt, dem wird allerdings flotte Unterhaltung geboten.

 

 

 

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Roman

Hardcover, 464 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

 

...liest gerade "Das achte Leben (für Brilka)“ von Nino Haratischwili

Diese Geschichte ist für ihre Nichte.

Sie ist für ihre ganze Familie.

Für die Toten und Lebenden.

Für dich und mich – diese Geschichte ist für sie selbst.

 

Niza stammt aus Georgien. Sie führt ein ruheloses und sprunghaftes Leben in Berlin, in dem alles gleichgültig und sinnlos erscheint. Selbst ihre Ehe ist nur ein Schein, heiratete sie doch nur, um der Enge der Heimat zu entfliehen. Ihr einziger Wunsch war es, ihre Familie zu verlassen und ihrer Heimat endgültig den Rücken zu kehren.

 

Dann erhält sie plötzlich einen Anruf. Ihre Nichte ist aus einem Sommercamp ausgebüchst und Nizas Mutter bittet sie darum, das Mädchen zurück nach Hause zu bringen. Widerwillig beugt sich Niza und macht sich auf den Weg, ihre Nicht zu finden. Als sie losfährt, weiß sie noch nicht, dass sie sich auf eine Reise begibt, die ihr Leben vollkommen verändern wird, eine Reise durch die Geschichte ihrer Familie, durch die Geschichte Georgiens und Russlands. Eine Reise durch die Geschichte des ganzen letzten Jahrhunderts – eine Reise zu sich selbst.

 

Was für ein intensiver und emotionaler Roman!

 

Mit ungeheurer Fabulierlust erzählt Haratischwili die Geschichte einer Familie über fünf Generationen und spiegelt darin die wechselvolle Geschichte Georgiens, aber auch die Geschichte der UdSSR und Europas wider. Es sind die unfassbaren Tragödien dieses Jahrhunderts, die sich tief in die Menschen einzeichneten und ihr Leben bestimmten, sodass man manches Mal lachen und noch öfter weinen möchte.

 

Nur selten habe ich so mitgefiebert, habe so mitgelitten wie mit diesen Charakteren, die so plastisch, lebensnah und tief gezeichnet sind, dass sie wie Menschen aus Haut und Haar wirken. Man verliert sich in den bewegenden und mitreißenden Geschichten und verfolgt gebannt ihre tragischen Schicksale. Meisterhaft verwebt Haratischwili die einzelnen Fäden ihrer Figuren miteinander, bis am Ende ein Teppich zu bestaunen ist, der die menschlichen Dramen des letzten Jahrhunderts porträtiert.

 

Dieser Roman ist unglaublich und wirklich allen empfohlen, die in einer Geschichte versinken möchten. Dieser Roman ist ausschweifend, genial und einmalig.

 

Was für ein Erzähltalent!

 

 

 

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)

Roman

Hardcover, 1280 Seiten

Frankfurter Verlagsgesellschaft, Frankfurt 2014

 

...hört gerade Gabrielle Zevin zu

"Morgen, morgen und wieder morgen" - der Roman, bei dem sich Amazon, TIME MAGAZINE und Indie-Buchhandlungen in den USA einmal einig waren und es zum Buch des Jahres 2022 erklärten. Der Roman, der derzeit auch in Deutschland auf allen Kanälen besprochen und gehypt wird. Der Roman Amerikas - the Great American (Gamers) Novel.

 

Gestern sprach die Autorin Gabrielle Zevin in Freiburg über ihr Werk und gab tiefe Einblicke. Die Geschichte umfasst die letzten 30 Jahre technologischer Evolution, in der sich Video- und Computerspiele von einfachen Pixeln zu real anmutenden Filmen entwickelt haben, 30 Jahre, in denen die Technologie den Menschen und sein Verhalten stark veränderte.

 

Und dennoch hebt Zevin hervor, dass Spiele nicht simple Unterhaltung seien, die zur allgemeinen Verdummung beitrügen, sondern kreative Geschichten erzählten, deren Schöpfer wahre Künstler seien. So betrachtet sie auch ihren Roman als Künstlerroman, in dem die Erzählweise auf jene von Spielen referiere. Zwei beeinträchtigte Personen kreieren darin die perfekte Welt, die man immer wieder neu starten kann, und schlagen dem Leben damit ein Schnippchen.

 

Hervorzuheben ist zudem die selbstverständliche Diversity in ihrem Roman, die nicht besonders hervorgehoben wird, aber Anlass für zahlreiche Anfeindungen gibt. Der Anschuldigung der Wokeness entgegnet die Autorin mit ihrem Erfahrungshorizont, der qua Geburt - koreanische Mutter, jüdischer Vater - nun einmal schon divers geprägt sei und sich in ihrem Leben fortsetze.

 

Ich habe den Roman noch nicht gelesen, aber als Kind der 80er und 90er mit endlosen Spieleabenden und -nächten bin ich schon sehr gespannt darauf.

 

Vielen Dank an die Buchhandlung Rombach und das Carl Schurz Haus für diese schöne Veranstaltung.

 

 

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Jahresrückblick 2022

Ein bisschen spät, aber zum Glück haben Bücher ja kein Verfallsdatum.

Hier also noch meine Lesehighlights aus dem letzten Jahr. Interessanterweise sind es dieses Mal nur Frauen, die mich begeistern konnten.

 

 

 

"DUNKELBLUM"

von Eva Menasse

 

Es ist ein kleiner Ort, dieses Dunkelblum, idyllisch gelegen im österreichischen Burgenland. Seit Generationen bewohnen alteingesessene Familien den Ort und so bleibt man auch gerne unter sich. Argwöhnisch wird deshalb der fremde, alte Mann begutachtet, der in das Dorf kommt und Fragen nach Gräbern stellt, Fragen auch nach dem schallenden Fest am Ende des 2. Weltkriegs, nach Einwohnern, die seitdem als verschollen gelten. Plötzlich stehen die Geister der Vergangenheit wieder vor der Tür, denn über dem Ort liegt ein dunkles Geheimnis, ein Ungeheuer, das seit Jahrzehnten schläft und niemals geweckt werden sollte.

Ein wirklich intensiver, atmosphärischer und stilistisch brillanter Roman!

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"NACHTS IST ES LEISE IN TEHERAN"

von Shida Bazyar

 

Dies ist die bewegende Geschichte einer iranischen Familie und ihrem Streben nach Freiheit. In bedeutenden Zehn-Jahres-Schritten wird ihre Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Dadurch malt der Roman nicht nur ein Bild von Hoffnungen und Enttäuschungen der Familie, sondern porträtiert zugleich das Gefühlsleben eines ganzen Volkes. Denn in wichtigen Etappen wird die Geschichte des Irans seit der islamischen Revolution von 1979 bis heute erzählt, eines Staates, in dem Inhaftierung, Folter und Hinrichtungen Andersdenkender bis heute andauern, eines Staates, in dem das Volk immer wieder versucht, sich zu erheben und blutig niedergeschlagen wird.

Der Roman ist mitreißend und gerade jetzt hochaktuell:

ژن، ژیان، ئازادی - Jin, Jiyan, Azadî

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"GESAMMELTE WERKE"

von Lydia Sandgren

 

Im Mittelpunkt dieses großartigen Debüts stehen die unergründlichen Wege des Lebens, die oft erst rückblickend verstanden werden können. Daneben wird in leisen Zwischentönen nicht nur der Kampf zwischen Individualität und Gesellschaft skizziert, sondern auch das Ringen mit der ewigen inneren Leere. Nicht zuletzt geht es aber auch um weibliches Aufbegehren in einer männerdominierten Welt, in der es immer noch normal erscheint, wenn ein Vater die Familie verlässt, jedoch skandalös, wenn diesen Schritt eine Mutter wagt.

Gesammelte Werke ist eine Hommage an die Literatur und die Kunst, ein wahrlicher Schmöker, aus dem man nicht mehr auftauchen möchte.

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"DSCHINNS"

von Fatma Aydemir

 

Der Roman wirft die Frage nach Familie und Identität neu auf, denn was hält diese Menschen, die miteinander verwandt sind, eigentlich zusammen? Sind es die Geschichten, die man einander erzählt, wieder und wieder, meist auf Familienfesten? Oder sind es die Bruch- und Leerstellen, die sich wie Gräben durch Familien ziehen, die Geheimnisse, die man voreinander hat, die Wunden, die man sich schlägt?

Es ist ein Familien- und Generationen-, Migranten-, Arbeiter- und Zeitroman und handelt besonders von dem Drang nach Unabhängigkeit, Emanzipation, Selbstfindung und -behauptung.

Dschinns ist eine Wucht und ein zutiefst bewegender Roman!

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"AUFBRECHEN"

von Tsitsi Dangarembga

 

Diese Coming-of-Age Geschichte spiegelt eindrücklich die Erfahrungen eines Mädchens in einer patriarchalischen Welt wider. Rassismus, Apartheid und Armut bestimmen ihr Leben genauso wie alte Familienstrukturen und Stammesdenken. Doch durch den unbändigen Drang nach Bildung öffnet sich ihr eine ganz andere Welt. Immer mehr begreift sie, wie es um die Rolle der Frau bestellt ist in einem System, das Frauen knechtet und herabwürdigt.

Die fremde Welt in Afrika wird aus den Augen eines Kindes erzählt. Auf diese Weise machen die Beschreibungen der Kultur, der Menschen, ihrer Schicksale und Beweggründe, ihrer Probleme und Mentalitäten an diesem fernen Ort diesen Roman zu einem ganz besonderen.

 

 

 

EINE ENTGEGNUNG

Ist der Boykottaufruf der WM in Qatar nur wieder ein weiterer Beweis für die rassistische Weltsicht des „Westens“?

 

Gönnt man der arabischen Welt jetzt noch nicht einmal die erste WM in der Region?

 

Warum ist man nicht gegen das ebenso homophobe Russland 2018 aufgestanden?

 

Warum boykottiert man jetzt Qatar, warum hat man nicht auch Russland boykottiert?

 

Das ist doch vollkommen scheinheilig!

 

 

 

Wenn man kritisiert, muss man auch Kritik einstecken. Hier ist meine Gegenkritik, eine Entgegnung an alle Qatarverteidiger:

 

Vorab einmal, ich kritisiere Qatar nicht dafür, dass sie die WM gekauft haben. Sie haben nur nach den Regeln der FIFA-Mafia gespielt und das meiste Geld geboten. Andere Weltmeisterschaften vorher scheinen ebenso gekauft worden zu sein [1], sogar bei unserem Sommermärchen 2006 gab es dubiose Zahlungen.[2]

 

Die FIFA ist das große Probleme, diese Mafia, die eigentlich ein gemeinnütziger Verein ist und deshalb kaum Steuern zahlen muss. Es sind die korrupten Funktionäre, die sich Millionen in die eigene Tasche stecken und damit den Fußball an den Meistbietenden verschachern, angefangen bei dem Verbrecher Gianni Infantino. Bei den Entscheidungen spielen weder der Fußball noch die Bedingungen vor Ort eine Rolle, sondern nur das Geld, das sie einheimsen können.

 

In dieser Hinsicht werfe ich Qatar also gar nichts vor.

 

*

 

Aus rein sportlicher Sicht gibt es allerdings keinen einzigen guten Grund, eine WM in Qatar abzuhalten – und weil der Vergleich immer wieder kommt, in Russland leider schon.

 

Russland ist ein Land mit über 140 Millionen Einwohnern. Es gibt ein Ligasystem mit vielen Fußballvereinen. Die Sowjetunion gewann sogar einmal die EM 1960. Die Frauennationalmannschaft, deren Existenz laut FIFA eine Bedingung für den Erhalt einer WM darstellt, spielt regelmäßig und belegt momentan Platz 26 der FIFA-Rangliste.

 

Eine Vergabe nach Russland macht aus rein sportlicher Betrachtung Sinn. Es gibt genug Menschen, die sich für Fußball interessieren. Die Stadien, die für Milliarden gebaut oder modernisiert wurden, sind nicht völlig nutzlos, auch wenn sie sich wahrscheinlich nicht selbst tragen können.[3]

 

 *

 

In Qatar gibt es das alles nicht. Qatar ist ein Land mit ungefähr 270.00 Einwohnern, dazu kommen nochmal circa 2,5 Millionen Arbeitsmigranten. Wie viele Menschen interessieren sich dort wirklich für Fußball? Wie viele der Einheimischen spielen oder gucken Fußball? Wie sinnvoll ist es, in ein Land, das ungefähr so viele Einwohner wie Wiesbaden hat (und wenn man noch all die Migranten dazu zählt, immer noch kleiner als Berlin ist), eine WM zu vergeben und für Abermilliarden acht Fußballstadien und die dazugehörige Infrastruktur zu bauen? Wie nachhaltig ist das? Was passiert mit all den Stadien nach den 4 Wochen Fußball? Werden Sie für weitere Milliarden wieder abgebaut? Verwaisen sie? Umbauten sind geplant, Malls, Fitnessstudios, Hotels, also weitere Milliarden, die ausgegeben werden, damit man 4 Wochen Fußball spielen konnte.[4]

 

Die bislang teuerste WM fand 2014 in Brasilien statt und kostete satte 15 Milliarden US $. Diese WM hat unglaubliche 220 Milliarden US $ verschlungen und es kommen wohl noch mehr hinzu. Das ist eine Steigerung von unfassbaren 1.466 %. Was für ein Wahnsinn! [5]

 

Hinzu kommt, dass es keine Frauennationalmannschaft in Qatar gibt. Sie wurde Ende 2010 eilig zusammengestellt, hat ein paar Spiele bestritten, um den Schein von einer gleichberechtigten Frauenwelt zu wahren, und existiert seit 2014 nicht mehr, wird auch nicht mehr bei der FIFA geführt. Sie ist verschwunden, obwohl sie eine Voraussetzung darstellt, um eine WM ausrichten zu dürfen.[6]

 

 *

 

Bei den ganzen Vergleichen mit Russland scheinen heute viele vergessen zu haben, dass auch die WM in Russland sehr umstritten war. England überlegte sogar, die WM ganz zu boykottieren - wohl eher wegen des Mordes an dem Agenten Skripal, doch zeigte schon allein die Drohung, dass auch diese WM eine andere war. Auch damals hagelte viel Kritik von allen Seiten auf den WM Gastgeber ein.[7]

 

Denn auch damals war bereits von Ausbeutung die Rede, besonders von Nordkoreanern. Auch damals starben anscheinend Menschen beim Bau von Stadien und Infrastruktur.[8] Allerdings ist die Größenordnung doch eine völlig andere. Internationale Schätzungen gehen von 15 - 21 Toten aus, bei Qatar liegen sie zwischen 6.500 und 15.000.

 

 *

 

Hätte man die WM 2018 also boykottieren sollen?

 

Auf jeden Fall! Denn jedes Menschenleben zählt! Egal, ob für eine WM 20 oder 15.000 Menschen sterben, es ist eine Schande!

 

Aus heutiger Sicht stimme ich vollkommen zu, dass man auch Russland hätte boykottieren sollen, allein wegen des brutalen Vorgehens in Syrien, in dem Russland ganze Städte in Schutt und Asche gelegt hat, ähnlich wie jetzt in der Ukraine. Auch natürlich wegen der Menschrechtslage vor Ort, besonders wegen der Repressalien gegen die LGBTQIA+ Community, oder aber wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. All das waren gute Gründe, auch diese WM zu boykottieren.

 

Aus heutiger Sicht würde ich ebenso zum Boykott aufrufen. Aus heutiger Sicht würde ich diese Spiele ebenfalls nicht schauen. Aber heute bin ich auch ein anderer als vor 4-5 Jahren, heute ist diese Welt eine völlig andere, denn sie hat sich in den letzten Jahren nochmal mit einem Tempo weitergedreht, dass man oft nicht mehr hinterherkommt. Durch all die Krisen, Kriege, Affären und Skandale in den letzten Jahren hat sich diese Welt stark gewandelt. Die Menschen haben sich ungemein politisiert und viele sind sensibler geworden für Themen wie Menschenrechte, Umwelt- und Minderheitenschutz.

 

 *

 

Wer wusste schon vor 4-5 Jahren, was LGBTQIA+ bedeutet? Wer hat sich vor wenigen Jahren für queere Menschen interessiert? Wer wusste überhaupt, was transgender und intersexuell heißt?

 

Wer hat damals schon gegendert? Wer wusste überhaupt, was gendern bedeutet? Heute gendern sogar Moderator*innen der rechtlich-öffentlichen Anstalten und egal, wie man zum Gendern steht, dadurch wurde eine enorme Sensibilisierung für das Thema geschaffen und die Lage der LGBTQIA+ Community rückte in den Fokus.

 

Genauso könnte man fragen: Wer hat sich vor 4-5 Jahren schon wirklich fürs Klima interessiert? Erst Fridays for Future hat das Thema in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt. Heute achten immer mehr Menschen auf die Umwelt, die Grünen sind so stark wie nie zuvor, Firmen werben mit ihren nachhaltigen Produkten und veganes Essen aus biologischem Anbau bekommt man auf einmal an jeder Straßenecke.

 

Was will ich damit sagen?

 

Diese Welt hat sich in den letzten Jahren enorm verändert, die Menschen haben sich verändert, die Gesellschaft ist so sensibilisiert und politisiert wie lange nicht.

 

 *

 

Ist es jetzt also rassistisch, die WM in Qatar zu boykottieren?

Gönne ich es der arabischen Welt nicht?

Messe ich mit verschiedenen Standards?

 

Mitnichten!

 

Ich boykottiere diese WM nicht, weil sie in einem arabischen Land stattfindet, geschweige denn weil wir sie im Winter sehen müssen. Ich finde es sogar sehr gut, dass die arabische Welt die WM ausrichten darf. Ich boykottiere sie wegen der Bedingungen vor Ort. Hätte es all die tausenden Toten nicht gegeben, all die Leibeigenen, die unter unmenschlichen Bedingungen diese WM erst ermöglicht haben, und würden Menschenrechte ausnahmslos für alle gelten, hätte ich sie wohl auch geschaut, auch wenn ich sie aus rein sportlicher Sicht immer noch total schwachsinnig gefunden und die FIFA weiter kritisiert hätte.

 

Allerdings bin ich auch fest davon überzeugt, dass in Zukunft jede weitere WM in einem autokratischen, diktatorischen, Menschenrechte verachtenden oder kriegerischen Land ebenso stark von Boykottaufrufen begleitet wird wie diese WM.

 

 *

 

Wenn Menschen dafür sterben müssen, dass ich Fußball schauen kann, nur damit sich ein Land in kurzer Aufmerksamkeit sonnen darf, werde ich das nicht mehr unterstützen, egal ob die nächste WM in Afrika, Amerika, Asien, Europa oder auf dem Mond stattfinden wird.

 

Und das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit Menschlichkeit.

 

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 


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#BuchStattBlut - meine Top 8

 

Da sind sie – die besten Romane der letzten Jahre.

 

In meiner Ein-Mann-Redaktion haben wir lange gestritten und diskutiert, haben uns bei Kaffee mit Schuss die Nächte um die Ohren geschlagen, haben uns über den Sinn von Quoten bei Lieblingsbüchern gefetzt, derweil wir unaufhörlich Vorschläge gemacht haben, von denen wir viele wieder in handfesten Auseinandersetzungen verwerfen mussten.

Was sind die besten Romane der letzten Jahre?

 

Es ist doch viel schwieriger als gedacht, solch eine Liste zusammenzustellen. So viele haben uns begeistert, so viele unterschiedliche Facetten fanden wir spannend, so viel Subjektivität steckt bei allen objektiven Kriterien hinter den Entscheidungen – dem einen gefällt dieses Thema mehr, der anderen eher jenes, dem einen liegen poetisch verschlungene Sätze, der anderen sachlich kurze, der eine mag es stringent, die andere verworren. Viele Romane hätten es verdient gehabt, hier genannt zu werden und es tut uns leid um all jene, die nun nicht aufgeführt werden können.

 

Nach zähem Ringen und einigen Handgreiflichkeiten konnte ich mich aber mit meinen zahlreichen anderen Persönlichkeiten schließlich auf diese acht einigen. Ab morgen stelle ich sie euch zu jedem Spieltag vor, bis ich euch zum Finale das Opus Magnum präsentiere, dem einzigen Roman, bei dem wir uns schnell einig waren, dass diesem der Ehrenplatz gebührt.

Was sind eure Lieblingsbücher?

 

Postet sie unter #BuchStattBlut! Ich bin gespannt und dankbar für all eure Inspirationen!

 

Und hier sind sie, meine Top 8:

 

#1 "DIE WOHLGESINNTEN" von Jonathan Littell

 

 #2 "EINE KURZE GESCHICHTE VON SIEBEN MORDEN" von Marlon James

 

#3    "S. - DAS SCHIFF DES THESEUS" von Doug Dorst und J. J. Abrams

 

#4    "DAS KALTE BLUT" von Chris Kraus

 

#5    "DUNKELBLUM" von Eva Menasse

 

#6    "ALLE AUẞER MIR" von Francesca Melandri

 

#7    "DER LÄRM DER ZEIT" von Julian Barnes

 

#8    "APEIROGON" von Colum McCann

 

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

Kapitel 1 - 7

Komm mit mir und lass uns Bücher feiern!

 

Schaut nicht diese WM, sondern kommt mit mir und lasst uns zusammen Bücher feiern!

 

Lasst uns das Lesen feiern, das Versinken in andere Welten und Leben! Lasst uns Kulturen und Sprachen feiern, die Vielfältigkeit der Stimmen und Erfahrungen, die es so nur in Büchern gibt!

 

Denn öffnet nicht jedes Buch das Tor zu einer neuen Welt, in der man neue Sichtweisen und Blickwinkel kennenlernen, neue Lebenswege beschreiten und andere Lebenskonzepte erfahren darf?

 

Nimmt man durchs Lesen nicht an Geschichten teil, die einen bewegen und verändern, die einen prägen und den eigenen engen Horizont erweitern?

 

Durch Bücher lernen wir unterschiedliche Kulturen und Wirklichkeiten kennen, unterschiedliche Geschichten dieses Lebens, um dadurch womöglich die eigene Position in der Welt, die eigene Geschichte besser verstehen zu können.

 

Durchs Lesen tauchen wir in andere Lebenswirklichkeiten ein und schulen damit Verständnis und Empathie – und ist es nicht genau das, was diese Welt so dringend bräuchte?

 

Zu jedem der acht Spieltage präsentiere ich euch deswegen eines der herausragendsten Bücher der letzten Jahre, Bücher, die mich bis heute nicht losgelassen, die mein Leben, meine Sicht verändert haben, die immer noch nachklingen, deren Melodie immer noch in mir weiter wabert und mich durchfährt, bis ich euch zum Finale das Meisterwerk dieses noch jungen Jahrtausends präsentiere.

 

Macht mit und postet eure Lieblingsbücher zu den Spieltagen ebenfalls unter dem Hashtag, der selbst die BILD-Redaktion vor Populismusneid erblassen lässt, egal ob als Beitrag oder als Story. Wählt eure liebsten Bücher aus und lasst uns unter #BuchStattBlut an ihnen teilhaben.

 

PS: Jeder, der mitmacht, landet automatisch im Lostopf für das Gewinnspiel am Ende des Turniers.

 

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

Mein Gegenangebot

Noch eine Woche, dann beginnt die WM der Schande.

 

Ich boykottiere diese blutigen Spiele und widme mich lieber der Literatur.

Auf meinem Blog wird es deswegen keinen Fußball geben, sondern eine andere Art der Unterhaltung, bei der ihr alle herzlich eingeladen seid mitzumachen.

 

(1) Zu jedem Spieltag werde ich euch einen der besten Titel der vergangen Jahre vorstellen, unvergleichliche Romane, die mich begeisterten, die mich inspirierten, die immer noch nachhallen und mich bewegen, bis ich euch zum großen Finale am 18.12. das beste Buch dieses Jahrhunderts präsentiere, das Opus magnum dieses Jahrtausends, ein wahrliches Meisterwerk.

 

Macht mit und postet an jedem Spieltag eines eurer Lieblingsbücher unter dem  Hashtag, der selbst für die BILD zu niveaulos wäre, für diese WM aber mehr als angebracht ist: #BuchStattBlut!

 

(2) Daneben wird es zu den deutschen Spielen eine digitale Leserunde geben. Dass man für Ausbeutung nicht in ferne Länder schauen muss, zeigt Benedikt Feitens Roman "Leiden Centraal", der dieses Jahr im Verlag Volland und Quist erschienen ist.

 

Besorgt euch diesen Roman und lest mit!

 

(3) Zuletzt wird es ein Gewinnspiel von "Bis zum letzten Mann "geben.

 

Macht mit und spendet gleichzeitig für einen guten Zweck!

 

In den nächsten Tagen folgen alle weiteren Infos.

 

 

„Als Menschen appellieren wir an alle Menschen: Erinnert Euch an Eure Humanität, und vergesst den Rest!“

(Bertrand Russell)

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

...liest gerade „Chamissimo“ von Sebastian Guhr

Er ist Franzose und dient im preußischen Regiment.

Er ist ein Taugenichts und schreibt einen Bestseller.

Er erlangt Berühmtheit – und ist heute so gut wie vergessen.

Dies ist das wundersame Leben des Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt.

 

Adelbert von Chamisso, wie er sich später nennt, ist ein Kind, als sein wohlbehütetes Leben in der Champagne endet. Als Spross einer Aristokratenfamilie muss er vor der französischen Revolution fliehen. Es beginnt ein ruheloses Leben, das ihn immer weitertreibt. Er reist nach Deutschland, kommt am Hofe der preußischen Königin unter, dient in der preußischen Armee, lernt in Salons berühmte Persönlichkeiten kennen, zieht als Franzose in den Krieg gegen Napoleon, hat eine Affäre mit Madame de Stäel, schreibt den Bestseller „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ und geht schließlich auf eine Expeditionsreise, die ihn nach Brasilien, Chile, Russland und Hawaii bringt.

 

Nachdem sich Sebastian Guhr in seinem letzten Roman Lincoln und Thoreau gewidmet hat, leuchtet er nun das außerordentliche Leben von Chamisso aus. Dieses bietet eine Unmenge an Stoff, die Guhr geschickt in eine Erzählung verpackt, die selbst an eine romantische Erzählung des frühen 19. Jahrhunderts erinnert. Gekonnt verwischt er die Grenzen von Realität und Phantasie, kehrt die Nachtseiten des Lebens hervor, wenn der schaurige Graue in Adelberts Leben einfällt, ihn verfolgt und ihn seines Schattens berauben möchte - Peter Schlemihls Geschichte greift auf Adelbert selbst über.

 

Es wird aber nicht nur das Leben Chamissos nachgezeichnet, sondern auch die bewegte Zeit rund ums Jahr 1800. Zudem treten allerhand Berühmtheiten auf und werden teilweise karikiert, so zB der gemachte Mann Tieck, der Selbstmörder Kleist, der überhebliche Jean Paul oder der in seiner eigenen Phantasie gefangene Fouqué.

 

„Chamissimo“ ist eine freie Nacherzählung des wunderlichen Lebens Chamissos in sanften Tönen der Romantik, eine kleine, aber feine Erzählung, die das Leben dieser außergewöhnlichen Erscheinung auf sehr unterhaltsame Weise porträtiert und zum Staunen einlädt.

 

 

 

Sebastian Guhr: Chamissimo

Roman

Hardcover, 208 Seiten

S. Marix Verlag, Wiesbaden 2022

 

Nicht mit mir!

 

Diese WM ist eine Schande!

Die FIFA ist eine Schande. Katar ist eine Schande – und leider auch der Fußball.

Als Fan, der ich einmal war, muss ich sagen:

Ich kann dieses Turnier nicht gucken.

Ich will es nicht gucken!

 

Es ist nicht nur wegen der korrupten FIFA, einer Organisation mit mafiösen Netzwerken, zwielichtigen Gestalten und gesetzeswidrigen Machenschaften. Ein Verein, der sich eigentlich der Gemeinnützigkeit verschrieben hat und trotzdem Milliarden scheffelt.

 

Es ist nicht nur wegen der ausufernden Vermarktung, die im Fußballzirkus astronomische Gehälter und Ablösesummen nach sich zieht, sodass der Sport in den Hintergrund gerät und sich immer weiter von seinen Fans wegbewegt.

Nein!

 

Es ist besonders wegen der Menschrechtsverletzungen in einem Land, das Extremismus und Ausbeutung fördert.

 

Auch wenn der „Kaiser“ keine Sklaven gesehen haben will, sind in den letzten zehn Jahren nach offiziellen Schätzungen 6.500 bis 15.000 Arbeiter vor Ort gestorben. Menschen aus Asien und Afrika, die unter unmenschlichen Bedingungen hausen mussten, denen Pässe abgenommen und die im Kafala-System in Leibeigenschaft gehalten wurden.

 

Diese Menschen haben unter Einsatz ihres Lebens u.a. die Infrastruktur und jene Spielstätten gebaut, in denen nun der Rest der Welt feiern soll.

 

Bei mindestens 6.500 Toten und 64 Spielen heißt das, dass für jede einzelne Spielminute dieses Turniers mindestens ein Mensch sein Leben lassen musste, vielleicht aber auch zwei oder drei.

 

Dieses Sportereignis findet auf einem Massengrab statt.

Es sind blutige, menschenverachtende Spiele, die jeder durchs Schauen unterstützt und mitfinanziert.

 

Ich boykottiere diese WM, wohl wissend, dass ich nichts mit dieser Entscheidung ausrichten kann.

Ich kann diese Schande aber nicht unterstützen, ich kann nicht mitfiebern und jubeln, im Wissen darüber, dass für meine Emotionen bei einem rollenden Ball tausende Menschen ihr Leben lassen mussten.

 

Diese WM wird sicherlich ein Fest, das steht fest. Nur wird nicht der Sport gefeiert, nicht das schöne Spiel, auch nicht das bunte Miteinander, für das die Fußballgemeinschaft regelmäßig wirbt.

 

Es wird ein Fest, bei dem moderne Ausbeutung bejubelt wird, ein Fest, bei dem Gier, Menschenverachtung und Mord gefeiert und zur Normalität erhoben werden.

 

Ich kann da einfach nicht mitfeiern.

Ich kann diese unfassbare Schande nicht anschauen.

Ich kann es nicht. Ich will es nicht.

 

Kannst du das?

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

...liest gerade „Um jeden Preis“ von Christoph Biermann

Am Totensonntag beginnt die WM in Qatar.

 

Damit erreicht der moderne Fußball seinen Höhepunkt und bestätigt, dass er sich nur noch einer einzigen Sache verschrieben hat: Profit um jeden Preis!

 

Oligarchen, Scheichs und Hedgefonds kaufen und besitzen Vereine, als wären sie Spielzeuge.

Spielergehälter und Ablösesummen explodieren ins Unermessliche, wodurch sich der Sport immer weiter von den Fans wegbewegt.

Die immerselben Vereine gewinnen die nationalen Meisterschaften und die Champions League, so dass die Wettbewerbe mehr und mehr an kompetitivem Reiz verlieren.

 

Und in 3 Wochen beginnt die WM in einem Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt, ein Land, in dem Frauen unterdrückt werden, Homosexuellen die Todesstrafe droht und Arbeitsmigranten aufs brutalste ausgebeutet werden, so dass Tausende ihr Leben lassen mussten, um Stadien und Infrastruktur für dieses Turnier zu bauen.

 

Was läuft alles schief in diesem Sport, der einst als schönste Nebensache der Welt galt? Seit wann gibt es diese Entwicklung? Womit begann der Untergang des alten und der Aufstieg des modernen Fußballs?

 

Christoph Biermann zeichnet in seinem Buch anschaulich die Entwicklung des modernen Fußballs nach, der in den letzten Jahrzehnten durchökonomisiert und zu einer Ware verpackt wurde, einer Ware, der alles untergeordnet wird. Besonders seit der Einführung der Champions League 1992 nahm diese Entwicklung rasant an Fahrt auf, deren vorläufiger Höhepunkt nun mit der WM in Katar erreicht wird, bei der selbst Menschenleben und -rechte weniger zählen als der Profit.

 

"Um jeden Preis" erschien bei Kiepenheuer & Witsch und sollte Pflichtlektüre für jeden Fußballfan werden, der immer noch denkt, dass dieser Sport unschuldig sei.

 

Als Fußballfan, der ich einmal war, gibt es bald mehr von mir zu dieser unbeschreiblichen Schande in Qatar, denn diese WM zeigt nichts weniger als den totalen moralischen Bankrott und Ausverkauf.

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

Christoph Biermann: Um jeden Preis. Die wahre Geschichte des modernen Fußballs. Von 1992 bis heute.

Sachbuch

Paperback, 256 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022

 

...liest gerade „Dschinns“ von Fatma Aydemir

Hüseyin schaut auf die Stadt seiner Träume hinaus.

Er hat es geschafft. 30 Jahre hat er für diese Wohnung in Istanbul geschuftet.

Der Moment überwältigt ihn, nicht wissend, dass es der letzte seines Lebens sein wird.

 

Als die BRD in den 70er Jahren nach Gastarbeitern ruft, folgt Hüseyin der Verlockung und lässt seine Familie in der Türkei zurück. Es vergehen Jahre, in denen er seine Frau und seine Kinder nur in den Ferien sieht, bis er sie endlich nachholen kann – alle, bis auf seine älteste Tochter.

 

In Deutschland ist alles anders, die Menschen, die Städte, das Leben, das Klima. Auch die Eltern verhalten sich merkwürdig, besonders als im ganzen Land plötzlich Häuser brennen. Eine subtile Angst kriecht in die Familie, das Gefühl von ständiger Bedrohung nistet sich ein, während die Deutschen in Partykellern und auf der Loveparade feiern. Die Eltern werden nie richtig heimisch, die Kinder derweil zwischen den Kulturen hin und her gerissen. Und so versucht jeder auf seine Weise, seinen quälenden Geistern zu entkommen, bis die Familie auseinanderbricht und erst in Istanbul wieder zusammenfindet.

 

„Dschinns“ ist eine Wucht und ein zutiefst bewegender Roman, der die Frage nach Familie und Identität neu aufwirft und verhandelt, denn was hält diese Menschen, die miteinander verwandt sind, eigentlich zusammen? Sind es die Geschichten, die man einander erzählt, wieder und wieder, meist auf Familienfesten? Oder sind es die Bruch- und Leerstellen, die sich wie Gräben durch Familien ziehen, die Geheimnisse, die man voreinander hat, die Wunden, die man sich schlägt?

 

Selten habe ich einen poetischeren Beginn gelesen. Der plötzliche Tod des Vaters stellt den Ausgangspunkt zu einer Geschichte dar, die durch Perspektivwechsel und Rückblenden das Panorama einer Migrantenfamilie in den 80er und 90er Jahren der BRD entfaltet. Es ist zugleich aber auch Familien- und Generationen-, Arbeiter- und Zeitroman und handelt besonders von dem Drang nach Unabhängigkeit, Emanzipation, Selbstfindung und -behauptung.

 

Der Roman erschien bei Hanser, stand auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und wäre ein ebenso verdienter Siegertitel gewesen.

 

 

 

 

Fatma Aydemir: Dschinns

Roman

Hardcover, 368 Seiten

Hanser Verlag, München 2022

 

...liest gerade „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck

Zu den Auswirkungen der Great Depression gesellt sich in Oklahoma in den 30er Jahren eine verheerende Dürre. Die Felder verdorren, das Wasser ist knapp, es gibt kein Essen, keine Arbeit. Großgrundbesitzer schmeißen Landarbeiter von den Feldern. Angelockt durch Flugblätter, auf denen Arbeit und Geld versprochen wird, machen sich Tausende Binnenflüchtlinge auf gen Westen. Es wird eine beschwerliche Reise über tausende Kilometer, an dessen Ende sie nur eines erwartet – Elend.

Der Roman ist eine Abrechnung mit unserer liberalen Wirtschaftsordnung und so aktuell, als spiegelte er unser Zeitgeschehen. Im Fokus steht das Leben Geflüchteter, das vor 100 Jahren nicht anders verlief als heute. Die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben befeuert den Entschluss, alles hinter sich zu lassen und zu fliehen. Es folgen die lange, qualvolle Fahrt ins gelobte Land, die Ausbeutung und Anfeindung vor Ort, die überfüllten und verdreckten Camps, die Demütigungen und das Sich-Verdingen für ein wenig Essen. Die einheimische Propaganda schießt derweil gegen die Neuankömmlinge, gegen die Fremden, die Barbaren, die Vergewaltiger und Mörder, sodass es zu Spannungen, Konflikten und Pogromen kommt.

 

Der in einigen US-Staaten lange Zeit verbotene Roman schlägt eine heute immer noch anhaltende Kritik am Kapitalismus an, in dem es für Unternehmen tatsächlich profitabler ist, Lebensmittel zu vernichten, als sie zu spenden. Es ist ein Zeitroman, der zugleich mit so vielen Parallelen zur heutigen Zeit aufwartet, dass es erschreckend ist. Die überfluteten und völlig verdreckten Camps erinnern an Moria und andere Lager an der Peripherie Europas, die Propaganda gegen Flüchtlinge ist weltweit weiterhin dieselbe. Auch die Ausnutzung der Arbeitskräfte kommt bekannt vor, denkt man nur an die bevorstehende WM oder an die Menschen, die in unseren Fleischereien oder auf den Spargelfeldern arbeiten.

 

„Die Früchte des Zorns“ deutet aber auch in die Zukunft hinaus, in der sich zu den Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen auch Klimaflüchtlinge gesellen. Obwohl schon 1939 geschrieben, ist es ein hochaktueller Roman, durch den man die Welt mit anderen Augen sieht.

 

 

 

John Steinbeck: Früchte des Zorns

Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Lambrecht

Taschenbuch, 544 Seiten

dtv Verlag, München 2021 (Erstausgabe Paul Zsolnay Verlag, Zürich 1940)

 

...liest gerade „Internat" von Serhij Zhadan

Das Internat ist nur wenige Kilometer entfernt, und doch scheint es unerreichbar.

Denn zwischen ihm und dem Gebäude tobt der Krieg.

Ein Krieg, den es offiziell nicht gibt.

 

Pascha ist Lehrer im Donbass. Obwohl er im russischsprachigen Teil des Landes Ukrainisch unterrichtet, interessiert er sich nicht sonderlich für Politik. Ebenso wenig für den Krieg, der seit zwei Jahren in der Region wütet und längst zum Alltag geworden ist.

 

Als sich aber der Krieg bis zum Internat seines Neffen frisst, macht sich Pascha auf den Weg in die wenige Kilometer entfernte Stadt, um den Sohn seiner Schwester zu sich zu holen. Er weiß nicht, dass es der beschwerlichste Weg seines Lebens wird, vorbei an Barrikaden, Umleitungen, Checkpoints und Einbahnstraßen, stets auf der Hut vor Separatisten, ukrainischen und russischen Soldaten, mitten durch ein Kriegsgebiet, in dem es schwerfällt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Und so braucht er letztlich mehrere Tage, Tage, die alles verändern werden, woran er jemals glaubte.

 

Der Roman erschien bereits 2017 - also etwa 3 Jahre nach der Krimbesetzung und dem Vorrücken russischer Soldaten in den Donbass - und schildert eindrücklich und bildgewaltig den Kriegsalltag im Osten der Ukraine, einen Krieg, der uns im Rest Europas größtenteils verborgen geblieben ist. Denn der Krieg in der Ukraine begann nicht erst im Februar dieses Jahres, wie es medial oft den Eindruck macht, sondern schon 2014.

 

Mit feinem Blick seziert Zhadan das alltägliche und zur Normalität verkommene Kriegsgrauen. Er beschreibt eine Gegend, deren Städte leergefegt sind, deren Menschen in Kellern hausen und deren Häuser durch Raketenbeschuss dem Erdboden gleichgemacht wurden. Eine Gegend, wo völlig verängstigte Frauen und Kinder sich in Bahnhöfen zusammendrängen, wo achtzehnjährige Jungen mit Kalaschnikows hantieren und schließlich an der Front verheizt werden. Er beschreibt eine Gegend, wo Misstrauen und Angst nicht nur vor Fremden, sondern auch vor Nachbarn herrschen, da immer die Ungewissheit über ihre Überzeugung mitschwingt: Sind sie Freund oder Feind? Und wer ist überhaupt Freund und Feind in jenen Tagen? Wo genau verläuft die Trennlinie? Gibt es überhaupt eine?

 

Durch das politische Desinteresse Paschas, der anfangs allen Seiten die Schuld für den Krieg gibt und sich auf keine Seite schlagen will, wirft der Roman einen ungeschönten Blick auf den Krieg, frei von jeglicher Ideologie oder politischen Beeinflussung, einen Blick, der nur eine Frage aufwirft: Warum?

 

Serhij Zhadan lebt in Charkiw und berichtet seit vielen Jahren über die Gewalt in der Ukraine. Immer noch weigert er sich die Stadt zu verlassen und gilt längst als Chronist dieses imperialistischen Krieges. Im Oktober wird er durch seine unermüdliche Arbeit mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Seine Romane sind der Beweis dafür, dass man alles, was momentan in der Ukraine passiert, schon hätte voraussehen können, hätte man seine Bücher nur als das gelesen, was sie sind: als Warnung an uns Mitmenschen.

 

Seine Entgegnung auf den Offenen Brief deutscher Intellektueller zum Waffenstillstand ist daher auch an Eindringlichkeit nicht zu überbieten, denn angesichts der Brutalität Russlands ist Zhadan sich sicher, „wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende“ ("Wir werden vernichtet", in der ZEIT vom 06.07.2022)

 

„Internat“ erschien 2018 im Suhrkamp Verlag und sollte von allen gelesen werden, die verstehen wollen, wie es zu dem kam, was sich jetzt in der Ukraine zuträgt.

 

 

 

Serhij Zhadan: Internat

Roman, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr

Hardcover, 300 Seiten

Surkamp Verlag, Berlin 2018

 

...liest gerade „Gesammelte Werke" von Lydia Sandgren

Mein Beitrag zu den Sommerbuchtipps der Buchhandlung JosFritz!

Es ist ein Buch, das das Leben der jungen Studentin Rakel in Aufregung versetzt. Je mehr sie in den Roman eintaucht, desto eindeutiger erkennt sie in der Protagonistin Züge ihrer Mutter, die vor Jahren spurlos verschwand.

 

Cecilia war emanzipiert, liebte Sprachen und Literatur und stand vor einer glänzenden Karriere als Wissenschaftlerin. Zusammen mit ihrem Mann Martin, der das eigene Dichten für eine Verlagsgründung aufgab, sowie dem gemeinsamen Freund Gustav, der durch Porträts von Cecilia zu einem berühmten Künstler avancierte, lebte sie in einer intellektuellen und sich gegenseitig inspirierenden Ménage-à-trois.

 

Dann aber verlässt sie plötzlich Mann und Kinder und wird nie mehr gesehen. Angestachelt durch die Lektüre begibt sich Rakel fünfzehn Jahre später auf eine Spurensuche, die sie tief in die Geschichte ihrer Eltern hineinzieht und bis vor eine Tür führt, hinter der all ihre Hoffnungen zu liegen scheinen. Doch was verbirgt sich wirklich dahinter?

 

Lydia Sandgren hat ein großartiges Debüt vorgelegt, in dem sie das Leben in all seinen Facetten porträtiert. Mit außerordentlicher Fabulierlust werden auf über achthundert Seiten so starke Verflechtungen zwischen den Protagonisten geknüpft, dass man nur zu gerne immer weiterläse. Im Mittelpunkt stehen dabei die unergründlichen Wege des Lebens, die oft erst rückblickend verstanden werden können. So werden über Jahrzehnte innige Freundschaften geschlossen, die ineinander wachsen und doch wieder zerfallen, es wird die Liebe des Lebens gefunden und wieder verloren, und es werden Lebensentwürfe gelebt, die retrospektiv als Lügen gestraft werden. Daneben wird in leisen Zwischentönen nicht nur der Kampf zwischen Individualität und Gesellschaft skizziert, sondern auch das Ringen mit der ewigen inneren Leere. Nicht zuletzt geht es aber auch um weibliches Aufbegehren in einer männerdominierten Welt, in der es immer noch normal erscheint, wenn ein Vater die Familie verlässt, jedoch skandalös, wenn diesen Schritt eine Mutter wagt.

 

Gesammelte Werke ist ein Entwicklungs- und Epochenroman, eine Familien- und Emanzipationsgeschichte, eine Hommage an die Literatur und die Kunst und ein Schmöker für den Sommer, aus dem man nicht mehr auftauchen möchte.

 

Mehr Sommerbuchtipps von Bloggern findet ihr hier.

 

 

 

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke

Roman, aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig

Hardcover, 880 Seiten

mare Verlag, Hamburg 2021

 

...liest gerade „Aufbrechen“ von Tsitsi Dangarembga

Ein Mädchen, das nach Bildung dürstet.

Das gegen die Ungerechtigkeit seiner Welt kämpfen will.

Das sich allen Widerständen mutig entgegen stellt und das doch seinen Preis zu zahlen hat.

Denn es lebt in einer Welt, in der das weibliche Geschlecht nicht viel zählt.

 

Tambu wird in einer ärmlichen Familie im ehemaligen Rhodesien geboren. Was der Vater durch Faulheit verschläft, wird der Mutter doppelt und dreifach aufgebürdet. Denn sie ist es, die für die Familie sorgt, die kocht, sich um den Haushalt kümmert und die Kinder erzieht. Tambus Weg scheint vorgezeichnet in einer Welt, in der Mädchen nicht viel zählen. So muss sie als Kind bereits tatkräftig beim Arbeiten helfen, während ihr älterer Bruder die Schule besuchen darf. Die Mutter erinnert sie an ihr Schicksal, eine schwarze Frau zu sein und damit gleich eine doppelte Bürde zu tragen.

 

Als ihr Bruder unerwartet stirbt, erhält sie durch die Familie ihres Onkels die Chance, in die Schule zu gehen. Sie zieht zu ihr und entdeckt, dass diese Familie so anders ist als ihre eigene. Sie wohnt in einem Haus mit Angestellten, der Onkel ist angesehen und verdient gutes Geld, die Tante hat ihren eigenen Kopf und ihre Cousine ist widerspenstig und gibt dem Vater Widerworte. Ist sie durch die Jahre in London verzogen oder rebelliert sie gegen die Unterdrückung der Frau?

 

Was klingt wie ein gerade erst erschienener Roman, der die Missstände von Frauen thematisiert, ist bereits 35 Jahre alt.

 

Der Roman ist eine Coming-of-Age Geschichte und spiegelt eindrücklich die Erfahrungen eines Mädchens in einer patriarchalischen Welt wider. Rassismus, Apartheid und Armut bestimmen ihr Leben genauso wie alte Familienstrukturen und Stammesdenken. Doch durch den unbändigen Drang nach Bildung öffnet sich ihr eine ganz andere Welt. Immer mehr begreift sie, wie es um die Rolle der Frau bestellt ist in einem System, das Frauen knechtet und herabwürdigt.

 

Aus den Augen eines Kindes diese gänzlich fremde Welt in Afrika zu betrachten, fand ich ungemein spannend und bereichernd. Nicht der Fakt, dass Frauen seit Menschheitsgedenken unterdrückt werden, sondern die Beschreibungen der Kultur, der Menschen, ihrer Schicksale und Beweggründe, ihrer Probleme und Mentalitäten an diesem fernen Ort machen diesen Roman zu einem ganz besonderen.

 

Schon 1988 geschrieben, 1991 ins Deutsche übersetzt, 2018 in die BBC-Liste der „100 Bücher, die die Welt geprägt haben“ aufgenommen, aber erst durch die Auszeichnung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2021 auch endlich hier gewürdigt.

 

Der Beginn einer Trilogie, deren zweiter Teil erst dieses Jahr als Übersetzung erscheinen soll, obwohl der dritte Band bereits im Deutschen vorliegt. Ich werde auf jeden Fall noch beide lesen.

 

„Aufbrechen“ erschien im Orlanda Verlag in der Reihe „Afrika bewegt“, übersetzt von keinem Geringeren als Ilija Trojanow.

 

 

Tsitsi Dangarembga: Aufbrechen

Roman

Klappenbroschur, 280 Seiten

Orlanda Verlag, Berlin 2019

 

...schlendert gerade (wieder einmal) durch die Livraria Bertrand

 

Von der schönsten Buchhandlung zur ältesten.

 

Die Livraria Bertrand wurde 1732 eröffnet und hat seitdem allen Krisen getrotzt. Sie hat nicht nur das katastrophale Erdbeben von 1755 überlebt, das beinahe die ganze Stadt zerstörte und zum Brandbeschleuniger der europäischen Aufklärung wurde, sondern auch zahlreiche Kriege und Revolutionen, Finanz- und Wirtschaftskrisen sowie Corona.

 

Natürlich dürfen in der Buchhandlung die wichtigsten Protagonisten der Lissabonner Literatur nicht fehlen. Zum einen José Saramago, der aus ärmsten Verhältnissen stammende Nobelpreisträger von 1998, zum anderen Fernando Pessoa, der zu den bedeutendsten Dichtern des 20. Jahrhunderts zählt.

 

Wenn selbst diese beiden hier schon ihre Bücher erstanden haben, dann blickt der Ort auf eine lange Tradition zurück.

 

 

Hier geht es zur Webseite der Buchhandlung.

 

 

...schlendert gerade durch die Livraria Lello

 

Da schlendert man mir nichts dir nichts durch Porto und steht auf einmal vor der schönsten Buchhandlung Europas, wenigstens nach Lonely Planet.

 

Die Livraria Lello ist aber in der Tat ein Schmuckstück. 1869 gegründet und seit den frühen 1900er, als die Gebrüder und Namensgeber Lello die Buchhandlung neu eröffneten, ein Treffpunkt für Kultur- und Literaturbegeisterte.

 

Gerüchte besagen, dass J.K.Rowling hier zur Bibliothek in ihren Harry Potter Romanen inspiriert wurde. Und so stehen die Leute heute Schlange, drängen sich durch die kleine Buchhandlung, um sich einmal wie in Hogwarts zu fühlen. Schade, denn der Zauber dieses Ortes verfliegt bei diesem Massenandrang, die Bücher rücken in den Hintergrund, das Stöbern durch die bunte Welt der Literatur gerät zur Farce.

 

Dennoch, einen kurzen Besuch ist diese Buchhandlung sicherlich wert. Und falls irgendwann einmal der Potter Hype verflogen ist, kann man sich in den verwunschenen Gängen vielleicht wieder verlieren.

...liest gerade "Grund" von Sylvia Wage

Der Vater liegt tot auf dem Boden.

Auf dem Boden eines tiefen Lochs.

Das Loch hat sie ausgehoben – um sich zu rächen.

 

Der Vater gibt sich charmant, doch nicht umsonst bewacht die Mutter nachts die Zimmer der drei Töchter. Strenge Regeln herrschen im Haus, die zu brechen fürchterliche Konsequenzen nach sich zieht. Seitdem sie elf ist, gräbt sie deshalb ein Loch im Keller, jede Nacht ein wenig tiefer. Hand für Hand trägt sie die Erde hinaus. Das Loch wird groß und größer und das Mädchen reift heran.

 

Dann verschwindet der Vater plötzlich. Das Auto ist fort, ein Abschiedsbrief liegt auf dem Tisch. Der Tyrann hat die Familie verlassen. Die Schwere fällt und die Schwestern blühen auf. Sie ziehen aus, befreien sich von den Fesseln und bestimmen ihr Leben fortan selbst. Nur sie muss zu Hause bleiben, muss für die alkoholkranke und bald demente Mutter sorgen – und sie muss sich um den Vater kümmern, den sie in das Loch gestoßen hat. Als er nun tot auf dem Boden liegt, kriecht die Wahrheit langsam hervor und drängt ans Tageslicht.

 

Sylvia Wages Debütroman ist ein wunderbares Vexierspiel, das kunstvoll mit Wirklichkeit und Fiktion jongliert. Denn schon bald stellen sich Fragen, Fragen nach der Zuverlässigkeit der Erzählerin. Was stimmt eigentlich in der Geschichte, die sie dem Leser in einem lakonischen Plauderton erzählt, als redete sie über Nebensächlichkeiten? Was ist in der Kindheit wirklich vorgefallen? Und wer wusste von ihrer Tat? Oder gab es sie gar nicht, was sie nur eine symbolische Tötung, eine Art gedankliche Katharsis? Je tiefer man sich auf den Grund begibt, desto mehr Unklarheiten ergeben sich. Schon der Titel spielt mit der Ungenauigkeit, kann Grund doch als Boden, als Ursache oder aber auch als Abgrund gelesen werden.

 

Der Roman erhielt den Blogbusterpreis 2020, ein Wettbewerb, bei dem auch ich teilgenommen habe. Deshalb war es umso interessanter, den Gewinnertitel zu lesen, und nach eingängiger Lektüre muss ich zugeben: Sylvia Wage hat den Preis zu Recht erhalten. Der Roman ist ein mehrschichtiges Psychogramm einer Frau, die sich erst als Täterin Gehör verschaffen kann, da ihr als Opfer nicht geglaubt wird.

 

 

Sylvia Wage: Grund

Roman

Hardcover, 176 Seiten

Eichborn Verlag, Köln 2021

 

...liest gerade „Vierunddreißigster September“ von Angelika Klüssendorf

Als bei ihm ein Hirntumor entdeckt wird, ändert sich sein Leben.

Statt der immerwährenden Wut legt sich Sanftmut über sein Gemüt.

Seine Frau kann es nicht verstehen – und erschlägt ihn mit einem Beil.

 

Hilde ist verschwunden. Niemand im Dorf weiß, wo sie ist. Die Polizei fahndet nach der alten Mörderin, die auf solch bestialische Weise ihren Mann erschlug. Zuletzt wurde sie auf der Silvesterfeier gesehen, auf der sie unbeschwert getanzt hatte. Doch als ein Nachbarskind tags darauf die Leiche ihres Mannes findet, ist sie fort und wird nie wieder gesehen.

 

Walter erwacht als Geist. Sein Schädel ist gespalten, seine Sanftmut geblieben. Im Totenreich wird ihm auferlegt, seine Chronik zu erzählen. Aber er kann sich nicht erinnern. Nach und nach sieht er durch die Erzählungen anderer Verstorbener ein, dass seine Frau ein Leben führte, das er nicht kennen wollte, dass sie Gedichte schrieb und Sprachen lernte, wofür er sie mit Desinteresse strafte. Warum war er früher nur immer so voller Wut? Und warum bloß erschlug ihn seine Frau?

 

Angelika Klüssendorf hat einen Roman über ein Dorf geschrieben, mit dessen Bewohnern es nach der Wende stetig bergab ging. Trostlosigkeit hängt über der Stadt wie ein Leichentuch. Nur wenige schaffen es, der Einöde und der Sinnlosigkeit zu entkommen. Die meisten bleiben und stumpfen ab. Doch der Roman ist nicht nur ein Dorfroman, sondern reflektiert wie jeder gute Roman auch das Große im Kleinen. Durch den Tod Walters und seine Unterhaltungen werden die existentiellen Fragen aufgeworfen: Was ist das Leben? Was macht einen zu demjenigen, der man ist? Und wofür lohnt es sich eigentlich zu leben?

 

Mit Witz und Scharfsinn erzählt Klüssendorf von den vielen Einwohnern, die ihr kleines Leben führen, erzählt von gescheiterten Ehen, die dennoch nicht getrennt werden, erzählt von Tyrannen, die Familien knechten, und Selbstermächtigungen, die verschrien werden. Durch unterschiedliche Erzählstimmen wird das Leben aus einer Vielzahl an Perspektiven beleuchtet. Ein guter, ein unterhaltsamer Roman, an dessen Ende mir aber etwas zu wenig Substanz übrigblieb.

 

 

 

Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September

Roman

Hardcover, 224 Seiten

Piper Verlag, München 2021

 

...hört gerade Fatma Aydemir zu

Was sind Dschinns? Geister, die im Raum sind, die wir aber nicht sehen können. Sie sind wie Geschichten, die da sind, aber nicht erzählt werden.

Fatma Aydemir las gestern im Freiburger Literaturhaus aus ihrem gefeierten Roman, der die Gastarbeiter, ihre Familien und die deutsche Gesellschaft der 90er Jahre in den Blick nimmt. Besonders behandelt er die Sprachlosigkeit und das Schweigen angesichts eines Lebens zwischen zwei Kulturen. Das Schweigen erschafft Leerstellen, in denen sich eine verzehrende Einsamkeit einnistet und Beziehungen und Identitäten langsam zersetzt werden.

 

Der Roman wirft aber auch einen Blick auf unsere heutige Gesellschaft, denn ständig klingt die Frage mit, wieviel sich wirklich seit den Anschlägen in Mölln, Solingen und Rostock getan hat, wenn wir heutzutage Hanau und Halle erleben.

 

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...schlendert gerade durch den Wetzstein

 

Hurra, der Wetzstein ist wieder groß!!!

 

Dieses Wochenende stand die lang ersehnte Wiedereröffnung der altehrwürdigen Buchhandlung an. Durch ein junges, dynamisches und überaus kompetentes Team erstrahlt der Wetzstein in neuem Glanz.

 

Ich freue mich auf den Austausch, die Bücher, die Begegnungen und Veranstaltungen. Und falls ihr mich mal sucht, so findet ihr mich sicherlich hier, lesend und debattierend.

 

Und so beginnt eine neue Ära, denn endlich hat Freiburg wieder das, was es verdient: ein literarisches Zentrum.

...hört gerade Esther Kinsky zu

Das Friaul, eine italienische Region an der Grenze zu Slowenien.

Eine Region, die sich von den hohen Alpenketten bis zur Adriaküste erstreckt.

Eine Region, die mit den beliebten Strandbädern Lignano und Grado sowie den charmanten Städten Pordenone, Gorizia und Udine aufwartet.

Eine Region, die vor beinahe 50 Jahren so schwer erschüttert wurde, dass die Narben bis in unsere heutige Zeit hineinreichen.

 

Gestern war Esther Kinsky zu Gast im Literaturhaus Freiburg und stellte ihren preisgekrönten Roman „Rombo“ vor. Rombo, das Grollen, das 1976 alles erschütterte, das Grollen, das alles veränderte. Es waren zwei Erdbeben, bei denen fast 1000 Menschen ihr Leben verloren, Zehntausende ihre Häuser und ganze Dörfer unter Schutt und Asche begraben wurden.

 

Kinsky lässt sieben Einheimische zu Wort kommen, in deren Erzählungen das Ereignis rekonstruiert wird. Dabei dreht sich alles um die Erinnerung, aber auch um Märchen, Mythen und Sagen dieser so eigenen Region mit ihrer eigenen Sprache. Die Landschaft selbst tritt ebenso ins Scheinwerferlicht, die Kultur des Friaul wird sichtbar. Und so sind die unterschiedlichen Erzählungen wie Steine, die aufgeschichtet werden und ein Ganzes ergeben, die aber knirschen und jederzeit in sich zusammenfallen können.

 

Kann man Erinnerungen festhalten? Kinskys Antwort auf die Frage ist poetischer Natur: Ja, beantwortet der Roman, man kann, auch wenn sie sich dadurch verändert – durch Benennen und Erzählen.

 

 

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...liest gerade „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ von Felicitas Hoppe

Vom Rhein zur Donau.

Von der Geschichte zur Sage.

Und vom Laiendarsteller zum Tod.

 

Jeder kennt die Sage der Nibelungen und keiner kennt sie richtig. Die zunächst namenlose Ich-Erzählerin wohnt der Aufführung der Nibelungen in Worms bei. Sie beschreibt und kommentiert Schauspieler und Handlung, bis sie selbst ins Drama gezogen wird und um sie herum die Ebenen verwischen. Plötzlich fährt sie mit nach Isenstein, wirbt um Brunhild und muss später in Etzels Palast dem großen Morden zuschauen. Doch sie greift nie ein, sondern bleibt immer nur Beobachterin. Wie wir im Abspann erfahren, ist diese Zeugin Felicitas Hoppe. Die Autorin hat sich also selbst in den Stoff eingewebt.

 

Zum Glück gibt es zwei große Pausen zwischen den Akten. In diesen führt sie Interviews mit den Schauspielern, fragt sie zu ihren Rollen, zu ihrem Kunstverständnis und zu Interpretationen.

 

Wie der Rhein und die Donau fließt der Roman der Georg-Büchner-Preisträgerin über mehrere Ebenen und verzweigt sich in mehrere Arme. In dem so oft adaptierten und stets als Nationalepos stilisierten Stoff fließen die Ströme ineinander, sodass man sich als Leser zu Beginn eines Satzes noch in Worms befinden kann, am Ende desselben jedoch in der mythischen Zeit der Nibelungen.

 

Es ist eine höchst anspruchsvolle Verzahnung mehrerer Ebenen, denn neben der Ich-Erzählerin, dem Theaterstück sowie dem Mythos spielt auch der Film von Fritz Lang aus dem Jahr 1924 eine Rolle. Sprach Brecht vom epischen Theater, in dem die Grenzen zum Publikum fielen, kann man hier von einem dramatischen Roman sprechen, in dem durch Verfremdungseffekte keine Identifikation aufkommen mag.

 

Die eigentümliche Konstruktion zeugt zwar von Experimentierfreude, die ich in Romanen meist sehr schätze, mutet aber an vielen Stellen auch schwerfällig an. Eine Lesefluss kommt nicht wirklich zustande, die zahllosen Unterbrechungen und Spiegelungen wirken meist aufgesetzt. Zudem erschließt sich mir nicht der Mehrwert, den man aus der Bearbeitung dieses jahrhundertalten Stoffes ziehen soll.

 

So bleibt eine interessante Konstruktion, die aber mehr irritiert als unterhält.

 

„Die Nibelungen. Ein Stummfilm“ stand im letzten Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

 

 

 

Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm

Roman

Hardcover, 256 Seiten

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021

 

...hört gerade Nino Haratischwili zu

Georgien als Folie für die Ukraine.

 

Nino Haratischwili las gestern im Freiburger Literaturhaus aus ihrem neuen Roman „Das mangelnde Licht“, der aktueller nicht sein könnte.

 

Vier Freundinnen wachsen im Georgien der 80er und 90er Jahre auf, in einem Land, in dem staatliche Strukturen zunehmend zerfallen, eine Wirtschaftskrise die Menschen zersetzt, Drogen die neue Freiheit überschwemmen und ein Krieg ausbricht, der alle traumatisieren wird. In den Städten herrschen mafiöse Gruppen. Die Gesellschaft brutalisiert sich immer mehr und so versucht jeder in diesem anarchischen Dschungel irgendwie zu überleben.

 

Wie kann es sein, dass manche Menschen in unmoralischen Zeiten dennoch moralisch handeln, wohingegen andere zu Monstern werden? Dieser Frage versucht Haratischwili literarisch auf den Grund zu gehen und so verwebt sie persönliche Geschichten mit dem kollektiven Bewusstsein einer ganzen Generation.

 

Eigentlich sollte der Roman schon im letzten Herbst erscheinen, wegen der Pandemie wurde die Veröffentlichung aber verschoben. Nun erschien er im Februar, einen Tag nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Auch wenn die Welt einen neuen Krieg sieht, sind die Parallelen beider Länder und ihr Verhältnis zum Nachbarn frappierend. Beide sind ehemalige Sowjetstaaten und so wie es in der Ukraine die Regionen Donezk und Luhansk gibt, existieren in Georgien Abchasien und Südossetien. Auch diese sind abgetrennt vom Land und stehen unter russischem Einfluss, auch in diesen wurde Krieg geführt mit russischer Unterstützung, und auch hier entstanden ähnliche Bilder, wie wir sie nun aus dem Donbass und dem Rest der Ukraine kennen.

 

Auf Putin und den Krieg angesprochen, offenbarte Haratischwili ihre glasklare Meinung. Seit Jahren sehe die Welt, wie Russland vorgehe, in Abchasien und Südossetien, in Tschetschenien und in Syrien, auf der Krim und im Donbass. Lange habe man die Augen verschlossen, weil diese Konflikte in unseren Augen weit weg schienen. Für die Menschen im Osten gehört die Aggression Russlands allerdings seit Jahrzehnten zu ihrem Leben.

 

 

 

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...hört gerade Antke Rávik Strubel zu

Für Traumata gibt es keine Sprache. Sie kreist nur um den Kern, gelangt aber nie zu ihm hinab.

 

Gestern war Antje Rávik Strubel zu Gast im Literaturhaus Freiburg und stellte ihren Roman „Blaue Frau“ vor, der im letzten Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist.

 

Es ist die Geschichte von Adina, einer jungen Frau, die vergewaltigt wird und ihrem Peiniger Monate später wiederbegegnet. Es ist die Geschichte eines Traumas, das sich tief in die Seele dieser jungen Frau hineingefressen hat und sie zersetzt. Und es ist die Geschichte männlicher Machtstrukturen in einer Gesellschaft, in der sexuelle Übergriffe das sicherste Verbrechen für Täter sind, da sie kaum angezeigt und noch weniger verurteilt werden.

 

Der moralischen und juristischen Ungerechtigkeit wird mit der offenen Gestalt der Blauen Frau zumindest eine poetische Gerechtigkeit gegenübergestellt. Sie ist ein an Luft- & Wasserwesen angelehntes Geschöpf, das in Zwischenszenen eine weitere Reflexionsebene aufschließt, auf der die Ich-Erzählerin ein lyrisches Zwiegespräch führt.

 

Gesprochen wurde bei der Lesung aber auch über Schreibprozesse. Acht Jahre lang, so Strubel, habe sie mit der Hauptfigur Adina gestritten, habe sie in eine Wohnung in Helsinki gesteckt und wusste zunächst nicht, worüber sie schreiben solle. Dutzende Seiten habe sie geschrieben und wieder verworfen, bis sie sie in der Sprache gefunden habe. Und das merkt man dem Text an, denn Sprache scheint eine herausragende Rolle im Roman zu spielen.

 

Eine wunderbare Lesung, die ungeheure Lust auf die Lektüre geweckt hat.

 

 

 

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...liest gerade „Red Pill“ von Hari Kunzru

Im Südwesten Berlins liegt ein idyllischer Ort, doch er täuscht.

Denn hier tötete Heinrich von Kleist seine Freundin und danach sich selbst.

Hier tagten hochrangige Vertreter des Nationalsozialismus und planten den Holocaust.

Und hier, an den Ufern des Wannsees, findet er nun die Spuren einer Weltverschwörung.

 

Es ist die Midlife-Crisis, die an ihm nagt. Das Gefühl, dass etwas grundlegend schiefläuft, quält den namenlosen Schriftsteller. Abhilfe soll das dreimonatige Stipendium im Deuter Zentrum verschaffen, einer renommierten Forschungseinrichtung für Sozial- und Kulturwissenschaften, in der er zu Kreativität und Inspiration zurückfinden will.

 

Doch statt Abgeschiedenheit findet er Großraumbüros vor, statt Einsamkeit gemeinsame Essen und Unternehmungen. Als er sich immer mehr in sein Zimmer zurückzieht, beginnt er plötzlich Zeichen zu sehen. Besonders in der gestreamten Krimiserie „Blue Lives“ fallen ihm neben literarischen Anspielungen auch Codes der rechten Szene auf, die nur er zu bemerken scheint. Im Internet stolpert er panisch von einem Begriff zum nächsten, gräbt sich immer tiefer durch den Sumpf rechter Parolen und begibt sich dadurch auf einen Weg, der ihm keine Rückkehr gewähren wird.

 

„Red Pill“ ist ein spannender Roman über die Blindheit unserer Welt, in der die Neue Rechte sich längst formiert hat, die Gesellschaft unterwandert und aushöhlt. Sprachliche und bildliche Codes sind längst in den Mainstream eingeflossen und setzen ihr Gift frei. Die Weitreiche und Anonymität des Internets bieten Verschwörungstheoretikern und Faschisten alle Mittel, um eigene Geschichten und Weltanschauungen millionenfach unters Volk zu bringen.

 

Beschränkte sich der Roman auf diese Themen, wäre er ein wilder Ritt durch das Territorium der Neuen Rechten, durch das Internet und die Deutungshoheit über Fakes und Wirklichkeiten. Doch leider rührt Kunzru zu viel Stoff in seinem Roman ineinander. So wird eine ganze Reihe an deutschen Dichtern aufgeboten und nicht nur mit den eben genannten Themen zusammengegossen, sondern auch mit der DDR gemischt, dem Überwachungsstaat, Flüchtlingen, Depressionen, Verfolgungswahn sowie dem Spiel von Wirklichkeit und Phantasie, so dass der Mixer am Ende einen Brei ausspuckt, bei dem ich mich frage: Wonach genau soll der schmecken?

 

Hier wäre etwas weniger Fülle an Themen sicherlich besser gewesen.

 

 

 

Hari Kunzru: Red Pill

Roman, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Hardcover, 352 Seiten

Liebeskind Verlag, Hamburg 2021

 

BIS ZUM LETZTEN MANN feat. #urkrainehilfe

Diese Woche jährte sich still und heimlich einer der traurigsten Jahrestage dieses Jahrtausends: der Kriegsausbruch in Syrien.

 

Seit 11 Jahren führt Assad Krieg gegen sein eigenes Volk und hätte sich ohne die Unterstützung Putins kaum an der Macht halten können. Mit dem Eintreten der russischen Armee in den Krieg im Jahr 2015 wendete dieser das Blatt zugunsten des syrischen Diktators, der heute den Großteil des Landes wieder unter seiner Folterherrschaft knechtet.

 

Schon damals offenbarte Putin sein wahres Gesicht und zeigte, wie wenig ihm ein Menschenleben wert ist. Unter seiner Regie wurden ganze Landstriche ausradiert, Schulen, Wohn- und Krankenhäuser gezielt von der russischen Luftwaffe bombadiert. Hunderttausende Tote und Millionen Flüchtlinge verzeichnet der Krieg bislang und immer noch ist die humanitäre Situation im Land laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen katastrophal.

 

Nun wiederholt sich das Grauen in der Ukraine. Derselbe wahnsinnige Möchtegern Zar bombadiert mit derselben hochgerüsteten Armee und derselben Taktik der verbrannten Erde ein fremdes Land und legt es in Schutt und Asche. Bilder aus Mariupol erinnern heute leidvoll an die bekannten Bilder aus Aleppo.

 

Was also tun angesichts all dieses Leids?

 

Jeder kann einen kleinen Beitrag leisten im Rahmen seiner Möglichkeiten, ob es Geld spenden ist, sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, gegen den Krieg und Putin demonstrieren o.ä.

 

Ich habe mich dazu entschlossen, bis zum Ende dieses unsäglichen Krieges sämtlichen Erlös meines Buches in die Hilfsaktion von LIBERECO fließen zu lassen, einem gemeinnützigen deutsch-schweizerischen Verein, der humanitäre Unterstützung für die Zivilbevölkerung in der Ukraine und auf der Flucht leistet.

 

Ihr könnt also mein Buch kaufen oder auch hier direkt über LIBERECO spenden.

 

*In Gedenken an all die Opfer dieser sinnlosen Kriege*

 

 

 

...liest gerade „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier

Ein Auftragsmörder, der sich akribisch auf seine Opfer vorbereitet.

Ein Rapper, der im größtenteils homophoben Nigeria Männer liebt.

Ein Mädchen, das nicht mit seinem Vater allein gelassen werden will.

Und die FBI, die alle an einen geheimen Ort bringt.

Denn es gibt ein Problem – sie existieren doppelt.

 

Im März 2021 befindet sich eine Boeing 787 der Air France auf dem Weg von Paris nach New York, als sie über dem Atlantik in ein heftiges Unwetter gerät. Die Turbulenzen sind so stark, dass etliche Passagiere mit ihrem Leben abschließen. Im Cockpit bricht der Funkkontakt zur Außenwelt ab, die Instrumente spielen verrückt, doch die Panik hält nur wenige Augenblicke. Das elektromagnetische Gewitter verliert sich so schnell, wie es gekommen war.

 

Gerade als sich Erleichterung breitmachen will, steigen zwei Abfangjäger neben dem Flugzeug auf und leiten die Maschine zu einem Luftwaffenstützpunkt um. Dort zwingt man die Passagiere in Quarantäne. Unter strenger Beobachtung müssen sie im Trakt verharren, dürfen nicht hinaus, nicht telefonieren. Sie werden festgehalten, ohne Anklage, ohne Grund, bis etwas durchsickert, das unmöglich erscheint: Dasselbe Flugzeug ist bereits vor drei Monaten gelandet – mit denselben Passagieren. Jeder Einzelne von ihnen existiert also doppelt.

 

Was zu Beginn wie ein halbgarer Thriller anmutet, da man den Spuren eines Auftragsmörders folgt, entpuppt sich mit der Zeit…als halbgarer Thriller. Das ist also der Roman, von dem alle sprechen? Puh…was für eine Enttäuschung! Da hilft auch der Prix Goncourt nicht, den er 2020 erhalten hat.

 

Natürlich ist die Geschichte interessant: ein Flugzeug, das sich samt seiner Passagiere verdoppelt hat. Die Zweitgelandeten werden mit einem Ich konfrontiert, das ihnen drei Monate voraus ist, und schauen in ihre eigene Zukunft. Was würde man tun, wenn man seine Zukunft kennte? Was, wenn man einen Doppelgänger hätte? Was ist das Leben, ja was sind wir? Ist alles nur eine groß angelegte Simulation, von höheren Wesen ersponnen?

 

Philosophische Fragen werden aufgeworfen, doch sie kommen hier so beschränkt daher, so altbacken und oberflächlich, dass man sich tatsächlich fragt, wie dieser Roman solch ein Erfolg werden konnte. Schon Matrix setzte sich vor über zwanzig Jahren eingehender mit der Simulationstheorie von Nick Bostrom auseinander, als dieser Roman es tut.

 

Das größte Problem des Romans liegt allerdings in den Charakteren. Jede Erzählung knirscht, wenn sie sich zu sehr auf die Story fokussiert und Figuren als Statisten missbraucht, um einen gewünschten Effekt zu transportieren. Zwar sind die Charaktere bunt gemischt, doch bleibt nicht nur der Ton immer derselbe, sondern auch ihr Leben seltsam blass. Die Figuren, aus denen erst wahre motivierte Handlung entsteht, werden zu Pappkameraden, die die sonderbare Story tragen sollen.

 

Stellvertretend für die lahme und an vielen Stellen plumpe Unterhaltung ist eine Szene, in der sich Vertreter aller Religionen treffen, um über Wesen und Sinn des Lebens zu diskutieren, eine Szene, die ein Kind hätte schreiben können und sie wäre wahrscheinlich besser gelungen.

 

Mag sein, dass ich dem Roman wegen der enormen Erwartungshaltung, gespeist aus den unzähligen überschwänglichen Kritiken, ein wenig Unrecht tue, doch mehr als etwas zerstreuende Unterhaltung bietet er auf keinen Fall.

 

 

 

Hervé le Tellier: Die Anomalie

Roman, aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte

Hardcover, 352 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2021

 

Manchmal muss es eben auch ein Klassiker sein…und was für einer!

Mit welch Kraft und Eleganz erweckt Capote hier bitte seine Figuren zum Leben!?

 

Mit welch feinen Details lässt er sie aus den Sätzen auferstehen, sodass man meint, man wohne mit ihnen im selben Haus?!

 

Und welch schwere Melancholie, ja welch tiefer Schmerz steckt hinter der eleganten und verspielten Leichtigkeit einer Holly Golightly!?

 

Ein ganz außergewöhnliches Büchlein, ein Meisterwerk!

 

 

 

...liest gerade „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch

Noch nie hat sie die das Dorf verlassen, obwohl sie schon oft davon träumte, die Monotonie zu durchbrechen und auf Reisen zu gehen. Doch sie hasst diese Kleinstadt und will sich an ihr rächen - indem sie bleibt.

 

So streift sie durch die Stadt und erblickt eines Tages einen Fremden. Neugierig nimmt sie ihn mit zu sich und bringt ihn in einem der zehn Zimmer ihres Hauses unter. Die Matratze muss er sich selbst besorgen. Betrachtet sie den Gast anfangs noch als Experiment und lässt sich herrschaftlich bedienen, übernimmt der Fremde mehr und mehr die Macht, übernimmt Kleidung, Möbel und feiert Partys im Garten. Schließlich will sie ihn loswerden, doch wie nur soll sie es anstellen? Und will sie eigentlich wirklich, dass er geht?

 

Nüchtern und klar schreibt Koch über unerhörte Ereignisse in einem nicht näher verortbaren Ort mit namenlosen Protagonisten – ein Stil, der an Kafka erinnert. Auch inhaltlich bleibt der Roman in der Schwebe. Denn wer drängt sich hier eigentlich wem auf, wer manipuliert wen – und wer zum Teufel ist überhaupt dieser Gast?

 

Ist es ein Auswärtiger, gar ein Flüchtling, der eine neue Heimat sucht? Ist es ein Hund? Eine Metapher? Eine Allegorie? Ist es die Sehnsucht, die sich in ihr eingenistet hat und die sie schließlich forttreibt? Ist es eine verdrängte Schuld, die wieder aufstößt? Ist es eine Art Melancholie? Eine Depression? Spielt sich die Geschichte tatsächlich so ab oder entstehen die Bilder nur in ihrem Innern? Spielt sich die Geschichte überhaupt ab? Und wenn wir schon dabei sind, woher kommen wir? Wohin gehen wir?

 

Wie bei Kafka sind der Interpretationsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt, denn auf nur 176 Seiten werden sachte aber bestimmt vielerlei dichotome Themen aufgeworfen, die von Gastfreundschaft und Fremdheit bzw. Heimat und Integration über Unterwürfigkeit und Ergebenheit bis hin zu Wandel und Stillstand sowie Einsamkeit und Gesellschaft reichen.

 

Ein bemerkenswerter Roman, dem zum Ende hin jedoch die Luft ausgeht, so dass ich froh war, dass es sich nur um ein schmales Bändchen handelte.

 

Erschienen ist der Roman bei Suhrkamp, wurde ausgezeichnet mit dem Aspekte Literaturpreis 2021 und stand auf der Shortlist von Das Debüt.

 

 

 

Ariane Koch: Die Aufdrängung

Roman

Broschur mit Schutzumschlag, 179 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

 

...liest gerade „Dunkelblum“ von Eva Manesse

Hinter den dicken Mauern des Schlosses knallen die Sektkorken.

In ausschweifenden Exzessen wird gefeiert, getrunken und getanzt.

Vor den Toren jedoch, tief im Wald, da spielt sich Ungeheuerliches ab.

Eine Tat, monströs und unfassbar – und doch alltäglich.

 

Es ist ein kleiner Ort, dieses Dunkelblum, idyllisch gelegen im österreichischen Burgenland. Früher residierten Grafen hier an der Grenze zu Ungarn. Heute gibt es nur noch ihre Gruft und eine Schlossruine, Zeugen der guten, alten Zeit. Seit Generationen bewohnen alteingesessene Familien den Ort und so bleibt man auch gerne unter sich. Argwöhnisch wird deshalb der fremde, alte Mann begutachtet, der in das Dorf kommt und Fragen stellt, unangenehme Fragen, Fragen nach Gräbern, die bereits im Umland gefunden worden sind, Fragen nach dem Fest des Fürsten am Kriegsende, Fragen nach Einwohnern, die seitdem als verschollen gelten.

 

Als auch noch ein DDR-Flüchtling ins Dorf stolpert und eine junge Frau verschwindet, stehen endgültig die Geister der Vergangenheit vor der Tür, denn über dem Ort liegt ein dunkles Geheimnis, ein Ungeheuer, das seit Jahrzehnten schläft und niemals geweckt werden sollte.

 

Nicht leicht verfalle ich in Überschwang – aber mein Jahreshighlight ist bereits gefunden! Besser kann es nicht mehr werden.

 

Was für ein intensiver, atmosphärischer und stilistisch brillanter Roman!

 

Wie bei einer Ausgrabung wird mühsam Schicht für Schicht von der Geschichte abgetragen, bis man in eine Tiefe vorstößt, die einen ängstigt. Ganz unten, da schlummert eine kollektive Erinnerung an ein Verbrechen, das ungesühnt geblieben ist und sich zur kollektiven Schuld eines ganzen Ortes ausgewachsen hat.

 

Brillant sind die Verstrickungen jedes einzelnen Dorfbewohners in die Geschichte des Nationalsozialismus verwoben. Die Charaktere werden so plastisch dargestellt, so lebendig und lebensnah, durch Sprechweisen und Dialekte, durch Wünsche, Ängste und Handeln, durch Lügen, Betrügen und Erpressen, durch Verheimlichen und Totschweigen, dass sie sich in ihrer ganzen Fülle aus dem Papier erheben und als Lebewesen aus Fleisch und Blut vor einem stehen.

 

Das Thema ist natürlich kein neues, es geht um die Zeit des Nationalsozialismus, um den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sowie die Verdrängungsmechanismen einer ganzen Generation, in der sich keiner erinnern möchte, in der jeder vorgibt, nur ein kleines Rädchen gewesen zu sein, nur Befehle ausgeführt zu haben, einer Generation, in der Erinnerung erst mit dem eigenen Leid einsetzt und das Leid so vieler anderer ausgespart wird. Doch die Komposition, in der sich die einzelnen Fäden zu einem beinahe undurchsichtigen Knäuel verdichten, als auch die bildhafte und ausdruckstarke Sprache, die ironisch gebrochen und mit ihren Mitteln das große Schweigen beschreibt, machen den Roman einzigartig und lassen ihn aus seinesgleichen herausragen.

 

Auch wenn Dunkelblum eine fiktive Geschichte darstellt, beruhen die Ereignisse auf den Vorfällen in Rechnitz kurz vor Kriegsende, ein Ort, der beinahe wie kein zweiter für die Schuld einfacher Bürger steht. Ein Ort, in dem bis heute über die Gräueltaten geschwiegen wird und es immer wieder Versuche gibt, die Massengräber ausfindig zu machen.

 

„Dunkelblum“ ist ein aufreibender, wahrer und verdichteter Roman, wie ich ihn lange nicht mehr gelesen haben.

 

Und so bleibt mir nur den Aufruf: Legt alle Bücher beiseite und lest diesen Roman!

 

 

 

Eva Menasse: Dunkelblum

Roman

Hardcover, 528 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2021

 

Jahresrückblick 2021

Schon wieder winkt das Jahresende und bevor Miss Sophie ihren Butler James übers Parkett scheucht, soll einmal innegehalten und auf das vergangene Lesejahr zurückgeblickt werden.

 

Abermals bin ich in unzählige Welten hinabgestiegen, habe dutzende Leben gelebt, hunderte Erfahrungen gesammelt und tausende Male mitgelitten und gelacht. Aus den quadrillionen gelesener Romane in diesem Jahr habe ich die hervorragendsten Titel herausgepickt, 8 Titel, die mich ungemein begeisterten, die etwas in mir bewegten und die ich deshalb uneingeschränkt empfehlen möchte.

 

Deswegen hier eine kleine, aber feine Auslese dieses Jahres - natürlich wie immer nach ganz objektiven Richtlinien! Und mit Klick auf das Foto gelangt ihr zur ganzen Rezension.

 

 

 

"APEIROGON"

von Colum McCann

 

Dies ist die Geschichte einer Freundschaft, wie sie ungewöhnlicher nicht sein könnte. Die Geschichte Ramis und Bassams, der eine Isreali und Jude, der andere Palästinenser und Muslim, vereint durch einen Schicksalsschlag, der ihr beider Leben veränderte. Ungewöhnlich mögen zunächst die kurzen Kapitel wirken, die meist aus wenigen Sätzen bestehen und immer neue Erzählfäden aufnehmen. Doch mit der Zeit verbinden sich die Fäden und weben ein einzigartiges Bild von der Geschichte und Gegenwart Palästinas und Israels, einer Region, die geprägt ist durch tiefen Hass, durch Kriege und Verbechen, durch Politiker und Gruppierungen, die von der stets befeuerten Gewalt und Eskalation profitieren, durch Terrorismus und Apartheidsystem. Wer Apeirogon gelesen hat, schaut mit verändertem Blick auf den Nahen Osten, denn dieser Roman ist eine Wucht!

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"IDENTITTI"

von Mithu Sanyal

 

Was genau ist eigentlich Identität? Wird sie einem von außen zugeschrieben? Wenn ja, von wem und auf welcher Grundlage? Oder sucht man sich selbst eine Identität aus? Darf man zwischen Identitäten wählen? Darf ich sein, wer ich sein möchte oder gibt es dabei Grenzen? Höchst amüsant dreht sich dieser Debütroman um Identitäten, selbstgewählten und aufoktroyierten, um das Gefühl und den Wunsch nach Zugehörigkeit und ums Ausgestoßensein. Er handelt von Rassismus und kultureller Aneignung, vom Spagat zwischen liberalem Weltbild und Cancel Culture, von Political Correctness und ausufernder Empörung, von Sex und Gender, Rollen und Zuweisungen, von der Gesellschaft und ihrem Miteinander und das alles auf so spielend leichtem Wege, das man ungemein amüsiert und unterhalten wird, während einem der Kopf von all den Fragen schwirrt.

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"DIE UNSCHÄRFE DER WELT"

von Iris Wolff

 

Mit höchst eleganten und poetischen Sätzen lädt uns Wolff ein, auf ihrer melodischen und leichten Sprache die kurze, aber desto intensivere Geschichte einer deutsch-rumänischen Familie aus dem Banat zu durchfliegen. So leise, aber kraftvoll fügt die Erzählerin ein buntes Mosaik des letzten Jahrhunderts zusammen, von König Michael und den Wirren des Zweiten Weltkriegs, über die schreckliche Diktatur unter Ceaușescu und seiner Securitate bis hin zum Zerfall der Sowjetunion, so zart, aber ausdrucksstark erzählt sie über vier Generationen, über Wünsche, Ängste und Erinnerungen der Menschen, über Diktatur und Flucht, Heimat und Identität, dass man wahrlich mitgerissen wird. Ein bemerkenswerter Roman!

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"MR. LINCOLN & MR. THOREAU"

von Sebastian Guhr

 

Zwei Männer - zwei Kontrahenten. Der eine verlangt nach gesellschaftlichen Regeln, ficht für staatliche Gesetze und nimmt die Gemeinschaft in den Blick. Der andere flieht die Gesellschaft, lehnt den Staat ab und besinnt sich auf sich selbst. Zwei Lebensauffassungen prallen aneinander, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Denn was ist beim Lebensentwurf des Menschen höher zu bewerten? Die individuelle Freiheit oder der Gemeinschaftssinn? Steht über allem das Recht auf freie Entfaltung, auf absoluten Individualismus? Oder liegt der Zweck des Menschseins im Miteinander, in der Gemeinschaft, in einem Kollektiv, für das der Einzelne Opfer zu bringen hat? Der Roman ist für mich die Überraschung des Jahres und wirklich ein Lesehighlight, das nicht nur auf sehr kluge Weise unterhält, sondern auch die heutige Zeit spiegelt und reflektiert.

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"DAS PARADIES MEINES NACHBARN"

von Nava Ebrahimi

 

Drei Männer und eine Frage: Wer von ihnen ist Ali Najjar? Verschlungen erzählt Nava Ebrahimi über Krieg, Flucht und Ankommen in einer fremden Welt. Schonungslos wird der Krieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren dargestellt, die Schrecken und Gräueltaten, der Chemiewaffeneinsatz des Iraks, gefördert durch westliche Staaten. Rücksichtlos wird von den Kindersoldaten des Irans berichtet, die in der Schule indoktriniert wurden, als Märtyrer auf den Schlachtfeldern zu sterben und deswegen als menschliche Minenräumer herhalten mussten. Vor dem Leser breitet sich ein aufwühlendes Verwirrspiel aus, denn die Leben der drei Männer verzahnen sich zusehends, greifen ineinander und aufeinander über. Zugleich versetzt die Geschichte dem Leser einen Faustschlag in den Magen. Und doch liest man rastlos weiter und möchte nur eines wissen: Wer verdammt nochmal ist Ali Najjar?

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"ICH BLEIBE HIER"

von Marco Balzano

 

Im Kleinen ist dies die Geschichte Grauns, eines Dorfes, das dem Untergang geweiht ist. Im Großen ist es eine Erzählung über die Zerrissenheit von Einwohnern, die zwischen den Grenzen stehen, keiner Nation zugehören, kein Land ihr eigen nennen, Menschen, deren Kultur unterdrückt und ausgelöscht werden soll, die seit Jahrhunderten das Land kultivierten und nun Fremde sind, Minderheiten in Nationalstaaten, gezwungen sich anzupassen oder zu fliehen. Der nüchterne, klare und einfache Stil  stellt die Geschichte umso größer heraus, eine Geschichte, die von Unterdrückung und Widerstand handelt, von Mut, Willenskraft und Trotz, von Heimat, Verlust und Vergänglichkeit, ein beeindruckender Roman über Südtirol, dessen Geschichte die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert widerspiegelt.

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"FRANKENSTEIN IN BAGDAD"

von Ahmed Saadawi

 

Ein Monster geht um. Es ist der Tod, der auf leisen Sohlen Verbrecher jagt. Doch wer steckt hinter dem selbsternannten Rächer? Dieser klug inszenierte Roman erzählt über das Bagdad von 2005 und schenkt einen tiefen Einblick in das Alltagsleben eines von Diktatur und Krieg gebeutelten Landes. Ein Leben, das nunmehr von Angst und Misstrauen kontrolliert wird. Es ist die Geschichte über einen niemals endenen Kreislauf, in dem Morde neue Morde nach sich ziehen, Täter zu Opfer werden und Opfer zu Tätern, die Geschichte einer endlosen Gewaltspirale, in der vergossenes Blut immer wieder nach neuem Blut schreit und der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld verwischt. Mit tiefschwarzem Humor entsteht ein polyphones Bild, eine Parabel auf die Missstände der Gesellschaft,  die oft schmunzeln und im nächsten Moment erschaudernd zusammenzucken lässt.

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"DAS PERFEKTE GRAU"

von Salih Jamal

 

Was für ein poetischer, einfühlsamer und durchaus wahrer Roman!? Ein Roadtrip, der die Zerbrechlichkeit des Lebens gefühlvoll vor Augen führt. So unterschiedlich die Charaktere auch sein mögen, so vereint sie doch die Flucht. Die Flucht vor der Vergangenheit, die Flucht vor sich selbst und den inneren Dämonen, aber auch die ewige Suche nach Sinn, die Suche nach Heimat, Akzeptanz und vor allem: die Suche nach sich selbst. Genau darum kreist der Roman, in dessen Inneren schließlich die Freundschaft aufblitzt. In zarten Tönen wird die ständige Reise in diesem Leben zum Erklingen gebracht, jene Reise, an deren Ende man hofft, sich selbst zu finden und endlich diese ewige Leere im Herzen zu füllen.

 

 

 

Frohe Festtage

 

Ho ho ho...und was lag bei euch unter dem lammettafreien Tannengestrüpp?

 

Ich habe dieses Jahr nur selbstgemalte Bilder verschenkt. Alle waren sprachlos ob der Strichmännchen aus Wachsfarbe, die sich unter einem dreifarbigen Regenbogen und einer debil lächelnden Sonne an den Händen hielten und tanzten.

 

Dafür habe ich mal wieder nicht die Bauteile erhalten, auf die ich seit Kindheitstagen sehnsüchtig warte. Die Riesenstadt aus Lego bleibt also weiterhin nur ein Traum. Stattdessen gab es Bücher...immerhin und wie es aussieht durchaus gute und interessante. Vielleicht sollte ich langsam mal anfangen, damit Städte zu bauen. Genug Bauteile hätte ich wohl langsam beisammen 😄

...liest gerade "Ameisig" von Charlie Kaufman

Ein nach Bestätigung gierender Filmkritiker, der mit der Zeit gehen will.

Ein afroamerikanischer Greis, der den längsten Film aller Zeiten gedreht hat.

Ein Feuer, in dem ein einzigartiges Lebenswerk in Flammen aufgeht.

Und eine unvergleichliche, alles in den Schatten stellende Höllenfahrt quer durchs Gehirn, aus der niemand hervorkommt, wie er hineingelangt ist.

 

Der neurotische Filmkritiker B. Rosenberg ist zeit seines Lebens auf der Suche nach dem großen Durchbruch. Da der gesellschaftliche Wind gedreht hat und nun gegen alte, weiße Männer wie ihn stürmt, hat er sich nicht nur eine afroamerikanische Freundin zugelegt, mit der er stets prahlt, sondern achtet auch sehr darauf, dass man ihn korrekt anredet, nämlich so, wie er seine Artikel verfasst – genderneutral.

 

Eines Tages lernt er auf einer Reise seinen Nachbarn kennen, einen uralten Afroamerikaner, der im Laufe seines 120 Jahre alten Lebens einen Film von 3 Monaten Spiellänge gedreht hat. Rosenberg widmet sich fortan jede wache Sekunde dem Schauen des Films und ist begeistert. Genau dies scheint das Meisterwerk zu sein, das er suchte, noch unveröffentlicht und von niemandem gesehen. Sein Ruhm leuchtet bereits am Firmament.

 

Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Während der Vorführung stirbt nicht nur der alte Mann, sondern bei Rosenbergs Versuch, die Filmspulen mitzunehmen, fangen diese auch noch Feuer und verbrennen. Nichts bleibt übrig, als Rosenbergs Erinnerungen daran. Nun liegt es an ihm, den Film zu retten, indem er jede einzelne Szene seinen Erinnerungen entreißen will. Doch kann das bei solch einem langen Film gelingen? Und projiziert er eigentlich dabei den Film aus seinen Erinnerungen heraus oder wird er doch in den Film hineingezogen und verschluckt?

 

Zu diesem Roman lässt sich eigentlich nur eines sagen:

WTF?! Also wirklich und wahrhaftig WTF!?

Was für ein absoluter Wahnsinn ist dieser Roman?!

Was für ein absoluter Strudel und Bruch mit allen Erzählkonventionen vom Regisseur von „Being John Malkovich“?!

 

Denn bis hierhin kann man der Handlung noch sehr gut folgen. Sie ist unglaublich witzig und ironisch, sie sprüht vor Sprachwitz und Intellekt, vor Schlagfertigkeit und Humor. Ein völlig verunsicherter alter weißer Mann, der seine Privilegien abgeben möchte, sich weltkundig gibt und doch in jedes Fettnäpfchen tappt, ein einsamer Mensch, der nach Akzeptanz trachtet und doch allen Leuten vor den Kopf stößt. Ein ungemeiner Spaß über Vorteile und Vorurteile, über Gender, Sex, Trends, Sprache, Hauptfarbe und so vieles mehr, bis der Film verbrennt und ein undurchdringbarer Wust an Illusionen, Träumen, Erinnerungen, Scheinrealitäten, Abstraktem und Wahnsinnigem entsteht, dem niemand folgen kann. Völlig absurd – also wirklich völlig absurd drehen sich die Betrachtungen Rosenbergs und sein Handeln in einer Spirale des völligen Wahnsinns, der jede Konventionen sprengt. Hat am Ende vielleicht gar Brainio damit zu tun, dieses Fernsehen aus der Zukunft, das im Kopf stattfindet?

 

Auch wenn viele Episoden weiterhin unheimlich belustigend sind, weil es so absurd, so erfrischend und im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar ist, war die Lektüre auf Dauer, sprich auf über 800 hunderten Seiten doch manches Mal schwer zu ertragen.

 

Wer einmal etwas völlig anderes lesen möchte – und ich meine wirklich, etwas völlig anderes, dem sei der Roman ans Herz gelegt. Gewiss ist dabei nur, dass man als ein völlig anderer aus dieser Geschichte auftauchen wird.

 

„Ameisig“ ist dieses Jahr im Hanser Verlag erschienen und genial von Stephan Kleiner übersetzt worden.

 

 

Charlie Kaufman: Ameisig

Roman, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner

Hardcover, 864 Seiten

Hanser Verlag, München 2021

 

...liest gerade "Identitti" von Mithu Sanyal

Sage mir, woher du kommst, und ich sage dir, wie braun du bist.

 

Was für ein Skandal!

Die von ihren Studenten vergötterte Professorin für Postcolonial Studies ist entlarvt.

Saraswati, aus Indien stammende Person of Colour, ist nicht, was sie zu sein vorgibt.

Ihre Identität ist geklaut, ist erstunken und erlogen – denn sie ist weiß!

 

Nivedita ist voller Vorfreude auf ihren Masterstudiengang in Düsseldorf. Die sagenumwobene Saraswati wird eine ihrer Professorinnen, jene Inderin, die den ganzen universitären Betrieb mit ihren Methoden auf den Kopf stellt. Ihr Charisma, Ihre Eloquenz und Stärke beeindrucken Nivedita, die, selbst halb indisch und polnisch, endlich ein Rolemodel gefunden zu haben scheint, nach dem sie sich so lange sehnte.

 

Doch dann kommt die Wahrheit ans Tageslicht und Niveditas Welt zerbricht. Desillusioniert versucht sie Antworten zu finden und begibt sich zu ihrer einstigen Professorin, um sie zu stellen. Doch statt Antworten zu finden, prasseln nur noch mehr Fragen auf sie ein, Fragen, die ihr den Kopf verdrehen, Fragen nach Identität und Selbstbestimmung. Denn was ist eigentlich Identität? Und wer oder was bestimmt sie?

 

Über kaum einen anderen Roman wurde dieses Jahr so viel geredet und geschrieben, kaum ein anderer Roman wurde so überschwänglich gelobt und teilweise hart kritisiert wie „Identitti“. Obwohl ich solchen meist schnelllebigen Hypes skeptisch gegenüberstehe, hat mich die fabelhafte Lesung Mithu Sanyals in Freiburg doch dazu gebracht, das Buch zur Hand zu nehmen…welch ein Glück!

 

Denn der Roman ist in der Tat großartig und kreist um die Fragen unserer Zeit. Allen voran handelt er von Identitäten, selbstgewählten und aufoktroyierten, von Gruppen, zu denen der Beitritt erlaubt oder verweigert werden kann, vom Gefühl und Wunsch nach Zugehörigkeit und vom Ausgestoßensein.

 

Er handelt von Rassismus und Kulturalismus, deren Wurzeln tiefer als bis zum Kolonialismus reichen, handelt von kultureller Aneignung und zersetzenden Machtstrukturen, die immer mehr aufweichen, vom Spagat zwischen liberalem Weltbild und Denk- und Meinungsverboten, die dieses trotz allem begleiten. Er handelt von Cancel Culture im Zuge überbordender Political Correctness, von der ausufernden Empörung, die in Zeiten von Social Media, wo Hate Speech und Shitstorms toben, zur Hexenjagd verkommt, von Sex und Gender, Rollen und Zuweisungen, von der Gesellschaft und ihrem Miteinander und das alles auf so spielend leichtem Wege, das man ungemein amüsiert und unterhalten wird, während einem der Kopf von all den Fragen schwirrt.

 

„Identitti“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und hat mehrere Auszeichnungen gewonnen. Erschienen ist der Roman in Hanser Literaturverlage und verdient eine klare Leseempfehlung.

 

 

 

Mithu Sanyal: Identitti

Roman

Hardcover, 432 Seiten

Hanser Verlag, München 2021

 

...liest gerade "Mr. Lincoln & Mr. Thoreau" von Sebastian Guhr

Zwei Männer - zwei Kontrahenten.

Der eine verlangt nach gesellschaftlichen Regeln, ficht für staatliche Gesetze und nimmt die Gemeinschaft in den Blick.

Der andere flieht die Gesellschaft, lehnt den Staat ab und besinnt sich auf sich selbst.

Zwei Wege – zwei Berühmtheiten – und ein Frage.

 

Abraham Lincoln ist Ende 20, mittel- und ruhelos, als er in einer weit entfernten Kanzlei anheuert. Nachdem er sich als Arbeiter, Landvermesser und Politiker versucht hat, verbeißt er sich in Paragraphen. Planlos scheint er durchs Leben zu irren, ohne rechten Halt, bis er schließlich einer Depression verfällt. Erst der Aufsatz eines scheinbar Verrückten entfacht das Feuer, das ihn letztlich bis ins Weiße Haus voran peitschen wird.

 

Thoreau gilt in seiner Stadt schon lange als entrückt, aber als er eine Hütte im Wald baut, um dort in Einsamkeit und völliger Freiheit zu leben, gilt er als geisteskrank. Er will aus der Gesellschaft aussteigen, lehnt den Staat ab und wird schließlich von diesem verfolgt und eingekerkert. Als seine Familie ihn freikauft, lehnt er sich gegen den Obrigkeitsstaats auf und verfasst seinen berühmten Aufsatz „Über die Pflicht zum Ungehorsam“.

 

Lincoln und Thoreau, zwei Gegenwichte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Durch sie prallen zwei Lebensauffassungen aneinander, die sich diametral und unversöhnlich gegenüberstehen. Und doch eint beide die Suche nach Sinn und einem Platz im Leben.

 

Sebastian Guhr, der Gewinner des Blogbuster Preises 2018, hat mit seinem zweiten Roman einen wirklich großen Wurf gelandet, der nicht nur verborgene Seiten der beiden Berühmtheiten ins Scheinwerferlicht stellt, sondern auch Fragen zu unserer Lebensweise aufwirft. Denn was ist beim Lebensentwurf des Menschen höher zu bewerten? Die individuelle Freiheit oder der Gemeinschaftssinn? Steht über allem das Recht auf die freie Entfaltung, auf absoluten Individualismus? Oder liegt der Zweck des Menschseins im Miteinander, in der Gemeinschaft, in einem Kollektiv, für das der Einzelne Opfer zu bringen hat?

 

„Mr. Lincoln und Mr. Thoreau“ ist für mich die Überraschung des Jahres und wirklich ein Lesehighlight, das nicht nur auf sehr kluge Weise unterhält, sondern auch die heutige Zeit spiegelt und reflektiert.

 

 

 

Sebastian Guhr: Mr. Lincoln und Mr. Thoreau

Roman

Hardcover, 192 Seiten

S. Marix Verlag, Wiesbaden 2021

 

...hört gerade Felicitas Hoppe zu

Jeder kennt die Sage der Nibelungen und keiner kennt sie richtig.

 

Zum Abschluss der Freiburger Literaturtage beehrte die Georg-Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe das Literaturhaus und stellte ihren Roman "Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm" vor.

 

Der so oft adaptierte und stets als Nationalepos stilisierte Stoff wird in ihrem Roman als Theaterstück in Worms dargestellt, vorgebracht von einem unbeteiligten Erzähler. Allerdings verwischen in der Geschichte die Ebenen und fließen ineinander über, sodass man sich als Leser zu Beginn eines Satzes noch in Worms befinden kann, am Ende desselben jedoch in der mythologischen Zeit der Nibelungen.

 

Diskutiert wurde viel über den "homo ludens", über die Rolle der Literatur im Gegensatz zum Aktivismus, über Rollenbegriffe und natürlich über Hagen, Siegfried, Kriemhild und Brunhild.

 

Die Nibelungen - ein ganz besonderer Stoff und wie es scheint, auch ein ganz besonderer Roman, in dem Altes auf Neues trifft, Ernst auf Klamauk und Irritation auf Unterhaltung.

 

Und wieder steht ein neuer Roman auf meiner gen Himmel wachsenden Leseliste. Aber gerade deswegen war es ein wunderbarer Abschluss einer ganz besonderen viertägigen Veranstaltungsreihe.

 

 

 

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...hört gerade Angelika Klüssendorf zu

 Manche feiern Karneval, andere die Literatur.

 

Vom 11.11 bis zum 14.11. lädt das Literaturhaus Freiburg zu zahlreichen Lesungen im Rahmen der Freiburger Literaturtage.

 

Gestern Vormittag gab Angelika Klüssendorf einen Einblick in ihren neuen Roman "Vierdreißigster September", einen Dorfroman, der mit einem brutalen Mord beginnt. Totzdem - oder vielleicht gerade deswegen - sei es aber nach Ansicht der Autorin "ihr fröhlichstes, lustigstes und hellstes Buch". Schwarzer Humor at its best und ein neuer Titel für meinen Stapel der noch zu lesenden Bücher.

 

Es folgte Yevgeniy Breyger, der seinen mit Tiermetaphern gespickten und oft durch den Blick eines Kindes erzählten Gedichtband "Gestohlene Luft" vorstellte sowie Thomas Geiger und Hans Jürgen Balmes, der deutsche Lektor des ungarischen Schriftstellers László Krasznahorkai, die gemeinsam aus dessen neuen Roman "Herrscht 07769" lasen, eine 416 Seiten starke Erzählung, die aus nur einem Satz besteht.

 

Leider konnte der Großmeister wegen der Pandemie nicht persönlich kommen, aber immerhin gab es interessante Einblicke hinter die Kulissen des immer wieder als nächsten Nobelpreisträger gehandelten Schriftstellers. Besonders die handschriftlichen Manuskriptseiten, die Hans Jürgen Balmes mitgebracht hatte, zeigten auf eindrucksvolle Weise den Schaffensprozess des Ungarn.

 

 

 

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...liest gerade "Das perfekte Grau" von Salih Jamal

Tecum sunt quae fugis.

Das müssen auch Dante, Mimi, Novelle und Rufus einsehen.

Doch als sie sich öffnen, gewinnen sie mehr, als sie je zu träumen wagten.

 

Es ist Dantes zweite Saison in dem Hotel am Meer. Immer noch träumt er von dem Sprung, der ihn von der Last des Lebens befreit hätte, aber doch nicht wagte. Sieben Jahre sind seitdem vergangen, sieben Jahre, in denen er umherirrte und schließlich an den Strand dieses Hotels gespült wurde.

 

Des Lebens Wogen trugen auch Mimi, Novelle und Rufus an ebendiesen Strand, in ebendieses Hotel. Mit einem gemeinsamen Ausflug auf die nahgelegene Robbeninsel wird jedoch plötzlich ein neues Kapitel in ihrer aller Geschichten aufgeschlagen. Denn als sie zurückkehren und Polizisten erspähen, die vor dem Hotel jemanden zu suchen scheinen, begeben sie sich auf eine Reise, die ihr Leben verändern wird.

 

Mit „Das perfekte Grau“ hat Salih Jamal einen sehr poetischen, einfühlsamen und durchaus wahren Roman geschrieben, einen Roadtrip, der die Zerbrechlichkeit des Lebens gefühlvoll vor Augen führt. So unterschiedlich die Charaktere auch sein mögen, so vereint sie doch die Flucht. Die Flucht vor der Vergangenheit, die Flucht vor sich selbst und den inneren Dämonen, aber auch die ewige Suche nach Sinn, die Suche nach Heimat, Akzeptanz und vor allem: die Suche nach sich selbst.

 

Und genau darum kreist der Roman, in dessen Inneren schließlich die Freundschaft aufblitzt. In zarten Tönen wird die ständige Reise in diesem Leben zum Erklingen gebracht, jene Reise, an deren Ende man hofft, sich selbst zu finden und endlich diese ewige Leere im Herzen zu füllen. Es geht um die Lust zu fliegen und die gleichzeitige Angst zu fallen, aber auch um die Vergangenheit, jene Geschichte, die sich tief in die Seele eingeschrieben hat und die man nicht einfach wie eine Schneeflocke von sich abschütteln kann.

 

In vielen Buchblogs mit Begeisterungstürmen gefeiert, mochte ich den Roman trotz vereinzelt zäher Stellen ebenfalls sehr gern. Besonders die poetische Erzählweise sticht aus dem sonst so oft in Werkstätten geschulten Einheitsredefluss heraus.

 

„Das perfekte Grau“ ist ein wunderbarer Roman, besonders für alle, die Herrendorfs „Tschick“ lieben.

 

 

 

Salih Jamal: Das perfekte Grau

Roman

Hardcover, 240 Seiten

Septime Verlag, Wien 2021

 

...hört gerade Mithu Sanyal zu

Statt Halloweenparty gab es gestern eine ganz besondere Lesung.

 

Im Literaturhaus Freiburg stellte Mithu Sanyal ihren in diesem Jahr heiß diskutierten Roman "Identitti" vor, in dem eine berühmte Professorin für Postcolonial Studies, die sich selbst als Person of Color bezeichnet und jegliche Diskussionen über Identität(en) dominiert, als weiß enttarnt wird.

 

Zusammen mit Oliwia Hälterlein und Hanna Hovtvian sprach die Autorin und Kulturwissenschaftlerin über die indische Göttin Kali als Rolemodel aller Feminist*innen, über Gender, Sex, Race und besonders über Cultural Appropriation, also die Aneignung einer fremden Kultur.

 

Mit viel Humor setzt sich der Roman mit genau diesen Themen auseinander und ist wahrscheinlich eines der interessantesten und witzigsten Bücher über die erhitzte Debattenkultur unserer Tage. Ein Roman, der unserer Gegenwart den Spiegel vorhält und es deswegen nicht nur auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gebracht hat, sondern nun auch - trotz aller zuvor gehegten Bedenken gegen den Hype - auf meinen SUB.

 

Das lag nicht so sehr an den Themen als an dem sehr unterhaltsamen Abend, bei dem das Publikum und auch ich geradezu an den Lippen von Mithu Sanyal hingen, die auf wunderbare Weise Fakten und Fiktion, Geschichte(n) und Wissenschaft(en) miteinander verwebt.

 

 

 

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...liest gerade "Das Paradies meines Nachbarn" von Nava Ebrahimi

Drei Männer, ein Name.

Der erste wohnt im Iran und lebt von den Ersparnissen seiner toten Pflegemutter.

Der zweite lebt in München und befindet sich mitten in der Midlife Crisis.

Der letzte floh als Kind vor dem Krieg und ist nun erfolgreicher Designer.

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und beanspruchen doch dieselbe Identität.

 

Ali Najjar ist ein Macher. Er hat die Schrecken des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak als Kindersoldat überlebt, ist durch vermintes Gebiet gestolpert, getrieben von der Armee, die ihn dazu antrieb, als Märtyrer zu sterben. Während um ihn herum Freunde zerfetzt wurden, entkam er nur durch Handlungsschnelle dem Giftgas Saddam Husseins und floh über die Türkei nach Deutschland.

 

Als er sich mit 14 in einem Kofferraum versteckte und sich aus Angst um sein Leben einnässte, schwur er sich, nie wieder Opfer zu sein, nie wieder Schwäche zu zeigen. Die prägenden Kriegs- und Fluchterlebnisse bilden seinen Antrieb, der ihn in Deutschland als Designer ganz nach oben brachte. Die Medien reißen sich um ihn wegen seiner Geschichte und seines Aufstiegs. Ali Najjar scheint unverwüstlich.

 

Es ist ein Brief, der plötzlich die Betonmauer sprengt, die er um sich herum gezogen hat. Ein Brief, der ihn in Aufregung und Angst versetzt. Auf einmal bestürmen ihn Schuldgefühle, seine Fassade bröckelt, bricht und reißt. Der Brief stammt von seiner Mutter, die vor einem Jahr verstorben ist und ihn nun an die wahre Geschichte seines Lebens erinnert. Eine Geschichte, die ein anderer für ihn erleben musste.

 

Verschlungen erzählt Nava Ebrahimi über Krieg, Flucht und Ankommen in einer fremden Welt. Schonungslos wird der Krieg zwischen Iran und dem Irak in den 1980er Jahren dargestellt, die Schrecken und Gräueltaten, der Chemiewaffeneinsatz des Iraks, gefördert durch westliche Staaten, die an Chemikalien und Waffen fürstlich verdienten. Rücksichtlos wird von den Kindersoldaten des Irans berichtet, die in der Schule indoktriniert wurden, als Märtyrer auf den Schlachtfeldern zu sterben und deswegen als menschliche Minenräumer herhalten mussten.

 

Die in Teheran geborene Schriftstellerin breitet vor dem Leser ein aufwühlendes Verwirrspiel aus, denn die Leben der drei Männer verzahnen sich zusehends, greifen ineinander und aufeinander über. Zugleich versetzt die Geschichte dem Leser einen Faustschlag in den Magen, der sich zusammenzieht und verkrampft. Und doch liest man rastlos weiter und möchte nur eines wissen: Wer verdammt nochmal ist Ali Najjar?

 

Nava Ebrahimi hat mit ihrem Text "Der Cousin" den diesjährigen Bachmann Preis gewonnen. "Das Paradies meines Nachbarn" erschien letztes Jahr im btb Verlag und ist für mich ein absolutes Highlight dieses Jahres!

 

 

 

Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn

Roman

Hardcover, 224 Seiten

btb Verlag, München 202o

 

 

...hört gerade Peter Stamm zu

Wow! Eine Lesung! So richtig oldschool, so richtig mit Publikum und einem Schriftsteller in 3D.

 

Ich habe zwar versucht, alle Zuhörer um mich herum per Rechtsklick stummzuschalten, wenn sie husteten oder nach Taschentüchern suchten, hat aber in dieser so unbekannten analogen Realtität nicht so richtig funktioniert. Es war dennoch eine großartige Erfahrung.

 

Diese Woche war nämlich Peter Stamm zu Gast in Freiburg. Der renommierte Schriftsteller, dessen Romane bislang in 39 (!) Sprachen übersetzt worden sind, stellte in der Buchhandlung Rombach seinen Neuling "Das Archiv der Gefühle" vor.

 

"Der Meister der Auslassungskunst" (nach Dennis Scheck) geht darin einer unerfüllten Liebe nach, die das Leben des namenlosen Erzählers von den 70er Jahren bis hinein in unsere Zeit prägt. Wie in seinen anderen Romanen verschwindet der Erzähler Stück für Stück hinter seinen Gedanken, geht auf in seinen Tagträumen und wird zunehmend unsichtbar. Beim Versuch, die Erinnerungen an seine erste Liebe zu archivieren, verschmelzen Realität und Einbildung, Erinnerung und Phantasie. Sie werden zu Geschichten, die er sich selbst erzählt.

 

Die Sehnsucht nach Liebe, ja geradezu die unerfüllte Liebe sowie das Spannungsverhältnis von erträumter und wirklicher Welt - es sind die großen Themen der Literatur, die Stamm hier aufwirft und in seiner ganz eigenen Prosa durchspielt.

 

Was für ein wunderbarer Auftakt in die kalte Jahreszeit, in der wieder Lesungen stattfinden...

 

Lesungen, Leute, LE-SUNG-EN !

 

 

 

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...schlendert gerade durch die Livraria Ler Devagar

 

Einfach nur eine geile Buchhandlung in Lissabon.

 

Die Livraria Ler Devagar, zu Deutsch: Langsam lesen, befindet sich in einer ehemaligen Druckerei im Kulturzentrum Alcântara.

 

Andächtig, gar ehrfürchtig schreitet der Besucher durch die Geschäftsräume, in denen sich die Bücher vom Boden bis an die Decke stapeln. Schulter an Schulter stehen sie in den Regalen, flüstern sich tausende Geschichten zu, tausende mögliche Welten mit abertausenden möglichen Leben.

 

Ehrfürchtig bleibt der Betrachter vor ihnen stehen, wird klein im Angesicht dieses prall gefüllten Universums, das er niemals zur Gänze durchschreiten wird, ein Universum, von dem er zeit seines Lebens nur einen winzigen Ausschnitt erhaschen soll, egal in wie viele Geschichten er sich stürzt, egal in wie viele Welten er hinabtaucht, egal wie viele Protagonisten er auf seinen Wegen begleitet.

 

Literatur scheint das Firmament, das uns umgibt, und Bücher die Sterne, die uns scheinen, unzählbar, unendlich, ewig. Hoffnungsfrohe Lichter in der Dunkelheit der Nacht, ohne die das Leben düster und leer wäre.

...liest gerade "Kleine Paläste" von Andreas Moster

Es ist ein berauschendes Fest.

Carl ist wie immer der Mittelpunkt aller Gäste und neidisch richten sich die Blicke auf ihn und seine Familie, die so gut zu harmonieren scheint.

Es soll ein Neuanfang werden.

Es wird eine Katastrophe.

 

Fast 32 Jahre später sehen sie sich auf dem Begräbnis seiner Mutter wieder. Hanno hat sie nie vergessen, Susanne, seine erste Liebe. Als Kinder waren sie unzertrennlich, als Jugendliche dann der erste Kuss auf dem Fest seiner Eltern. Hanno verliebte sich unsterblich in sie, doch am nächsten Tag stachen ihm nur ausdruckslose Augen entgegen. Entmutigt verschwindet Hanno kurz darauf für beinahe 30 Jahre und kehrt erst heim, als die Mutter stirbt.

 

Sein einst so strahlender Vater Carl ist inzwischen an Alzheimer erkrankt. Seine Welt und er selbst verschwinden unter einem Schleier, der nie mehr gelüftet werden soll. Nun liegt es an Hanno, sich um ihn zu kümmern, und erstaunlicherweise kriecht Susanne aus ihrem Kinderzimmer im Nachbarhaus hervor, das sie nach dem Selbstmord des Vaters und dem Tod der Mutter immer noch bewohnt.

 

In elliptischen Bahnen nähern sich Hanno und Susanne an, rotieren um Carl, der sie wie ein Atomkern miteinander verbindet. Ihre Lebensenttäuschungen reichen weit zurück, zurück zu jenem Tag, als Hannos Familie das prunkvolle Fest gab und etwas geschah, das niemals hätte geschehen dürfen.

 

Andreas Moster hat eine verschlungene Familiengeschichte erzählt, deren Stricke klug inszeniert und miteinander verflochten sind. Mit sezierendem Blick stellt er die familiären Banden dar, denen man sich nicht entziehen kann, vor denen man nicht flüchten kann, die einen bis zum Tode binden und womöglich noch darüber hinaus halten. Familien werden als kleine Paläste dargestellt, die man unter größten Schwierigkeiten erbaut und instand hält, die nach außen strahlen und in deren Schein man sich einrichtet, die allerdings durch ein wenig Wahrheit und Aufrichtigkeit zerbersten würden.

 

Durch bildhafte Vergleiche und wiederkehrende Perspektivwechsel entfädelt sich die Geschichte vor den Augen des Lesers, der durch familiäre Abgründe und Lebenslügen gerissen wird, bis er zum Innersten gelangt, auf das er verschämt und erschrocken blickt.

 

„Kleine Paläste“ ist poetisch und melancholisch, schrecklich und zugleich zutiefst menschlich.

 

 

Vielen Dank an den Arche Verlag für das Rezensionsexemplar!

 

Andreas Moster: Kleine Paläste

Roman

Hardcover, 304 Seiten

Arche Verlag, Zürich Hamburg 2021

...liest gerade "Ich bleibe hier" von Marco Balzano

Es ist der Brief einer Mutter an die Tochter.

Ein Brief über die Schrecken des letzten Jahrhunderts, über die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten.

Ein Brief über den Zweiten Weltkrieg und den Untergang eines ganzen Dorfes.

Es ist ein Brief, der niemals ankommen wird.

 

Trina wohnt in Graun, ein idyllisches Dorf in Südtirol an der Grenze zu Österreich und der Schweiz. Das Leben ist einfach, aber unbeschwert. Doch mit dem Einmarsch von Mussolinis Schwarzhemden 1923 beginnt eine Odyssee, die im wahrsten Sinne des Wortes im Untergang endet.

 

Die deutsche Sprache wird verboten, die Deutschsprechenden unterdrückt. Immer mehr italienische Siedler strömen in die Region und übernehmen wichtige Funktionen und Ämter. Es geht ein Riss durch die Gesellschaft, der nicht mehr zu kitten ist. Viele Einwohner setzen deswegen ihre Hoffnung auf Hitler. Doch dadurch verästelt sich der Riss in der Gesellschaft nur noch mehr und sprengt neue Gräben, denn nicht alle sind so euphorisch ob des neuen Führers.

 

Es ist aber nicht nur die Weltpolitik, die das Dorf in Atem hält. Es ist auch das verhasste Projekt Mussolinis, an dem die Jahrzehnte hindurch immer weiter gearbeitet wird. Ein Staudamm soll vor den Häusern Grauns entstehen. Ein Staudamm, der Energie liefern soll. Ein Staudamm allerdings, der das Ende Grauns besiegeln würde.

 

Marco Balzano hat mit "Ich bleibe hier" einen beeindruckenden Roman über Südtirol geschrieben, dessen Geschichte die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert widerspiegelt.

 

Geschildert wird besonders die Zerrissenheit von Einwohnern, die zwischen den Grenzen stehen, keiner Nation zugehören, kein Land ihr eigen nennen, Menschen, deren Kultur unterdrückt und ausgelöscht werden soll, die seit Jahrhunderten das Land kultivierten und nun Fremde sind, Minderheiten in Nationalstaaten, gezwungen sich anzupassen oder zu fliehen.

 

Der nüchterne, klare und einfache Stil des Briefes stellt die Geschichte umso größer heraus, eine Geschichte, die von Unterdrückung und Widerstand handelt, von Mut, Willenskraft und Trotz, von Heimat, Verlust und Vergänglichkeit, die letztendlich alles mit sich reißt.

 

Graun, das Dorf am Dreiländereck existierte wirklich und ist nunmehr Touristenattraktion. Zu Füßen des wiederauferbauten Grauns liegt das alte Dorf mitten in einem Stausee, aus dem nur noch der Kirchturm herausragt, als Mahnung der Nachwelt, als Belustigung von Touristen.

 

Mit seinem Roman hat Balzano der Stadt, der Region und damit den einstigen Minderheiten in den Nationalstaaten ein Denkmal gesetzt.

 

 

 

Marco Balzano: Ich bleibe hier

Roman, aus dem Italienischen von Maja Pflug

Hardcover, 288 Seiten

Diogenes Verlag, Zürich 2020

...liest gerade "Unterleuten" von Juli Zeh.

Unterleuten, ein Dorf in Brandenburg, fern ab von der großen Politik und jeglichem Medieninteresse. Ein Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, in dem Stress, Hektik und Konflikte wie Fremdwörter aus Großstädten anmuten. Ein Dorf, das unberührte Natur bietet und gar junge Leute aus Berlin anzieht, die auf dem Land endlich die Ruhe zu finden hoffen, die die lärmende Stadt ihnen nicht mehr bieten kann.

Unterleuten, ein Idyll, in dem es unter der pittoresken Fassade gärt und schließlich zum Äußersten kommt.

 

Als der Bau eines Windparks im Raum steht, bröckelt die Fassade und unter den Rissen schimmert der wahre Charakter des Dorfes hervor. Dieses pflegt nämlich seine ganz eigenen Gesetze. Die Bewohner sind durch gegenseitige Gefälligkeiten miteinander verbandelt, so dass ein undurchschaubares Geflecht von Beziehungen das Dorf durchzieht, bestehend aus Schuld und Scham, zersetzt durch Klatsch und Tratsch. Komplotte werden geschmiedet, falsche Spiele gespielt, arglistige Fährten gelegt und innere Angelegenheiten ohne die Polizei geregelt. Und so ist es kein Wunder, dass die Seilschaften innerhalb des Dorfes als wichtigstes Standbein gelten. Als der Streit um den Windpark schließlich eskaliert, werden verborgene Leichen zutage gefördert, die das Dorf umwälzen.

 

Nachdem alle den Roman bereits gelesen haben, habe auch ich ihn mir endlich zur Brust genommen. Und was soll man noch dazu sagen?

 

"Unterleuten" ist der wohl bekannteste und erfolgreichste Roman Juli Zehs. Letztes Jahr konnte man die Verfilmung bestaunen, dieses Jahr erschien bereits mit "Über Menschen" ein ähnlich gestrickter inoffizieller Nachfolger.

 

Die Geschehnisse rund um das fiktive Dorf sind unterhaltsam erzählt. Einzelschicksale werden ineinander verflochten, Begebenheiten nach und nach miteinander verzahnt und Eigeninteressen gegeneinander ausgespielt. Durchleuchtet wird das Dorfleben, in dem jeder Einwohner sein Fett wegbekommt. Alteingesessene, die sich gegen alles Neue zur Wehr setzen, die vordergründig freundlich erscheinen und im Keller ihre Leichen stapeln, genauso wie Dazugezogene, die das Landleben nicht kennen, völlig blauäugig und naiv von der Stadt aufs Dorf ziehen und eine Idylle suchen, die nur als Utopie großstädtischer Ruhesuchender besteht.

 

Es ist aber auch die Geschichte Ostdeutschlands, dessen Firmen und Industrie, dessen Brach- und Landflächen nach der Wiedervereinigung aufgekauft wurden und somit Wendegewinner hervorbrachten, von denen die meisten aus dem Westen stammten.

 

Auch wenn ich das Ende übertrieben fand und sich der Epilog für mich gar nicht in die Erzählstruktur einfügte, empfand ich die Lektüre als sehr gute Unterhaltung, eine anschauliche und belustigende Darstellung von Menschen, die mit- und gegeneinander handeln, angetrieben durch unterschiedliche Eigenmotivationen und Ansichten. Nicht äußerst gehaltvoll, aber äußerst amüsant und unterhaltsam.

 

 

 

Juli Zeh: Unterleuten

Roman

Hardcover, 642 Seiten

Luchterhand Literaturverlag, München 2016

...liest gerade "2666" von Roberto Bolaño

Vier Gemanisten auf der Suche nach einem Schriftsteller.

Ein Journalist auf der Suche nach Freiheit und Liebe.

Mehrere Kommissare auf der Suche nach einem Massenmörder.

Und mittendrin der geheimnisvolle Schriftsteller Benno von Archimboldi, bei dem sich alle Wege zu kreuzen scheinen.

 

Hans Reiter, besser bekannt als Benno von Archimboldi, ist verschollen. Vier Germanisten aus Frankreich, Spanien, Italien und England begeben sich auf die Suche nach dem mysteriösen deutschen Schriftsteller, der mittlerweile sogar für den Nobelpreis gehandelt wird. Ihre Reise führt sie bis nach Mexiko, wo sie in Santa Teresa von einer Reihe von Frauenmorden erfahren.

 

Der amerikanische Journalist Quincy Williams fliegt ebenfalls nach Mexiko, um über einen Boxkampf in ebenjener Stadt zu berichten. Vor Ort lernt er die junge Rosa kennen, in die er sich verliebt. Nach einer durchzechten Nacht mit Gestalten aus der mexikanischen Halbwelt müssen sie jedoch fliehen. Sind sie vielleicht auf die Spur eines Massenmörders gestoßen?

 

Mehrere Kommissare und Polizisten gehen den endlosen Morden rund um die Stadt Santa Teresa nach. Es herrscht ein Klima der Gewalt und Angst vor. Oftmals entpuppen sich die Ehemänner als kaltblütige Mörder, bei vielen anderen Verbrechen erscheint jedoch ein Muster, das auf einen Massenmörder hinweist, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Ein Deutscher wird schließlich verhaftet und für die Morde schudig gesprochen. Doch was hat dieser Klaus Haas mit Benno von Archimboldi zu tun?

 

Wem diese hier nur kurz angedeuteten Verknüpfungen jetzt schon argwöhnisch und abstrus erscheinen, dem sei versichert: Die Geschichte ist in Wirklichkeit noch viel abstruser und in ihrer Gesamtheit kaum zu fassen.

 

Der große Roman des zu jung verstorbenen Roberto Bolaño ist ausufernd. Schon allein mit seinen knapp 1200 Seiten ist es ein Opus magnum. Mit viel Witz, Erzähllust und Fabulierwahn entwirft der chilenische Schriftsteller hier eine Geschichte, in der alles mit allem zusammenhägt, in der Ereignisse und Situationen sich gegenseitig bedingen und alles miteinander verflochten scheint. Die fünf Bücher des Romans, die nach dem letzten Willen Bolaños eigentlich einzeln erscheinen sollten, hängen allerdings nur lose miteinander zusammen und so sehen wir frei nach Brecht am Ende betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.

 

Fand ich den Anfang um die Germanisten noch großartig, besonders den feinsinnigen Witz, mit dem die Beziehung der Germanisten untereinander und das Universitätsleben im Allgemeinen beschrieben wird, und entflammte mein Herz geradezu vom Sujet, das vor allem um (deutsche) Literaturgeschichte kreist, flaute das Leseerlebnis bei der weiteren Lektüre jedoch rasch ab. Besonders der vierte Teil, der zugleich den ausuferndsten darstellt, eine Aneinanderreihung dutzender Frauenmorde oft im Stile trockener Polizeiberichte, wurde irgendwann so zäh und langweilig wie eine Vorlesung über den Büroalltag im öffentlichen Dienst.

 

Der so hochgelobte und gefeierte Roman von Bolaño konnte mich deswegen nur schwer begeistern. Allein der Beginn und das Ende vermochten mich mitzureißen, hunderte Seiten dazwischen wurden teilweise zu einer Qual. Auch wenn mit den Frauenmorden auf die Mordserie von Ciudad Juárez Anfang der 90er Jahre angespielt wird und dadurch ein realer Hintergrund existiert, bleibt für mich jedoch eine der größten Fragen, warum dieses eines der großen Werke der Weltliteratur sein soll.

 

"2666" erschien bereits 2004 im Original und 2009 als deutsche Übersetzung.

 

 

 

Roberto Bolaño: 2666

Roman, aus dem Spanischen von Christian Hansen

Taschenbuch, 1200 Seiten

Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011

...liest gerade "Apeirogon" von Colum McCann

Auf den ersten Blick trennen sie Welten.

Rami ist Israeli, Jude und Jerusalemer.

Bassam ist Palästinenser, Muslim, Araber.

Und doch sind sie Freunde, unmögliche Freunde.

Denn sie vereint ein Schicksalsschlag, der ihr Leben verändert.

 

Smadar ist ein junges Mädchen, beinahe vierzehn, eine ausgezeichnete Schülerin, Schwimmerin und Tänzerin, die Klavier und Jazz liebt. 1997 spaziert sie mit Freundinnen durch die Straßen im Zentrum Jerusalems, hört Musik und will Schulbücher kaufen. Da sprengen sich plötzlich drei Selbstmordattentäter neben ihr in die Luft und reißen Smadar in den Tod.

 

Auch Abir ist ein junges Mädchen, gerade einmal zehn. 2007 verlässt sie in der Pause das Schulgelände, um wenige Straßen weiter Süßigkeiten zu kaufen. Als sie aus dem Geschäft tritt, fällt ein gezielter Schuss. Ein Gummigeschoss trifft sie am Kopf, abgefeuert durch einen israelischen Soldaten. Wenig später verstirbt sie im Krankenhaus.

 

Das erste Gefühl der Väter ist Rache. Hass schäumt auf, Vergeltungsdrang, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch würde das etwas ändern? Würde es den Schmerz lindern? Die Töchter gar zurückbringen?

 

Rami sucht nach Antworten und tritt argwöhnisch der Organisation "Parents Circle" bei, einem palästinensisch-israelischen Forum für Hinterbliebene. Als er jedoch in das Gesicht einer Palästinenserin blickt, ändert sich sein Leben mit einem Schlag. Denn er erkennt, dass Israelis und Palästinenser derselbe Schmerz über den Verlust ihrer Kinder eint, dieselben quälenden Fragen, dieselbe Sinnlosigkeit dieses ewigen Krieges.

 

Auch Bassam hat seinen Hass abgelegt und möchte etwas verändern. Trotz immerwährender Schikane und Vertreibung, trotz Folter und Haftstrafe, die er durch die Israelis durchleben musste, öffnete ihm ein Film über den Holocaust die Augen. Nun will auch er versöhnen. Zusammen ziehen die ungleichen Freunde durch das Land und erzählen eindrücklich von ihren Kindern, gelenkt von der Hoffnung, mit ihren Geschichten zu einer besseren Zukunft beizutragen, zu einer Aussöhnung zwischen den Geschwistern des Nahen Ostens.

 

Apeirogon ist eine Wucht! Ungewöhnlich mögen zunächst die kurzen Kapitel wirken, die meist aus wenigen Sätzen bestehen und immer neue Erzählfäden aufnehmen. Doch mit der Zeit verbinden sich die Fäden und weben ein einzigartiges Bild von der Geschichte und Gegenwart Palästinas und Israels.

 

Eindrücklich liest man über den gegenseitigen Hass, über Kriege und Verbrechen. Über Politiker und Gruppierungen, die von der stets befeuerten Gewalt und Eskalation profitieren.

 

Kritisch wird aber vor allem das Apartheidssystem Israels dargestellt, das selbst Rami und seine Frau kritisieren und sich damit den Zorn konservativer Juden einhandeln.

 

Eindringlich sind daher die Beschreibungen eines besetzten Landes, das durch illegalen Siedlungsbau immer weiter von der Landkarte verschwindet, eindringlich sind die Beschreibungen von willkürlichen Schikanen gegenüber den Palästinensern, von Armut, den unüberwindbaren Mauern eines Freiluftgefängnisses, den ständigen Checkpoints und willkürlichen Kontrollen, ja dem brutalen Vorgehen israelischer Soldaten selbst gegen Kinder.

 

Die Geschichte Israels ist ohne die Shoa und den Holocaust nicht zu verstehen. Die Geschichte Palästinas allerdings auch nicht ohne die Nakba und die völkerrechtswidrige Besatzung. Dieser Tage überschlagen sich erneut die Ereignisse im Nahen Osten und es sterben wieder Menschen auf beiden Seiten, Kinder wie Smadar und Abir.

Im Roman gibt es dazu einen eindringlichen Appell, sowohl von Bassam als auch von Rami, ein Appell, der als erster Schritt zu einem möglichen Frieden verstanden wird. Ein Schritt, der längst überfällig ist:

 

"Beendet die Besatzung!"

 

 

 

Colum McCann: Apeirogon

Roman, aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Hardcover, 608 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2020

...liest gerade "Frankenstein in Bagdad" von Ahmed Saadawi

Ein Monster geht um.

Es ist der Tod, der auf leisen Sohlen Verbrecher jagt.

Doch wer steckt hinter dem selbsternannten Rächer?

Das neu gegründete Amt für Beobachtung und Beurteilung nimmt die Ermittlungen auf - mit Hellsehern und Astrologen.

 

Im Bagdader Viertel Batawin kennt man sich. Und doch misstrauen sich die meisten Einwohner, denn zwei Jahre nach dem Einmarsch der US Streittruppen herrscht Bürgerkrieg. Selbstmordanschläge überschatten die Gegend, reißen Menschen in den Tod und Gebäude in den Abgrund. Angst und Misstrauen sind zum prägenden Gefühl einer ganzen Stadt geworden. Doch mittendrin ereignen sich plötzlich seltsame Vorfälle. Einst skrupellose Menschen verschwinden und werden tot aufgefunden.

 

Der Trödelhändler Hadi erzählt eine Geschichte, die aufhorchen lässt, eine Geschichte über aufgelesene Leichenteile, die er zu einem vollständigen Körper zusammengesetzt haben will. Und wie Gott will, sei dieser Körper nun verschwunden. Ist sein Monster also tatsächlich lebendig geworden? Ist es wirklich verantwortlich für die neuste Mordserie? Oder treibt jemand anderes hinter dem Deckmantel des Mythos sein Unwesen?

 

In einem klug inszenierten und stark selbstreferentiellen Roman wird über das Bagdad von 2005 erzählt. Selbstmordanschläge gehören nach dem Einmarsch der US Truppen ebenso zum Alltag wie die Abneigung gegen die Amerikaner, die niemandem über ihr Vorgehen Rechenschaft ablegen müssen. Der aufflammende Bürgerkrieg vertieft die Gräben zwischen Religionen, Ethnien und Kulturen und spielt sich vor den Toren der neu zu ordnenden Politik ab, denn die Macht im Land wird neu verteilt, neue Ämter entstehen, neue Posten werden geschaffen und neue Zuständigkeiten vergeben. Und das weckt Begehrlichkeiten.

 

Die Erzählung schenkt einen tiefen Einblick in das Alltagsleben eines von Diktatur und Krieg gebeutelten Landes, das immer schon verschiedene Religionen, Ethnien und Kulturen beheimatete. Ein Leben, das nunmehr von Angst und Misstrauen kontrolliert wird. Es ist die Geschichte über einen niemals endenen Kreislauf, in dem Morde neue Morde nach sich ziehen, Täter zu Opfer werden und Opfer zu Tätern, es ist die Geschichte einer endlosen Gewaltspirale, in der vergossenes Blut immer wieder nach neuem Blut schreit und der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld verwischt.

 

Saadawis Roman hält der Bagdader Gesellschaft einen ebenso satirischen wie erschreckenden Spiegel vor, denn mit schwarzem Humor entsteht ein polyphones Bild des Iraks, geradezu eine Parabel auf die Missstände der Gesellschaft, eine Parabel, die oft schmunzeln und im nächsten Moment erschaudernd zusammenzucken lässt.

 

2014 mit dem International Prize for Arabic Fiction ausgezeichnet und 2018 für den Man Booker International Prize nominiert, erschien die deutsche Übersetzung 2019 im Assoziation A Verlag und ist absolut lesenswert.

 

 

 

Ahmed Saadawi: Frankenstein in Bagdad

Roman

Hardcover, 296 Seiten

Assoziation A, Berlin 2019

...liest gerade "Die Unschärfe der Welt" von Iris Wolff

Ein junges Ehepaar, das in ein abgelegenes Dorf zieht.

Zwei Fremde, die ein Geheimnis bergen.

Und eine Geschichte, die poetisch durch die Jahrzehnte fliegt.

 

Hannes, der gerne Fußball und Gitarre spielt, hat eine Pastorenstelle angenommen. Allerdings liegt das Dorf im Banat, einer Region zwischen Serbien, Rumänien und Ungarn, in die es nur wenige Menschen verschlägt. Zusammen mit seiner schwangeren Frau zieht er in das abgelegene Dorf. Die beiden Eheleute leben bescheiden, sind gutmütig und gastfreundlich, und führen in den engen Grenzen der Diktatur Ceaușescus ein gutes Leben.

 

Eines Tage erscheinen jedoch zwei fremde Männer, zwei Wanderer, denen sie Beherbergung gewähren. Es sind zwei nette junge Männer, höflich und interessiert. Doch sie tragen ein Geheimnis, das in der Diktatur Ceaușescus nur schwer zu ertragen ist und das die junge Familie auf die Probe stellt.

 

Diese Situation bildet den Auftakt einer deutsch-rumänischen Familiegeschichte, die über vier Generationen sowohl nach vorne als auch zurück erzählt wird. Im Mittelpunkt steht das Banat, eine multiethnische Region, in der früher vorwiegend Deutschstämmige siedelten und sich schon bald die Frage nach Heimat und Identität stellt: "Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?"

 

Aus sieben unterschiedlichen Perspektiven fügt sich während der Lektüre ein buntes Mosaik des letzten Jahrhunderts zusammen. Von König Michael und den Wirren des Zweiten Weltkriegs, über die schreckliche Diktatur unter Ceaușescu und seiner Securitate bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. Jegliche Protagonisten haben wie die Zeit, in der sie leben, Brüche erfahren, jeder wurde auf seine Weise durch die Umstände geprägt. Doch alle eint das eine Gefühl, das ihnen im Herzen brennt: eine Sehnsucht, die sich auf etwas richtet, was unerreichbar erscheint.

 

„Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen“.

Mit solch poetischen Sätzen lädt uns Wolff ein, auf ihrer melodischen und leichten Sprache die kurze, aber desto intensivere Geschichte zu durchfliegen. So leise, aber kraftvoll schreibt Wolff über vier Generationen einer Familie, über ihre Wünsche, Ängste und Erinnerungen, über Diktatur und Flucht, dass man wahrlich mitgerissen wird.

 

Ein bemerkenswerter Roman!

 

 

 

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Roman

Hardcover, 216 Seiten

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020

Rückblick Frühjahr 2021

Auch wenn es hier zu Beginn des Jahres ziemlich still war, so habe ich doch einiges gelesen. Dabei gab es Licht und Schatten.

 

In der nächsten Zeit gibt es ein paar kurze Einblicke in meine Lektüreerfahrungen.

 

Ahmed Saadawi, Frankenstein in Bagdad

Deniz Ohde, Streulicht

Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt

Juli Zeh, Unterleuten

Roberto Bolano, 2666

Andrea Levy, Eine englische Art von Glück

Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag

BIS ZUM LETZTEN MANN feat. #syrienhilfe

10 Jahre Arabischer Frühling.

10 Jahre Krieg in Syrien.

10 Jahre Versagen der Internationalen Staatengemeinschaft.

 

2011 war die endlose Gewaltspirale noch nicht abzusehen, die sich auch in anderen Ländern vollziehen sollte, erinnert sei nur an den Jemen. Doch damals versuchte ich Worte für die maßlose Verblendung von Diktatoren zu finden, die ihr eigenes Volk töteten, hinrichteten, ausradierten, nur um sich weiterhin an die Macht zu klammern.

 

Doch welche Worte sollte man für diese Ereignisse wählen?

Welche Worte waren dafür angemessen?

Wo sollte man sie suchen? Wo finden?

 

Ich fand sie schließlich nur in Sarkasmus und Satire.

 

Und so entstand vor 10 Jahren ein recht avantgardistisches, auf jeden Fall ziemlich verrücktes Lesedrama, das in Inhalt und Form die Willkür der Macht karikieren sollte.

Als Erinnerung an das unvorstellbare Leid der Syrer aber auch so vieler anderer von Diktatur und Krieg gebeutelten Menschen erscheint nun die Neuauflage. Erhältlich sowohl als Taschenbuch als auch - 4 Wochen lang sogar für nur 0,99 € (!) - als Ebook. Bislang bei BOD, bald überall.

 

Damit ihr aber nicht mir das Geld in den Rachen werft, sollen mit dem Kauf des Buches die Schwächsten dieses Krieges unterstützt werden. Deshalb geht der gesamte Erlös zu 100% an die Kampagne "Unterstützung von Waisenkindern" des von syrischen Studierenden ins Leben gerufenen Molhamteams.

 

Mehr zu der Kampagne und der so wichtigen humanitären Organisation findet ihr hier.

 

Wenn euch das Buch also nur Kopfschütteln abfordert und ihr nur Bahnhof versteht, vollbringt ihr mit dem Kauf immerhin eine gute Tat. Auch die verlosten Exemplare - Gewinner sind kontaktiert, guckt in euren Messenger Spam - tragen einen kleinen Teil zur Finanzierung der Kampagne bei.

 

Also kauft und spendet zugleich. Hier findet ihr das Buch.

 

BIS ZUM LETZTEN MANN

In Gedenken an die Opfer des Krieges!

BIS ZUM LETZTEN MANN

Heute ist der 17.03.2021.

Genau zehn Jahre ist es her, da flutete der Arabische Frühling die Erde wie der Nil seine Ufer, und aus dem starren Lehmboden spross plötzlich Leben hervor, das wuchs und gedieh und trug unerwartete Knospen und Blüten zur Schau.

 

Am 17.03.2011 waren die Langzeitdiktatoren Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten bereits innerhalb weniger Wochen gestürzt und abgesetzt, Gaddafi sollte in Libyen bald ähnliches Schicksal ereilen. Hoffnung lag in der Luft, strömte vom Maghreb zum Maschrek und zurück, Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte.

 

Doch am 17.03.2011 geschah auch etwas anderes, etwas, was zur Katastrophe des vergangenen Jahrzehnts führen sollte. An diesem Tage, genau heute vor zehn Jahren, protestierten Menschen in der Stadt Darʿā in Syrien, wo kurze Zeit zuvor zwei Kinder inhaftiert und gefoltert worden waren, Kinder, die ein Graffiti mit der Forderung nach Assads Rücktritt an eine Häuserwand gesprüht hatten. Die Regierungsmacht ging brutal gegen die Demonstrierenden vor und schoss in die Menge. Fünf Menschen starben. Es sollten die ersten offiziellen Toten in einem Konflikt sein, der bis heute andauert und Hundertausende Menschenleben forderte sowie Millionen Vertriebener nach sich zog.

 

Der 17.03.2011 wird als der Beginn eines Krieges angesehen, der nun in sein elftes Jahr geht, eines Krieges, bei dem die ganze Welt tatenlos zuschaute, wie der Bürgerkrieg eskalierte, wie zahllose Länder sich einmischten, Waffen und Söldner schickten, wie die Fassbomben Assads auf Krankenhäuser, Schulen und Wohnungen niederregneten, wie Chemiewaffen eingesetzt wurden und der sogenannte IS wütete, wie Kurden gegen die Islamisten zunächst aufgerüstet und später fallen gelassen wurden, wie Vetomächte mit ihrer Stimme immer wieder Resolutionen zum Schutze der Zivilbevölkerung verhinderten und wie ein Diktator Stück für Stück mit Hilfe ausländischer Verbündeter das Land zurückeroberte. Und wahrscheinlich wird die Welt auch bald tatenlos zuschauen, wie "der Löwe" wieder mit Handschlag als Mitglied im Staatenbund begrüßt wird.

 

Heute ist ein Gedenktag für die Opfer des Krieges in Syrien, für die Toten und Hinterbliebenen, für die Geflüchteten und Zurückgebliebenen, für die zerrissenen Familien und einsam Verzweifelten, für die, die alles hinter sich lassen mussten und niemals zurückkehren können, und die, die dort bleiben mussten und innerlich emmigriert sind, für die, die eine neue Heimat gefunden haben, und die, denen dieses Glück in der Fremde verwehrt geblieben ist. Es ist ein Gedenktag für eine ganze verlorene Generation an Kindern.

 

Aus diesem Grunde sollte heute die Neuauflage meines Erstlings erscheinen. Leider lässt die Veröffentlichung wegen Corona noch wenige Tage auf sich warten.

 

Was das Geschehen in Syrien mit meinem Buch zu tun hat und mit welchem guten Zweck das verbunden ist, erfahrt ihr, sobald es in den nächsten Tagen erhältlich sein wird.

 

Solange gibt es eine kleine Verlosung.

Denn natürlich habe ich schon einige Vorabexemplare erhalten. Unter allen Likes, Kommentaren und Nachrichten, die ihr mir bei Facebook oder Instagram schreibt, verlose ich 10 signierte Exemplare. Und auch das geschieht zugunsten eines guten Zwecks, den ihr bald erfahrt.
Also wer will nochmal, wer hat noch nicht?

LESEN FÜR DEN GUTEN ZWECK

10 Jahre Arabischer Frühling.

10 Jahre Krieg in Syrien.

10 Jahre Versagen der Internationalen Staatengemeinschaft.

Genau zehn Jahre ist es her, da flutete der Arabische Frühling die Erde wie der Nil seine Ufer, und aus dem starren Lehmboden spross plötzlich Leben hervor, das wuchs und gedieh und trug unerwartete Knospen und Blüten zur Schau.

 

Am 17.03.2011 waren die Langzeitdiktatoren Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten bereits innerhalb weniger Wochen gestürzt und abgesetzt, Gaddafi sollte in Libyen bald ähnliches Schicksal ereilen. Hoffnung lag in der Luft, strömte vom Maghreb zum Maschrek und zurück, Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte.

 

Doch am 17.03.2011 geschah auch etwas anderes, etwas, was zur Katastrophe des vergangenen Jahrzehnts führen sollte. An diesem Tage, genau heute vor zehn Jahren, protestierten Menschen in der Stadt Darʿā in Syrien, wo kurze Zeit zuvor zwei Kinder inhaftiert und gefoltert worden waren, Kinder, die ein Graffiti mit der Forderung nach Assads Rücktritt an eine Häuserwand gesprüht hatten. Die Regierungsmacht ging brutal gegen die Demonstrierenden vor und schoss in die Menge. Fünf Menschen starben. Es sollten die ersten offiziellen Toten in einem Konflikt sein, der bis heute andauert und Hundertausende Menschenleben forderte sowie Millionen Vertriebener nach sich zog.

 

Der 17.03.2011 wird als der Beginn eines Krieges angesehen, der nun in sein elftes Jahr geht, eines Krieges, bei dem die ganze Welt tatenlos zuschaute, wie der Bürgerkrieg eskalierte, wie zahllose Länder sich einmischten, Waffen und Söldner schickten, wie die Fassbomben Assads auf Krankenhäuser, Schulen und Wohnungen niederregneten, wie Chemiewaffen eingesetzt wurden und der sogenannte IS wütete, wie Kurden gegen die Islamisten zunächst aufgerüstet und später fallen gelassen wurden, wie Vetomächte mit ihrer Stimme immer wieder Resolutionen zum Schutze der Zivilbevölkerung verhinderten und wie ein Diktator Stück für Stück mit Hilfe ausländischer Verbündeter das Land zurückeroberte. Und wahrscheinlich wird die Welt auch bald tatenlos zuschauen, wie "der Löwe" wieder mit Handschlag als Mitglied im Staatenbund begrüßt wird.

 

2011 war die endlose Gewaltspirale noch nicht abzusehen, die sich auch in anderen Ländern vollziehen sollte, erinnert sei nur an den Jemen. Doch damals versuchte ich Worte für die maßlose Verblendung von Diktatoren zu finden, die ihr eigenes Volk töteten, hinrichteten, ausradierten, nur um sich weiterhin an die Macht zu klammern.

 

Doch welche Worte sollte man für diese Ereignisse wählen?

Welche Worte waren dafür angemessen?

Wo sollte man sie suchen? Wo finden?

 

Ich fand sie schließlich nur in Sarkasmus und Satire.

 

Und so entstand vor 10 Jahren ein recht avantgardistisches, auf jeden Fall ziemlich verrücktes Lesedrama, das in Inhalt und Form die Willkür der Macht karikieren sollte.

 

Als Erinnerung an das unvorstellbare Leid der Syrer aber auch so vieler anderer von Diktatur und Krieg gebeutelten Menschen erscheint diese Neuauflage. Erhältlich sowohl als Taschenbuch als auch - 4 Wochen lang sogar für nur 0,99 € (!) - als Ebook.

 

Damit ihr aber nicht mir das Geld in den Rachen werft, sollen mit dem Kauf des Buches die Schwächsten dieses Krieges unterstützt werden. Deshalb geht der gesamte Erlös zu 100% an die Kampagne "Unterstützung von Waisenkindern" des von syrischen Studierenden ins Leben gerufenen Molhamteams.

 

Also kauft und spendet zugleich.

 

 

BIS ZUM LETZTEN MANN

 

In Gedenken an die Opfer des Krieges!

 


Der Buchhandlungssong

zur Wiedereröffnung - frei nach Rolf Zuckowski

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Neuauflage: BIS ZUM LETZTEN MANN

Hübsch, hübsch! Mein Erstling im neuen Gewand.

Die Neuauflage von "Bis zum letzten Mann".

 

Ab dem 17.03. überall erhältlich.

Warum gerade der 17.03.? Und warum eine Neuauflage?

 

Dazu bald mehr...

 

 

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Zaghaft lugt er hervor, noch ein wenig schüchtern, noch ein wenig ängstlich. Doch dann und wann fasst er bereits Mut und schleicht aus seinem Versteck hervor, schenkt uns verheißungsvolle Augenblicke, bevor er sich wieder verkriecht. Doch immer zutraulicher wird er, wagt sich mit jedem Tag ein Stück weiter heraus, tappst noch unbeholfen und verschmitzt, aber irgendwann wird er schließlich alle Angst abwerfen und erstrahlen.

 

"Das schöne am Frühling ist, daß er immer dann kommt, wenn man ihn am dringendsten braucht."

- Jean Paul -

 

Das Leben erblüht von neuem. Sonne, Duft und Farben legen sich über die Narben des Winters und kitzeln vergrabenen Mut und Freude hervor. Eine Stimme wispert, erst sanft, süßlich, dann laut und fordernd: Auf, auf zu neuen Taten!

 

Und so öffnet mit dem Frühling der Blog erneut seine Tore. Denn Literatur ist zwar nicht alles, aber ohne Literatur ist doch irgendwie alles nichts.

 

Das Foto ist alt, die Projekte sind neu. Das erste bellt bereits und wartet sehnsüchtig darauf, losgelassen zu werden. Doch dazu mehr in Kürze.

 

Und so liegt wahrlich jedem Anfang ein Zauber inne, der uns hilft zu leben. Blüh auf, Herr Lenz, blüh auf, auf dass das neue Jahr glücklicher verlaufe als das vergangene!

 

 

 

Jahresrückblick 2020 - Teil 2

Und hier also noch Teil 2 des Jahresrückblicks: die Backlist Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe und die mich in ihren Bann gezogen haben. Mit Klick auf das Foto werdet ihr zur ganzen Besprechung weitergeleitet.

 

 

 

"DIE WOHLGESINNTEN"

von Jonathan Littell

 

Ein Roman über die grausamste Epoche des letzten Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg, die zahlosen und bestialischen Kriegsverbechen, den Russlandfeldzug und den Holocaust. Doch der Erzähler ist kein Opfer, der nur knapp dem Tod entronnen ist, niemand, der die Shoa überlebt hat oder heldenhaft gegen die Nazis kämpfte, nein - dies ist ein Täterroman, der keineswegs leicht zu verdauen ist, der schwer im Magen liegt wie wohl nur wenige andere Romane, der aufwühlt und wütend macht, der Unfassbares erzählt, gegen das sich alles im Innern sträubt, und der doch vielleicht so nah an der Wahrheit ist wie keine andere Geschichte oder Geschichtsschreibung. Eine Erzählung, die wichtig ist und sehr tief in menschliche Abgründe führt.

Ein unfassbarer, ein bedeutsamer, ja ein Jahrhundertroman!

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"MELANCHOLIE DES WIDERSTANDS"

von László Krasznahorkai

 

In seitenlangen Sätzen und absatzlosen Kapiteln wird hier die drohende Apokalypse in einem ungarischen Dorf geschildert. Doch wenn man sich der eigenwilligen Form hingibt, erhält man eine Geschichte, die an Tief- und Scharfsinn, Intellektualität, Komik und Melancholie ihres gleichen sucht. Es ist geradezu ein Sog, in den man gerät, wenn man in die apokalyptische Welt abtaucht, beschworen durch eine bestechende Präzision der Worte und einer einmaligen Fabulierlust. Die in sich verschachtelten Sätze, die stockenden und springenden Gedankengang simulieren, dazu die Perspektivwechsel entfachen einen Lesewahn, dem man sich nicht entziehen kann.

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"HUNGER"

von Knut Hamsun

 

Die Geschichte eines verarmten (Überlebens-)Künstlers, die die gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwirft und mitten hinein in die Frage zielt: Was ist Kunst und was ist Dilettantismus? Die Darstellung von Hunger gelingt hier so überzeugend, plastisch und ausdrucksvoll, dass man während der Lektüre selbst mithungert und das wilde Knurren im Magen nicht unterdrücken kann. Durch die damalige neue Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms spürt man geradezu in jeder Faser die Zerrissenheit zwischen Scham und Stolz, zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, zwischen Verdruss und Hoffnung, die den Protagonisten zersetzt und immer weiter an den Rand der Gesellschaft drängt.

Ein atemberaubender Roman!

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"KASSANDRA"

von Christa Wolf

 

Kassandra steht kurz vor der Hinrichtung in Mykene und erinnert sich an den trojanischen Krieg und ihre Gefährten. Allerdings stehen hier nicht mehr die Taten der Götter im Vordergrund, sondern die Begierden und Machenschaften der Menschen. Jegliche Taten werden rückblickend psychologisiert und so geht es nicht mehr um den Kampf der Götter, sondern um Politikgeschacher, List und Heuchlei. Es ist eine zutiefst menschliche Erzählung, in der Götter keinen Platz mehr finden, sondern der Krieg aus der Sicht einer Frau erzählt wird, die auf Seiten der Verlierer steht. Und so ist auch der Kriegsgrund wahrlich ein anderer als stets angenommen. Die Sprache ist dabei gewöhnungsbedürftig, imitiert sie doch mit ihren gestelzten Sätzen den Rhythmus der Ilias und Odyssee, doch wie hier die Mythologie vermenschlicht und umgedichtet wird, ist einfach grandios!

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"SCHANDE"

von J. M. COETZEE

 

Schonungslos beschreibt Coetzee die Missstände in Südafrika nach dem offiziellen Ende der Apartheid, beschreibt die Entwicklung des Landes, das sich nun andere Opfer sucht und doch beim gleichen Schema von Herr und Knecht bleibt, beschreibt den Hass, der sich zwischen den Menschen eingebrannt hat und nach Blut dürstet, und beschreibt letztlich einen Generationenkonflikt rund um das Erbe der Apartheid. Zudem spiegeln sich in den großen Themen, die der Roman beleuchtet - das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Schwarz und Weiß, Vater und Tochter, Täter und Opfer - Ungnade und Schande (Originaltitel: "Disgrace") gegenseitig wider und skizzieren am Ende den Beginn von etwas Neuem.

Ein beklemmender Roman in einem beinahe lapidaren, lakonischen, auf jeden Fall sehr gradlinigen Stil. Lesenswert, aber beunruhigend und verstörend.

 

 

 

Teil 1 verpasst? Keine Sorge, hier geht es zum ersten Teil meines Jahresrückblicks 2020.

 

 

 

Jahresrückblick 2020 - Teil 1

Was für ein Jahr!

 

Das wird sich wohl ein jeder denken. Und damit man immerhin noch etwas unter den imaginären Weihnachtsbaum mit den virtuell dazu geschalteten Liebsten legen kann, gibt es jetzt schon meinen Jahresrückblick. Die herausragendsten Titel aus ungefähr 753 Büchern, durch deren Welten zu streifen ich dieses Jahr unerwartet viel Zeit hatte.

 

Im ersten Teil stelle ich die 5 lesenswertesten Titel vor, die jüngeren Datums sind, das heißt Titel, die in diesem Jahr oder kurz zuvor erschienen sind, 5 Titel, die mich begeistert haben und die ich uneingeschränkt weiterempfehlen möchte.

 

Also Vorhang auf, Spotlight an, hier folgt die Kür - natürlich wie immer nach ganz objektiven Richtlinien ! Und mit Klick auf das Foto gelangt ihr zur ganzen Rezension.

 

 

 

"ALLE AUßER MIR"

von Francesca Melandri

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen weiten Bogen von der Machtergreifung Mussolinis und dem Faschismus über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise. Ein herausragender, mitreißender Roman, mit dem Blick in die tiefen Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates.

Mein absolutes Highlight in diesem Jahr!

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"FÜR IMMER DIE ALPEN"

von Benjamin Quaderer

 

Wahrscheinlich das erstaunlichste Debüt, das ich jemals gelesen habe. Ein Hochstaplerroman, beinahe ein Schelmenroman, der mit allerlei literarischen Tricks aufwartet. So bietet sich dem Leser während der Lektüre ein Sammelsurium an literarischen Einfällen, die die Literatur in ihrer ganzen Fülle neben stringend erzählten Welten zu bieten hat. Der Roman ist witzig, schräg, verrückt, großartig und größenwahnsinnig. Er ist mutig und verspielt und von einer besonderen Leichtigkeit des Erzählens durchzogen. Ein Roman über Liechtenstein und seine Machenschaften. Ein Roman über die Literatur und ihre Möglichkeiten.

Ein Roman über das Erzählen und dessen Sinn. Ein großartiger Roman!

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"DAS FLÜSSIGE LAND"

von Raphaela Edelbauer

 

Ein Debütroman wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns. Ausgefeilte Sätze und eine abstruse Szenerie, irgendwo zwischen "Alice im Wunderland" und "Der Prozess". Dazu wirft er Fragen nach Zeit und Raum auf, nach Erinnerung und Verdrängung, nach Geschichte und Gegenwart, nach Schuld und Sühne. Vielschichtig und tiefgründig erzählt, bietet die Geschichte einen großen Interpretationsspielraum, der auf vielerlei Wegen psychologisch begangen werden kann.

Beinahe kafkaesk, immer jedoch wunderbar!

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"SOLENOID"

von Mircea Cartarescu

 

Hier wird nichts weniger versucht, als sich das Universum durch Sprache anzueignen. Essayistische Abhandlungen über das Leben und die Zeit, über die Milliarden Möglichkeiten jeden Augenblicks, über die Literatur und ihre Schattenseiten, über Bücher und ihre Macht, dazu ausführliche Biografien von Wissenschaftlern der Mathematik, Pathologie und Naturkunde, ebenso wie Gedankenexperimente, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen und nur auf ein Ziel ausgerichtet sind: die Bestimmung der vierten Dimension. Träumerisch wird das Leben des namenlosen Protagonisten erzählt, immer bedrochlich, beängstigend, erschreckend, immer surreal.

Ein absolut größenwahnsinniges, im wörtlichsten Sinne unfassbares, aber geniales Werk!

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"BRÜDER"

von Jackie Thomae

 

Im Roman wird nicht nur eine Familiengeschichte aufgeworfen, deren Wege verschlungen durch die Jahrzehnte irren, es ist vielmehr die Geschichte der Trennung, Annäherung und Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die sich in den unterschiedlichen Brüdern widerspiegelt. Es ist ein Roman über die Suche nach dem Sinn in einem Leben, in dem stets etwas fehlt, ein Leben, das nicht komplett erscheint. Mit Scharfsinn, Witz, Humor und Feingefühl wird die Geschichte der ungleichen Brüder erzählt, in der der alltägliche Rassismus mitschwingt, den beide wegen ihrer Hautfarbe erdulden müssen, aber auch die Feinheiten des alltäglichen Lebens, das Geflecht, in dem man sich verirren kann, stechen imposant heraus.

 

 

 

Schaut euch auch den zweiten Teil des Jahresrückblicks an, die Backlisttitel, unter denen ich wahre Perlen gefunden habe!

 

 

 

... liest gerade "Herzfaden" von Thomas Hettche

Das kleine Mädchen flieht vor dem Vater, damit er ihre Tränen nicht sieht. Mitten im Theater findet sie eine verborgene Ecke und einen Aufgang. Als sie diesem folgt, erwarten sie auf dem Dachboden die zum Leben erwachten Marionetten der Augsburger Puppenkiste. Doch nicht nur sie, sondern auch die Geschichte Hatüs und der BRD sowie der linkisch grinsende Kasperl, der Schlimmes birgt.

 

Hatü, mit bürgerlichem Namen Hannelore Oehmchen, erscheint aus dem Reich der Toten und erzählt dem Mädchen die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, der sie sich mit ganzem Herzen und Leben gewidmet hat. Schon im Zweiten Weltkrieg hat ihr Vater Walter Oehmchen, einst ein berühmter Schaupieler, ein Marionettentheater gegründet. An seiner Seite waren stets seine Frau Rose und seine beiden Töchter. Hatü erzählt von den Erfahrungen des Kriegs, des Faschismus und Antisemtismus, von Bombardierungen, Flucht und Tod und wie diese Schrecken ihr Theater prägten.

 

Nach dem Krieg eröffnete die Familie ein Theater, das sich rasch großer Beliebtheit erfreute. Zusammen schnitzten sie die Figuren, die sie vor den Zuschauern zum Leben erweckten. Irgendwann fiel ihr erneut der Kasperl in die Hände, jene Figur, die sie während des Krieges als erstes erschaffen hatte. Doch hier stockt ihr Erzählfluss. Ein Schatten legt sich über sie und taucht die Szenerie in trübes Licht. Hatü hütet ein Geheimnis, ein Geheimnis, das sich um den grimmig grinsenden Kasperl rankt, einem Außenseiter zwischen den Puppen. Und so liegt es schließlich an dem kleinen Mädchen, das Geheimnis zu lüften. Ängstlich, aber mit Hilfe anderer Marionetten, stellt sie sich dem Kaspar, der mit einem Schicksal aufwartet, das sich tief in die Magengrube wühlt.

 

Der Roman wartet mit zwei Erzählsträngen auf, einer Rahmen- und einer Binnenerzählung. Märchenhaft ist der Ton in der Rahmenerzählung, in der das kleine Mädchen wie Alice im Wunderland durch einen Fuchsbau auf den geheimen Dachboden des Theaters gelangt und auf Puppengröße schrumpt. Farblich voneinander abgesetzt stehen die Texte sich gegeneinander über und fließen doch zusammen.

 

Denn dies ist die Geschichte von Walter Öhmchen und seiner Tochter Hannelore. Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, die so viele Generationen an Kindern verzaubert hat. Und so treten auch alle bekannten Marionetten auf, wie z.B. das Ürmli, Jim Knopf und König Kalle Wirsch. Aber die Geschichte ist noch so viel mehr, denn sie ist auch die Geschichte Deutschlands zu seiner dunkelsten Zeit. Die Geschichte des (Über)Lebens im zerstörerischen Krieg, in dem das Gift des Nationalsozialismus bis in die Kinder sickerte, sowie in den finstren Nachkriegsjahren, in denen man aus dem Alten wieder Neues erschaffen musste.

 

Ein märchenhafter Roman mit ernstem Hintergrund, der dieser Tage aktueller ist denn je.

 

 

 

Thomas Hettche: Herzfaden

Roman

Hardcover, 288 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2020

...liest gerade "Milchmann" von Anna Burns

Eine junge Frau wird beschimpft und mit einer Pistole bedroht. Gerüchte haben die Runde gemacht, Gerüchte, die töten können.

Zur selben Zeit wird der Milchmann von einem staatlichen Mordkommando getötet. Es herrscht Krieg, ein Krieg, der heute längst vergessen ist, ein Krieg jedoch, der jederzeit wieder aufflammen kann.

 

Die Grenze des Bürgerkrieges zieht sich mitten durch die Städte, teilt Straßen in Feinde und Freunde, die einander gegenüber wohnen. Paramilitärs beherrschen ganze Ortschaften, patroullieren durch Geschäfte und Bars und wechseln sich dabei immer wieder mit dem staatlichen Militär ab, das genauso brutal vorgeht wie die vermeintlichen Terroristen. Ein falsches Wort, ein falsches Symbol, eine falsche Bekundung kann hier den Tod bedeuten.

 

Die namenlose Protagonistin lebt in einer kleinen Stadt, in der klassische Geschlechterrollen dominieren. Frauen werden unterdrückt, belächelt und ausgeschlossen, Männer bestimmen Poltik, Wirtschaft und den Krieg. Der Krieg, der sich besonders an verschiedenen Konfessionen entzündet hat, sich aber auch um Selbstbestimmung gegenüber einer als aufgezwungenen Staatsmacht präsentiert.

 

Es sind die 70er Jahre und wir befinden uns mitten in den blutigsten Jahren des nordirischen Bürgerkrieges. Ständige Angst herrscht vor. Verfolgungswahn und Paranoia zersetzen die Gesellschaft, denn niemand kann sicher sein, wer Freund und Feind ist, derweil beinahe täglich Autobomben explodieren, Menschen verraten, diffamiert, entführt und exekutiert werden. Das ganze Leben spielt sich nur aus einem Knäuel von Gerüchten, Tratsch, Verleumdungen und Lügen ab. Hier zählt nur eines: nicht auffallen.

 

Doch als sich eines Tages der Milchmann für die erst 18jährige Schülerin interessiert, nimmt das Unheil seinen Lauf. Der ominöse Mann stalkt sie, fährt ihr hinterher, geht ihr nach und belästigt sie. Dabei ist der Milchmann nicht irgendwer, er ist einer der ranghöchsten Rebellen, angesehen und einflussreich. Und so entstehen Gerüchte, die neben vielem anderen Tratsch die Runde machen. Plötzlich fällt ein Scheinwerferlicht auf die Protagonistin, das sie nicht mehr los wird und das sie ungewollt mitten auf die Bretter dieses Krieges katapultiert.

 

Klug inszeniert bietet der Roman tiefe Einblicke in den Alltag des Krieges, der beinahe schon vergessen scheint, aber durch den Brexit und die unsicheren zukünftigen Grenzbeziehungen wieder zu eskalieren droht. Ein Riss geht durch die Gesellschaft, geht selbst durch Familien, die sich immer mehr entzweien, ein Riss, der nicht mehr zu kitten ist. Verlorenes Vertrauen und ständige Angst ums Leben spiegeln die Realität der Menschen wider. Durch Gerede und Gerüchte entsteht eine Welt, die lediglich aus Lug und Trug besteht, doch so leicht entzündbar ist wie ein Fass Dynamit, denn jedes Gerede, jede Verdächtigung zieht Konsequenzen nach sich - tödliche Konsequenzen.

 

Es sind die Erinnerungen der gealterten Protagonistin, die diese Erzählung ausmachen und wie ein Strick geformt sind, der sich immer weiter zuzieht. Man verfällt leichthin dem humorvollen Stil, der oft mit viel Biss und Ironie aufwartet, bis einem angesichts der geschilderten Zustände das Lachen im Munde erstirbt. Ein hervorragender Roman über den Nordirlandkonflikt, den die Autorin selbst miterlebt hat, ausgezeichnet mit dem an Booker Prize 2018.

 

 

 

Anna Burns: Milchmann

Roman, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Hardcover, 452 Seiten

Tropen Verlag, Stuttgart 2020

... liest gerade "Der letzte Satz" von Robert Seethaler

Gustav Mahler befindet sich auf seiner letzten großen Reise. Er schippert über den Atlantik Richtung Heimat und erinnert sich seines Lebens. Es wird ein Bilanzziehen, ein Abschiednehmen, denn es ist 1911 und kurze Zeit später wird er tot sein.

 

Drei Jahre zuvor war Gustav Mahler nach Amerika gezogen. Dort ist er zu Weltruhm gelangt. Schon vorher war er der unumstrittene Star unter den Komponisten und Dirigenten seiner Zeit. Nun sitzt er auf dem Bord eines Dampfers, der ihn zurück nach Europa bringt. Alt und gebrechlich, krank und von Schüttelfrost und Fieber gebrochen, erinnert er sich seines Lebens, das er führen durfte und das er einzig und allein der Musik verschrieben hat.

 

Alma, seine Frau und seiner Zeit die schönste Frau Wiens, musste darunter leiden. Denn wirklich glücklich war er nur, wenn er den Klängen der Inspiration lauschte. Rund um die Uhr verschwor er sich der Musik, so dass seine Frau an seiner Seite nur ein halbgelebtes Leben hatte und Mahler dennoch eifersüchtig war, als sie sich in eine Affäre stürzte. Er erinnert sich an die Zeit in Wien, an die Arbeit, an den Schmerz und auch an den Antisemitismus, den er erlebte, aber auch an seine Kinder und an den Schicksalsschlag, der sein Leben veränderte, denn als seine Tochter Maria an der Diptherie starb, starb auch etwas in ihm. Letztlich stürzte er sich aber wieder in die Arbeit und unermüdlich komponiert er seine neunte Symphonie, die letzte, die er schreiben wird.

 

In vielen kurzen Episoden wird hier das Leben Mahlers rekonstruiert, und das, wie ich finde, ziemlich dürftig. Die 126 großzügig beschriebenen Seiten für 20 Euro sind schon fast eine Frechheit, denn die Lektüre verfliegt schließlich so schnell wie eine halbe Bahnfahrt von Freiburg nach Köln. Die Sprache ist zwar klar, teilweise jedoch sehr karg. In Nebensätze werden Details über das Leben des Komponisten gequetscht, als wollte man mit dem Wissen über Mahler ein wenig kokettieren und wusste nicht, wohin mit dem Stoff. Auch wird fast nichts über die Musik geschrieben, immerhin der Lebensinhalt dieses Mannes, nur so viel, dass man über sie nicht sprechen könne.

 

Der Roman schmückt ein wenig Autobiographisches aus, wirft kurzzeitig die großen Themen des Lebens auf, um sie dann unter Plattitüden zu begraben, was anscheinend reicht, um auf die Longlist des Deutschen Buchpreises zu gelangen. Für mich nicht verständlich, denn der letzte Satz verklingt ohne jeglichen Nachhall, nichtssagend und leer, und ist nicht mehr als eine äußerst kurze Ablenkung und für mich eine ziemlich große Enttäuschung.

 

 

 

Robert Seethaler: Der letzte Satz

Roman

Hardcover, 128 Seiten

Hanser Verlag, München 2020

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... liest gerade "Die Sommer" von Ronya Othmann

Jeden Sommer fliegt Leyla mit ihren Eltern in den Norden Syriens zu der Familie ihres Vaters.

Seit hunderten von Jahren trägt diese Region nahe der Grenze zur Türkei einen Namen, den man dort jedoch nicht aussprechen darf, einen Namen, der nur mit vorgehaltener Hand genannt wird, einen Namen, den es offiziell nicht gibt und auf keiner Karte existiert.

Es ist ein Name, der immer wieder ausgelöscht werden sollte und dennoch weiterlebt - Kurdistan.

 

Leyla ist Halbjesidin. Vor vielen Jahren verließ der Vater das Land, hatte die wahllosen Verschleppungen, die ständige Angst und die Repressalien unter der strengen Diktatur satt. Heimlich flüchtete er über die Türkei bis nach Deutschland, wollte dem Leben in der Diktatur entkommen, in der er als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde, als minderwertiger Mensch, dem der Pass abgenommen und der Zugang zu Bildung, Studium und guter Arbeit verwehrt wurde, ein Staatenloser, der ständig Angst vor dem brutalen Geheimdienst haben musste, vor Entführung, Folter und Mord.

 

Doch auch in Deutschland wurde der wissbegierige junge Mann von Ämtern und Behörden schickaniert. Trotzdem schlug er sich durch, zog in ein Häuschen nahe München, dessen Garten er jenem seiner Heimat nachempfand, und gründete mit seiner deutschen Frau eine eigene Familie. Und so wächst Leyla nun zwischen zwei Welten auf, verbringt das Jahr in dem deutschen Dorf, führt ein mehr oder weniger gewöhnliches Leben, trifft Freunde und geht in die Schule. In den Sommerferien lebt sie jedoch bei der Familie in Syrien und lernt dort nach und nach die jesidische Kultur kennen, ihre Traditionen, ihre Sitten und Gebräuche, lernt die Menschen und das Land schätzen und lieben. Auch diese Welt wird ein Teil von ihr und so schmerzt es sie, als sie die Besuche 2011 einstellen müssen.

 

Als die Revolution in Syrien ausbricht und die verhasste Diktatur zu fallen scheint, sind zunächst alle elektrisiert. Doch als der Krieg immer brutaler wird und die Welt zum Zuschauen verdammt ist, als Assads Fassbomben ganze Städte in Schutt und Asche reißen, als gezielt Krankenhäuser und Schulen angegriffen werden, als der sogenannte IS aufzieht und zahlreiche Massaker verübt, steht plötzlich ihre Familie und damit ihr ganzes Volk vor der Auslöschung. Leyla verliert immer mehr den Halt im Leben, fühlt sich nicht mehr zugehörig und kann die schrecklichen Eindrücke nicht mehr verarbeiten, die sie im Fernsehen und am Handy mitverfolgt. Schließlich fasst sie einen Entschluss, der sich als so radikal erweist, dass sich ihr Leben von Grund auf ändern wird.

 

Dies ist die eindrückliche Geschichte der Kurden im Allgemeinen und der Jesiden im Besonderen. Es ist die Geschichte eines Volkes, das kein Land besitzt, das auf vier anderen Staaten verteilt lebt, wo es unterdrückt, verfolgt und misshandelt wird. Kurdistan ist ein Landstrich, der seit Generationen umkämpft und deshalb tief gezeichnet ist von Krieg, Vertreibung und Massakern, von unterschiedlichen Ethnien und Religionen, von Kolonialismus und Imperialismus, aber auch von Zusammenhalt, Familienwesen und dem Drang nach Freiheit. Stets hängt die Angst vor dem nächsten Genozid wie ein Fallbeil über den Köpfen der Menschen. Die blutgetränkten Geschichten ihrer Vorfahren haben sich in die DNA der Kurden eingefressen und werden über die Gene an die nächste Generation weitergegeben, die dem Klagelied des ewigen Leids wieder eine neue Strophe hinzufügen kann.

 

Dies ist die Geschichte von einem zerrissenen Teil der Welt, dessen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg willkürlich auf dem Schachbrett gezogen worden sind und die damit schon den Keim späterer Eskalationen von Beginn an in sich bargen.

 

Dies ist auch die Geschichte von der inneren Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen, von einem Leben zwischen zwei Welten, zwei Ländern und Sprachen, das für alle Kinder von Migranten die tägliche Realität darstellt.

Dies ist aber auch eine Geschichte über das Erinnern, über Kultur und Traditionen, die Generationen miteinander verbinden und die durch Erzählen und Tradieren vor dem Auslöschen bewahrt werden sollen. Es ist eine Geschichte über Flüchtlinge und ihr Leid, über den langen und beschwerlichen Weg in eine für uns als selbstverständlich hingenommene Freiheit und Sicherheit.

 

Und zuletzt ist dies auch die Geschichte über Widerstand und Aufbegehren, über kaum auszuhaltende Ohnmacht, die entweder zu Desinteresse und Resignation führt oder zu Wut und Hass.

 

Ronya Othmann, selbst Halbjesidin, hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Im ersten Teil wird aus den Erinnerungen Leylas an die Sommer ihrer Kindheit ein Bild modelliert, das im zweiten Teil immer stärker bedroht und angegriffen wird. Eindrücklich sind die Geschichten über Flucht, Vertreibung, Krieg und Auslöschung, aber auch die sanften Töne über Zusammenhalt, Traditionen und Kultur. Wenn ich auch die Sprache an manchen Stellen doch etwas zu karg finde, ist es ein beklemmender und schonungsloser Roman, der mit großer Tragik offenbart, was sich seit Jahren vor aller Augen abspielt.

 

Eine unbedingte Leseempfehlung!

 

 

 

Ronya Othmann: Die Sommer

Roman

Hardcover, 288 Seiten

Hanser Verlag, München 2020

...liest gerade "Zeit der Wildschweine" von Kai Wieland

 Leon und Janko könnten unterschiedlicher nicht sein, doch sie verbindet dieselbe Leidenschaft.

 Zusammen begeben sie sich für eine Reportage auf die Reise zu den lost places der französischen Atlantikküste.

 Allerdings führt sie die Unternehmung nicht nur zu den verlassenen Orten, sondern auch immer weiter zu sich selbst.

 

Leon ist Reisejournalist. Für Reportagen bereist er die Welt und erkundet Orte, deren Charme sich aus ihrer Verlassenheit speist. Zurück in Deutschland verbringt er die meiste Zeit alleine in seiner Wohnung. Obwohl er ein freies, ungezwungenes Leben führt, wirkt er nicht zufrieden, geschweige denn glücklich. Er weiß nicht recht, was er in seinem Leben anstellen soll und so drückt er sich vor Verbindlichkeiten, sieht in jeglicher Beständigkeit nur Erschlaffung, verbringt schon mal ganze Tage im Bett und zieht dann wieder hinaus in die Welt, um sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken. Als er mit dem Vater sein Appartment gegen das Haus seiner Kindheit tauschen soll, ploppen schemenhaft Erinnerungen in ihm auf, die wie ein Schatten auf ihm zu liegen scheinen. Und dann ändert sich plötzlich sein Leben, als Janko vor ihm steht.

 

Janko scheint all das zu sein, was er nicht ist. Dieser Fotograf ist exzentrisch, tättowiert und ungehobelt, ein Exzentriker, der nicht gerne über sich selbst redet. Es trennt sie mehr als sie eint, doch eines verbindet sie: die Liebe zu Filmen, deren Zitate Jankos Körper schmücken.

 

Als Leon nach Frankreich fahren soll, um für einen Reiseführer die lost places der atlantischen Küste zu dokumentieren, nimmt er Janko als Fotografen mit. Auf dem Roadtrip begegnen sie in verlassenen Städten eigenwilligen Menschen, von der Gesellschaft Verstoßenen oder vor der Gesellschaft Geflüchteten, wie sie selbst welche sind. Während Janko dem Bild hinterher jagt, das ihn berühmt machen soll, stolpert Leon in ein Filmset, dessen Kulissen die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion aufzuheben scheinen. Und plötzlich stellt sich immer mehr die Frage: Was geschieht hier eigentlich wirklich? Und wohin ist Janko plötzlich verschwunden? Und wer ist eigentlich dieser Janko? Was genau hat er mit Leon zu tun? Verbindet sie gar ein Geheimnis, das sie teilen?

 

"Die Zeit der Wildschweine" ist eine Hommage an den Film. In zwei verschiedenen Erzählsträngen wird eine Geschichte entblättert, die vor Zitaten und Anspielungen auf die Filme von David Lean, David Lynch, David Fincher oder den Journalisten Hunter S. Thompson nur so strotzen. Im Zentrum steht dabei stets die Frage nach der Selbstverwirklichung. Denn was ist eigentlich Selbstverwirklichung? Und wie weit muss man gehen, um sie zu erlangen? Kann man sie eigentlich erlangen? Und was hat das übrigens alles mit Fight Club zu tun, dem Kultfilm von 1999?

 

Der Roman ist melancholisch, tiefsinnig und bietet viel Stoff für Filmfans. Allein mich konnte er nicht wirklich mitreißen. Das mag vor allem daran liegen, dass mir viele Anspielungen entgangen sind, ich wohl auch nicht alle Filme kenne, deren Szenen hier eingearbeitet sind, Fight Club einmal ausgenommen. Und so fand ich den Roman leider eher etwas dröge und zäh und auf die Dauer etwas langatmig. Wer sich mit der Filmgeschichte auskennt, wird bei der Lektüre wahrscheinlich sein Vergnügen haben, bei mir hielt es sich allerdings in Maßen.

 

 

 

Kai Wieland: Zeit der Wildschweine

Roman

Hardcover, 271 Seiten

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020

...liest gerade "Orlando" von Virgina Woolf

Es ist das 16. Jahrhundert unter Elisabeth I.

Ein junger Adliger flieht nach einer unerfüllten Liebe vom Hof und begibt sich auf eine Reise, die ihn nicht nur durch Raum und Zeit trägt, sondern auch die Geschlechtergrenze einreißen lässt. Schließlich wacht er nicht nur im 20. Jahrhundert auf, sondern ist auch - eine Frau.

 

Orlando, Liebhaber Elisabeth I., verbringt seine Zeit mit zahlreichen Affären und an seinem Schreibtisch, an dem er ein bedeutendes Gedicht verfassen will. Gerne wandelt er alleine umher und treibt sich beim niedrigen Volk herum. Dreimal ist er verlobt und löst die Versprechung ein ums andere Mal wieder auf, bis er Sascha kennenlernt. Die Russin erobert sein Herz im Sturm, denn sie spricht nicht viel. Ein Geheimnis scheint sie zu umgeben. Als sie gemeinsam aus der Enge des Adels fliehen wollen, erscheint sie jedoch nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Wütend und traurig blickt Orlando nur noch dem russischen Schiff hinterher, auf dem er seine Liebste vermutet, und ist geschlagen.

 

Desillusioniert begibt er sich auf Reisen, fährt aufs Land und bis nach Konstantinopel, feiert mit auserlesenen Gesellschaften und zieht mit fahrendem Volk umher. Er durchstreift die Jahrhunderte, schlüpft in verschiedene Rollen und wechselt schließlich das Geschlecht so selbstverständlich, als zöge er sich neue Kleider an.

 

Auf der Reise durch Raum und Zeit erscheint Orlando stets unruhig und auf der Suche, bis er/sie letztlich einsieht, dass jede Generation sich und ihre Umwelt stets aufs Neue definieren muss, dass Mode und Ideen, Kultur und Erfolg, Rollenbilder und Klischees einem ständigen Wechsel unterliegen. Er/Sie durchschaut, dass zu allen Zeiten und an allen Orten stets auf Neue eruiert wird, was Liebe und Freundschaft bedeuten, was Anstand und Freiheit sind, was einen wahrhaften Mann ausmacht und wie eine Frau zu sein haben soll. Und so dreht sich alles um die Frage nach der Identität. Denn was macht einen Menschen wirklich aus? Und wieviel trägt die Zeit und das Umfeld zu dem bei, was und wie man ist?

 

Als Biografie getarnt, in der der Biograf selbst zu Worte kommt und bei fehlenden Dokumenten hinsichtlich des Lebenslaufes zu spekulieren beginnt, spielt der Text mit dem Genre, ironisiert und durchbricht es. Woolfs sprachmächtige Prosa lässt großartige Bilder und Vergleiche entstehen. Selbst Fotos und Gemälde liegen dem Text mit einem Augenzwinkern bei, einem Text, der die Rolle der Frau in der Gesellschaft, in Kultur und Politik ständig hinterfragt und dabei ironisch und witzig die aktuelle Debatte bezüglich Emanzipation und Transgender vorwegnimmt.

 

"Orlando" war mein erster Roman von Virgina Woolf, ein durchaus unterhaltsamer, aber manches Mal auch anstregender Text, der zum Ende hin zunehmend abstruser wird und letztlich die Frage aufwirft: Wer ist nun eigentlich dieser Orlando?

 

Erschienen ist der Roman bereits 1928, auf Deutsch lag er ein Jahr später vor.

 

 

 

Virgina Woolf: Orlando

Roman, aus dem Englischen von Melanie Walz

Taschenbuch, 302 Seiten

Insel Verlag, Berlin 2012

...liest gerade "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell

Was soll man zu diesem Roman noch sagen? Welche Worte soll man über dieses Buch noch verlieren?

 

Jahrelang lag es auf meinem Tisch, hat mich angestarrt und mit seinen über 1300 Seiten abgeschreckt. Nun habe ich es auch endlich gelesen - und ich bin sprachlos.

 

Tief bin ich in den Sog der menschlichen Abgründe geraten, habe mich darin verloren, habe versucht dagegen anzukämpfen, mich dagegen aufzulehnen und bin doch sehr schnell dem Plauderton des SS-Offiziers verfallen, einem älteren Mann, der nun seine Memoiren schreibt, während er unbehelligt seinen Lebensabend in Frankreich genießt.

 

Natürlich schreibt er über die grausamste Epoche des letzten Jahrhunderts, schreibt über den Zweiten Weltkrieg, über die zahlosen und bestialischen Kriegsverbechen, die begangen wurden, schreibt über den Russlandfeldzug und den Holocaust, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen, schreibt über die Feinheiten der alles verschlingenden Maschine namens Vernichtungsfeldzug. Doch er schreibt nicht als ein Opfer, der nur knapp dem Tod entronnen ist, schreibt nicht als jemand, der die Shoa überlebt hat, schreibt nicht als einer, der heldenhaft gegen die Nazis kämpfte, gegen sie operierte, nein - er schreibt als einer der Täter, als Handlanger und Unterstützer, als jemand, der Karriere machte, indem er das millionenfache Morden plante und half, es umzusetzen. Ein Täter, der wenig Reue zeigt und versucht, sich und die Deutschen reinzuwaschen.

 

So stellt er bereits zu Beginn die Schuldfrage. Denn wer ist Schuld, wenn sich die Täter genauso wenig wie die Opfer ihre Rolle aussuchen durften? Wenn alle nur als ein Rädchen im großen Uhrwerk der Politik fungierten? Wer trägt Schuld in einem System, in dem alles ineinandergreift? Alle oder niemand? Und so werden die Deutschen nicht als Bestien dargestellt, sondern als Menschen, als fühlende und rationale Wesen, von denen viele nicht töten wollten, von denen viele Psychosen und Depressionen, Nervenzusammenbrüche und Selbstmordgefühle plagten angesichts des Grauens, das sie erschufen. Doch sie gehorchten und so, schreibt der ehemalige Offizier an den Leser gerichtet, würde jeder in solch einer Gesellschaft zum Täter werden.

 

Es ist eine Geschichte, die so schwer zu verdauen ist wie wohl keine andere. Die Banalität des Bösen kommt hier so offen zum Vorschein wie nirgends sonst, denn jeder Mörder, jeder Täter war auch nur ein Mensch, ein Mensch mit Gefühlen, Träumen, Wünschen, Ängsten. Es waren keine Monster, die den Krieg begangen und millionfach töteten. Und so geschieht das Ungeheuerliche im Roman, denn Täter und Opfer werden gleichgestellt. Die einen können so wenig für ihre Rolle wie die anderen. Auf höchst menschliche Weise zeichnet er den Feldzug samt Holocaust nach, bei denen er involviert war und durch dessen Planung er Karriere machte. Er schreibt über Massenexekutionen in der Ukraine und im Kaukasus, über Babi Jar und Partisanenmorde, schreibt über die Schrecken in Stalingrad und über Auschwitz. Und er schreibt, wie alles auf die Deutschen zurückkkommt, wie jegliche Ordnung zerbricht, wie jeder jeden tötet und selbst Kinder zu Mördern werden, wie ganz Europa ausgelöscht wird durch die wahnhaften Ideen des NS, wie selbst im April '45 immer noch an den Endsieg geglaubt wird und Fahnenflüchtige exekutiert werden, wie absolutes, heute unvorstellbares Chaos herrscht, wo sich jeder der nächste ist und selbst Freundschaften im Angesicht des Todes nichts mehr zählen.

 

Mit unheimlichem Fachwissen über die Ideologien, über den genauen Ablauf des Zweiten Weltkriegs, über all die unterschiedlichen Organisationen und ihre Zuständigkeiten hat Littell hier einen Täterroman geschrieben, der in seiner Detailtreue und Anschaulichkeit verblüfft. Denn klar ist auch, so der alte Offizier, hätten sie den Zweiten Weltkrieg gewonnen, wären die Deutschen nicht als Verbrecher angesehen worden, sondern stünden lediglich in einer Riege mit anderen Kolonialisten wie der USA, die ihre indigene Bevölkerung auslöschte, oder Belgien, das im Kongo wütete und millionenfachen Tod brachte, ganz zu schweigen von Großbritannien und Frankreich.

 

Trotz oder gerade wegen der Schilderungen so vieler Gräuel ist es eine zutiefst menschliche Erzählung, denn alles, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist und später dämonisiert wurde, haben Menschen begangen, haben Menschen anderen Menschen angetan. Das vermeintlich Böse schlummert also im Menschen, es gehört zu ihm, es ist menschlich.

 

"Nach dem Krieg wurde viel geredet, sie versuchten zu erklären, was da an Unmenschlichem geschehen war. Aber das Unmenschliche - ich bitte um Entschuldigung - das gibt es nicht. Es gibt nur das Menschliche, immer nur das Menschliche."

 

Ein Opus magnum, dessen Titel auf den antiken Mythos der Euminiden anspielt, also auf die Erinnyen, die antiken Rachegöttinnen, die zu den Wohlgesinnten wurden, nachdem sie ihre Macht verloren hatten. Ein Roman, der keineswegs leicht zu verdauen ist, der schwer im Magen liegt wie wohl nur wenige andere Romane, der aufwühlt und wütend macht, der Unfassbares erzählt, gegen das sich alles im Innern sträubt, und der doch vielleicht so nah an der Wahrheit ist wie keine andere Geschichte oder Geschichtsschreibung. Eine Erzählung, die wichtig ist, die tief, sehr tief in menschliche Abgründe führt, die ich sonst noch nie so gelesen habe.

 

Ein wirklich bedeutsamer Roman, ein Jahrhundertroman!

 

Der Roman erschien bereits 2006 und als Übersetzung von Hainer Kober 2008 im Berlin Verlag.

 

 

 

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Roman, aus dem Französischen von Hainer Kober

Taschenbuch, 1392 Seiten

Berlin Verlag, Berlin 2008

...liest gerade "Alle, außer mir" von Francesca Melandri

Die Straßen sind gesperrt, der Verkehr zu Umleitungen gezwungen. Gaddafi braust in weißen Limousinen durch die Stadt und wird herrschaftlich empfangen. Doch es ist nicht Tripolis, durch das er chauffiert wird, es ist das Rom Berlusconis, der einem alten Freund die Ehre erweist.

 

Ilaria findet die Inszenierung schrecklich. Als Linksliberale ist ihr Berlusconi und dessen Politik, die den Rechtspopulismus seit den 90er Jahren wieder salonfähig gemacht hat, tief verhasst. Sie hält dagegen an hohen ethischen und moralischen Ansprüchen fest, wenn auch ihr Selbstbild durch die Liason mit dem Staatssekretär Berlusconis, ihrer alten Jugendliebe, tiefe Risse bekommt, die sie zu ignorieren versucht.

 

Durch den Stau quält sie sich zu ihrer Wohnung, einem Geschenk des nun dementen Vaters. Neben ihr wohnt der Halbbruder. Erst mit 16 Jahren ist sie ihrem Vater auf die Schliche gekommen. Für die junge Tochter war das Doppelleben ihres Vaters ein Schock, der ihr Weltbild zerstörte.

 

Als Ilaria endlich zu Hause angekommen ist und das Treppenhaus hinaufsteigt, steht plötzlich ein Afrikaner vor ihrer Tür. Als Flüchtling abgestempelt, versucht sie ihm zu helfen, doch als dieser junge Mann ihr erzählt, dass er ihr Neffe sei, stockt sie. Und tatsächlich: Er trägt denselben Namen wie ihr Vater. Hatte ihr Vater also noch ein Kind? Ein Kind gar in Afrika? Ilaria geht der Spur nach und begibt sich auf eine langwierige Suche, bei der sie viel mehr entdeckt als sie befürchtet hatte. Über Italien, über ihre Familie und über sich selbst.

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen überaus weiten Bogen, um eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die bis in unsere heutige Zeit reicht, angefangen mit der Machtergreifung Mussolinis und der Zeit des Faschismus, die auch im heutigen Italien noch kleingeredet und teilweise verehrt wird. Fortgeführt über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien, dem heutigen Eritrea und Äthiopien, wo Italien eine brutale Diktatur errichtete und selbst noch nach der eigenen Schande jahrezehntelang eine der brutalsten Diktaturen der Welt unterstützte. Bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise, in der Menschen aus Eritrea, Äthiopien und Libyen, einem damals weiteren italienisch besetzten Land, unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Italien fliehen und dort stranden, abgelehnt, entrechtet und diskriminiert.

 

Schuld und Verdrängung spielen eine große Rolle, in der Familie wie in der Gesellschaft, tragische Schicksale, Lügen und Doppelleben, versteckt unter dem dolce vita Italiens, herrlich gespiegelt durch den Emfpang des libyschen Machthabers durch Berlusconi, deren Freundschaft die lange rechte und faschistische Tradition fortführt.

 

Obwohl ich in diesem Jahr sehr viel gelesen habe, ist "Alle, außer mir" für mich bislang ein Anwärter auf den Roman des Jahres. Herausragend, mitreißend, mit dem Blick in tiefe Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates, der sonst für das unbeschwerte Leben steht, der aber seine Vergangenheit nie aufgearbeitet hat und in vielen Teilen immer noch Mussolini verehrt und seinen grausamen Kolonialismus als Nichtigkeit abtut.

 

Ein überwältigender Roman in einer sprachmächtigen Prosa und daher eine absolute Leseempfehlung!

 

 

 

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Roman, aus dem Italienischen von Esther Hansen

Hardcover, 608 Seiten

Wagenbach Verlag, Berlin 2018

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...liest gerade "Alle, außer mir" von Francesca Melandri

Die Straßen sind gesperrt, der Verkehr zu Umleitungen gezwungen. Gaddafi braust in weißen Limousinen durch die Stadt und wird herrschaftlich empfangen. Doch es ist nicht Tripolis, durch das er chauffiert wird, es ist das Rom Berlusconis, der einem alten Freund die Ehre erweist.

 

Ilaria findet die Inszenierung schrecklich. Als Linksliberale ist ihr Berlusconi und dessen Politik, die den Rechtspopulismus seit den 90er Jahren wieder salonfähig gemacht hat, tief verhasst. Sie hält dagegen an hohen ethischen und moralischen Ansprüchen fest, wenn auch ihr Selbstbild durch die Liason mit dem Staatssekretär Berlusconis, ihrer alten Jugendliebe, tiefe Risse bekommt, die sie zu ignorieren versucht.

 

Durch den Stau quält sie sich zu ihrer Wohnung, einem Geschenk des nun dementen Vaters. Neben ihr wohnt der Halbbruder. Erst mit 16 Jahren ist sie ihrem Vater auf die Schliche gekommen. Für die junge Tochter war das Doppelleben ihres Vaters ein Schock, der ihr Weltbild zerstörte.

 

Als Ilaria endlich zu Hause angekommen ist und das Treppenhaus hinaufsteigt, steht plötzlich ein Afrikaner vor ihrer Tür. Als Flüchtling abgestempelt, versucht sie ihm zu helfen, doch als dieser junge Mann ihr erzählt, dass er ihr Neffe sei, stockt sie. Und tatsächlich: Er trägt denselben Namen wie ihr Vater. Hatte ihr Vater also noch ein Kind? Ein Kind gar in Afrika? Ilaria geht der Spur nach und begibt sich auf eine langwierige Suche, bei der sie viel mehr entdeckt als sie befürchtet hatte. Über Italien, über ihre Familie und über sich selbst.

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen überaus weiten Bogen, um eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die bis in unsere heutige Zeit reicht, angefangen mit der Machtergreifung Mussolinis und der Zeit des Faschismus, die auch im heutigen Italien noch kleingeredet und teilweise verehrt wird. Fortgeführt über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien, dem heutigen Eritrea und Äthiopien, wo Italien eine brutale Diktatur errichtete und selbst noch nach der eigenen Schande jahrezehntelang eine der brutalsten Diktaturen der Welt unterstützte. Bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise, in der Menschen aus Eritrea, Äthiopien und Libyen, einem damals weiteren italienisch besetzten Land, unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Italien fliehen und dort stranden, abgelehnt, entrechtet und diskriminiert.

 

Schuld und Verdrängung spielen eine große Rolle, in der Familie wie in der Gesellschaft, tragische Schicksale, Lügen und Doppelleben, versteckt unter dem dolce vita Italiens, herrlich gespiegelt durch den Emfpang des libyschen Machthabers durch Berlusconi, deren Freundschaft die lange rechte und faschistische Tradition fortführt.

 

Obwohl ich in diesem Jahr sehr viel gelesen habe, ist "Alle, außer mir" für mich bislang ein Anwärter auf den Roman des Jahres. Herausragend, mitreißend, mit dem Blick in tiefe Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates, der sonst für das unbeschwerte Leben steht, der aber seine Vergangenheit nie aufgearbeitet hat und in vielen Teilen immer noch Mussolini verehrt und seinen grausamen Kolonialismus als Nichtigkeit abtut.

 

Ein überwältigender Roman in einer sprachmächtigen Prosa und daher eine absolute Leseempfehlung!

 

 

 

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Roman, aus dem Italienischen von Esther Hansen

Hardcover, 608 Seiten

Wagenbach Verlag, Berlin 2018

...liest gerade "Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy" von Laurence Sterne

Mal wieder Zeit für einen echten Klassiker!

Gibt es einen (post)moderneren Roman als diesen?

Hier steckt schon alles drin, was in der (Post)Moderne auf die Spitze getrieben wird: Leseranrede und übersprungene Passagen, willkürliche Absätze und Kapitel, Textlücken und Unterbrechungen, Einschübe und Fußnoten, herausgerissene Kapitel und geschwärzte Seiten, Übersetzungen und synoptische Gegenüberstellung, Symbole und Zeichnungen, Verwirrung um Erzählzeit und erzählte Zeit, Selbstreflexionen und besonders Abschweifungen über Abschweifungen und noch so vieles mehr.

Es fehlt eine chronologische und stringente Erzählung mit Haupt- und Nebenfiguren, die zwischen einem sinnvollen Anfang und einem Ende, auf das alles hinausläuft, eingebettet ist. Vielmehr liegt ein Flickenteppich an Erzählsträngen vor, die immer weiter auschweifen und abschweifen, nie wirklich zurückfinden, sondern sich irgendwann verlieren. Der Roman spielt mit der Literatur, experimentiert mit Fiktionalität, Fiktivität und Faktualität, wirft Ideen und Assoziationen auf und verwirrt und verschachtelt sich. Er ironisiert und reflektiert sich und dabei irritiert und erheitert er ungemein.

Laurence Sterne, ein damals unbekannter anglo-irischer Geistlicher, hat mit seinem Roman, der in 9 Bänden zwischen 1759 und 1767 erschien, ein Meisterwerk erschaffen, eine Referenz für alle späteren Romane, die mit ihrer eigenen Entstehung und Künstlichkeit spielen.

"Tristram Shandy" ist einer der herausragendsten Romane der Weltliteratur, witzig und unterhaltsam, zugleich unerreicht.

 

 

 

...liest gerade "Je tiefer das Wasser" von Katya Apekina

Edith und Mae sind Schwestern.
Nachdem sich ihre Mutter das Leben nehmen wollte, wohnen sie bei ihrem Vater in New York.
Doch der ist nicht nur ein berühmter Schriftsteller, er ist ein Fremder, der Menschen für seine Romane missbraucht.

 

Die sechzehnjährige Edith fand ihre Mutter, als diese bereits blauangelaufen über den Küchenfliesen baumelte. Gedankenschnell rettete sie ihr das Leben. Seitdem wird die Mutter in einer Heilanstalt therapiert und Edith und ihre Schwester mussten zu ihrem Vater nach New York ziehen. Der Mutter zugeneigt hegt sie Wut und Hass gegen den diesen Mann, denn schließlich war er es doch, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat und nun verantwortlich für das Drama ist, das die Familie zerrüttet.

 

Die zwei Jahre jüngere Mae grollt hingegen der Mutter. Der berühmte Vater eröffnet ihr nun ein neues Leben, zerrt sie raus aus dem Würgegriff dieser Frau, deren Depressionen und Psychosen sie qualvoll miterlebte. Und so nähert sie sich ihm immer weiter an, schaut zu ihm auf, vergöttert ihn und schlüpft nach und nach durch ihre frappierende Ähnlichkeit in die Rolle der jungen Mutter, die den Vater vor vielen Jahren zu Meisterwerken inspirierte. Als sich Mae immer mehr zu der Muse ihres Vaters aufschwingt, beflügelt diesen erneut die Inspiration und er beginnt nach einer langen Blockade wieder zu schreiben. Doch um welchen Preis?

 

Dies ist die Geschichte einer toxischen Verbindung, die Geschichte einer Familie, die aneinander zerbricht und unter deren Trümmer die Kinder am meisten leiden. Es ist eine Geschichte über Kunst und Wirklichkeit, deren Grenzen ausgelotet, überschritten und verwischt werden. Es ist eine Geschichte über die Schattenseiten der Literatur, über die Ausbeutung von Lebensgeschichten und Persönlichkeiten, eine Geschichte, die unwiderruflich die Frage aufwirft, wie weit Literatur eigentlich gehen darf. Es ist aber auch eine Geschichte über die Stärke der Literatur, über den Antrieb zur Kunst, über die Heilung und Verarbeitung, die ihr inneliegt.

 

Anhand vieler unterschiedlicher Stimmen wird die anfangs so eindeutige Geschichte der Familie nach und nach entblättert, so dass man immer tiefer ins Wasser vordringt, bis man durch den Sumpf watet, der sich undurchsichtig auf dem Grund verbirgt. Die Polyphonie der Stimmen lässt eine Vielzahl an Meinungen erklingen, die sich teilweise widersprechen. Durch Briefe, Tagbucheinträge, Telefonate, Interviews, Personalakten und Rezensionen entsteht ein Mosaik an Realitäten, das der/die Leser/in selbst zusammenfügen muss. Und so bleibt ihr/ihm auch das abschließende Urteil dieser Geschichte überlassen, denn wer benutzt und missbraucht hier eigentlich wen. Und wofür?

 

Der Roman ist vielschichtig, belastend, verstörend, intensiv und zugleich verblüffend, kurz: absolut lesenswert!

 

 

 

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

Hardcover, 396 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

...liest gerade "Das steinerne Floß" von José Saramago

Ein zarter Riss in der Erde, der nicht mehr verheilt.
Ein riesiger Stein, der über die Wasserfläche hüpft.
Stumme Hunde, die bellen, und Stare, die zu Hunderten Menschen verfolgen.

 

Es sind seltsame Dinge, die geschehen. Vorboten eines Ereignisses, das unglaublich erscheint. Denn plötzlich, ohne Vorwarnung, brechen die Pyrenäen auseinander. Zuerst zeichnen sich nur Risse ab, doch schnell weiten sie sich. Die Regierungen Spaniens und Frankreichs versuchen, die tiefen Spalten zu kitten und mit Beton zu füllen, doch vergebens. Die iberische Halbinsel bricht vom Rest Europas ab und driftet fort.

 

Der nunmehr als Insel zu bezeichnende Flecken Erde nimmt Kurs auf die Azoren. Panik bricht aus, Menschen verlassen überstürzt die Insel, Evakuierungen finden statt. EU und NATO sind alarmiert, Reporter aller Länder berichten, die Schlagzeilen überschlagen sich. Mitten in diesem Chaos treffen sich eine Handvoll Menschen, denen Magisches widerfahren zu sein scheint. Zusammen begeben sie sich auf eine Reise durch das Land, um zu verstehen, was vor sich geht - mit ihnen als auch mit ihrer Heimat.

 

Erschienen 1986, im Jahr der EU-Beitritte Spaniens und Portugals, beschwört der Roman ein Gefühl herauf, trotz der neuen Mitgliedschaft in den auserlesenen Kreis nicht wirklich dazuzugehören, im Gegenteil, abgelehnt und nicht wertgeschätzt zu werden. Nachdem die Diktaturen in Spanien und Portugal endeten, prangt immer noch eine große, anscheinend unüberwindbare Kluft zwischen der iberischen Halbinsel und dem Rest Europas. Im Roman ist es dann auch die EU, die schnell die Motivation verliert, den Bewohnern der Insel zu helfen. Allein die USA treten als Heilsbringer auf, denn sie sind es, die den im Stich gelassenen Ländern Hilfe anbieten. Ebendiese war es auch, die die tatsächliche Annäherung Spaniens an den Rest Europas und die EU vorangetrieben hat und so kann man den Roman durchaus als Gleichnis auf reale politische und gesellschaftliche Zusammenhänge lesen.

 

Beinahe mythisch wird hier der Bruch Spaniens und Portugals vom Rest Europas erzählt. Magisch muten die Vorgänge an, die geschehen, dabei ist der Ton jedoch nicht belehrend, sondern ironisch und unterhaltsam. Die Erzählung suggeriert einen mündlichen Vortrag, in dem sich der Erzähler manches Mal unterbricht und feststellt, dass man die Geschichte auch anders erzählen könne. Geprägt sind seine Ausführungen jedoch durch Schachtelsätze und so wird sein Vortrag durch viele kleine Nebensätzen zersetzt, die die Lektüre schnell anstrengend werden lassen und den Genuss der Geschichte deutlich schmälern.

 

"Das steinerne Floß" erschien erstmals in deutscher Übersetzung 1990 im Rowohlt Verlag. Acht Jahre später wurde José Saramago der Literaturnobelpreis verliehen.

 

 

 

José Saramago: Das steinerne Floß

Roman, aus dem Portugiesischen von Andreas Klotsch

Taschenbuch, 400 Seiten

Atlantik Verlag, Hamburg 2015

...liest gerade "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek

Sie ist Klavierlehrerin, er ist ihr Schüler.
Nach und nach kommen sie sich näher, doch etwas steht zwischen ihnen, etwas, was nicht überwunden werden kann: Es ist ihre Mutter und all das, was sie in ihrer Tochter angerichtet hat.

 

Bereits als Kind wurde Erika Kohut von ihrer Mutter dazu ausersehen, eine Berühmtheit zu werden. Und so drillte sie das Kind dazu, Pianistin zu werden. Doch der große Erfolg blieb aus und so gibt sie zwar hin und wieder öffentliche Konzerte, verdient ihr Geld jedoch als Klavierlehrerin.

 

Viel schlimmer als die Erfolgslosigeit wiegt jedoch etwas anderes. Denn aus der emotionalen Kontrolle ihrer Mutter konnte sich Erika niemals lösen, auch nicht mit 36 Jahren. Immer noch lebt sie mit ihrer Mutter auf engstem Raum zusammen und hat dadurch eine fatale und abnormale Beziehung zu ihr entwickelt. Es ist eine Hassliebe, die Erika an die Mutter bindet. Sie ist eingeschnürt in Zwänge, aus denen sie nicht hinausfindet und die unterdrückte Gefühle evozieren, die sich gegen sie selbst richten. Als ihr eines Tages ein junger Schüler Avancen macht, überfordert sie das. Nur schüchtern lässt sie sich auf seine Annäherungsversuche ein. Doch dann bricht in ihr durch, was sich seit Jahren in ihr angestaut hat.

 

Mein erstes Buch von der Autorin und ich bin schockiert.
Schockiert, dass ich noch nie in den Genuss der sprachmächtigen Prosa Jelineks gekommen bin. Wunderbare Bilder geben sich die Hand und fließen ineinander über, ausgefeilte Assoziationen und Metaphern wechseln sich ab. Und auch wenn genau das die Lektüre anstrengend macht, so ist es doch ein Lesevergügen!

 

Wortgewaltig leuchtet der Roman die Geschichte einer misslichen Verbindung zwischen Bestrafung und Lust, zwischen Demütigung und Aufbegehren aus. Seit Kindesbeinen dressiert und kontrolliert entwickelt die Tochter ein abnormales Verhältnis zur Lust, das im Verlangen nach Bestrafung und Züchtigung mündet, in Sadomasochismus und Zerstörung. Dazu reflektiert der Roman kritisch Gesellschaft und Bürgertum, Rollenbilder und ihre Zuweisungen, jedoch nicht plakativ, sondern stets sarkastisch und amüsant, wenn auch zutiefst bedenklich.

 

 

 

Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin

Roman

Taschenbuch, 336 Seiten

rororo, Hamburg 1986 (1. Auflage)

...liest gerade "Schande" von J.M. Coetzee

Ein Literaturprofessor, der seine Studentin verführt.
Eine Anklage, die ihn die Stellung kostet.
Und ein Gewaltverbechen, das sein Leben verändern wird.

 

David Lurie lebt in Kapstadt. Tagsüber mimt er den Professor für Kommunikationswissenschaften, eine Arbeit, der er nur halbherzig nachgeht, da ihm nicht nur die faulen Studenten zuwider sind, sondern sein eigentlicher Fokus vielmehr auf der Literatur liegt. Abends und nachts vergnügt er sich mit Prostituierten, stellt ihnen nach, wenn sie nicht mehr an den berüchtigten Orten erscheinen, und belästigt sie. Eines Tages beginnt er eine Affäre mit einer Studentin. Halb gewollt, halb gezwungen gibt sie sich ihm hin. Durch Freund und Eltern kommt es zu einer Anzeige, die schnell Kollegen und Studenten gegen ihn aufbringt. Da er keinerlei Reue zeigt, obwohl er sich in allen Anklagepunkten schuldig bekennt, verliert er schließlich seinen Job.

 

Um Abstand zu gewinnen, fährt er aufs Land zu seiner Tochter. Sie lebt allein, nachdem sie sich von ihrer Freundin getrennt hat, und betreibt eine Farm. Nur Petrus, ein Angestellter des Hofes, lebt in nächster Nähe, ein wortkarger Mann, dem David aufgrund seiner Hautfarbe von Anfang an misstraut. Scheint der Aufenthalt anfangs noch idyllisch, gerät David plötzlich in eine Gewaltspirale, die sein Weltbild erschüttert und das Verhältnis zu seiner Tochter in die Knie zwingt. Verzweifelt steht er vor ihr und versteht sie nicht mehr, denn nach einem brutalen Überfall trifft sie immer mehr Entscheidungen, die er nicht nachvollziehen kann, und ordnet sich schließlich ihren Peinigern unter.

 

Schonungslos beschreibt Coetzee die immer noch anhaltenden und nun neueinsetzenden Missstände in Südafrika nach dem offiziellen Ende der Apartheid, beschreibt die Entwicklung des Landes, das sich nun andere Opfer sucht und doch beim gleichen Schema von Herr und Knecht bleibt, beschreibt den Hass, der sich zwischen den Menschen eingebrannt hat und nach Blut dürstet, und beschreibt letztlich einen Generationenkonflikt rund um das Erbe der Apartheid. Zudem spiegeln sich in den großen Themen, die der Roman beleuchtet - das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Schwarz und Weiß, Vater und Tochter, Täter und Opfer - Ungnade und Schande (Originaltitel: "Disgrace") gegenseitig wider und skizzieren am Ende den Beginn von etwas Neuem, den Anfang einer neuen Epoche.

 

Ein beklemmender Roman vom Nobelpreisträger Coetzee, schwer verdaulich und ärgerlich, doch packend und interessant, geschrieben in einem beinahe lapidaren, lakonischen, auf jeden Fall sehr gradlinigen Stil, ausgezeichnet gar mit dem Booker Preis 1999. Lesenswert, aber beunruhigend und verstörend.

 

 

 

J. M. Coetzee, Schande

Roman, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

Taschenbuch, 288 Seiten

Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2001

...liest gerade "Für immer die Alpen" von Benjamin Quaderer

Johann Kaiser ist untergetaucht.
Im Zeugenschutzprogramm blickt er auf sein Leben zurück und dabei wird ihm eines klar: Wenn die Falschen ihn finden, ist seine Geschichte vorbei, bevor er sie zu Ende erzählt hat.

 

Johann Kaiser schreibt seine Memoiren. Er erzählt von seiner Kindheit in Liechtenstein, diesem kleinen Staat zwischen der Schweiz und Österreich, wo jeder jeden kennt, er erzählt vom frühen Verlust seiner Mutter, den er nicht wahrhaben will und auf deren Suche er sich Zeit seines Lebens befindet, und er erzählt von dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der ihn mit solch Gleichgültigkeit behandelt, als wäre er nicht sein Sohn. Er erzählt von den Waisenhäusern, in denen er sein Dasein fristen musste, obwohl er bereits als Kind hoch veranlagt, wenn nicht sogar genial war.

 

Eines Tags findet er eine große Fürsprecherin, die ihn aus der Kälte der Heime herausholt. Es ist keine geringere als die Fürstin von Liechtenstein, die ihm eine angemessene Erziehung und ein sorgenfreieres Leben beschert. Allerdings wird genau diese Verzahnung mit dem Herrscherhaus die Grundsteinlegung für ebenjenes zwiespältige Verhältnis zur Heimat, das ihm zum Verhängnis wird.

 

Als die Fürstin stirbt, sucht er nach Halt in einer Welt, die ihm keinen Halt schenkt und irrt umher. Er versucht sein Umfeld zu bezirzen, prahlt, gibt sich als reicher Erbe aus, kauft Häuser und Yachten, bis er auf die Falschen stößt, die ihn nach Argentinien entführen, gefangenhalten und misshandeln. Nach seinem Martyrium will er Gerechtigkeit, die der Staat Liechtenstein ihm jedoch größtenteils verwehrt. Und als wäre es ein Wink des Schicksals, fallen ihm plötzlich die Steuersünderdatein Liechtensteins in die Hände, mit denen er seinem Wunsch nach Gerechtigkeit Nachdruck verleihen kann.

 

"Für immer die Alpen" ist wahrscheinlich das erstaunlichste Debüt, das ich jemals gelesen habe. Es ist die Lebensbeichte Johann Kaisers, der in der Verbannung lebt, einsam und verlassen, und nur weiter leben kann, solange er erzählt und so lange seine Geschichte weiter erzählt wird. Erzählt wird aber auch mit viel Fachwissen über den tatsächlichen Fall von Heinrich Kieber, dessen Lebensgeschichte den Grundstock der Erzählung bildet.

Es ist ein Hochstaplerroman, beinahe ein Schelmenroman, der mit allerlei literarischen Tricks spielt. So gibt es geschwärzte Passagen, Unmengen an Fußnoten, die mal mehr, mal weniger Sinn ergeben, EMails, doppelte Geschichten, synoptische Gegenüberstellungen, Auszüge aus Sachbüchern und vieles mehr. Dem Leser bietet sich während der Lektüre ein Sammelsurium an literarischen Einfällen, die die Literatur in ihrer ganzen Fülle neben stringend erzählten Welten zu bieten hat.

 

Der Roman ist witzig, schräg, verrückt, großartig und größenwahnsinnig. Er ist mutig und verspielt und von einer besonderen Leichtigkeit des Erzählens durchzogen. Ein Roman über Liechtenstein und seine Machenschaften. Ein Roman über die Literatur und ihre Möglichkeiten. Ein Roman über das Erzählen und dessen Sinn.

Vielleicht wiederholen sich manche Spielchen zu oft, vielleicht sind manche Stellen nicht ganz ausgefeilt, und trotzdem ist es für mich einer der großartigsten und ambitioniertesten Romane dieses Jahres!

 

 

 

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen

Roman

Hardcover, 592 Seiten

Luchterhand Verlag, München 2020

Auf der Suche nach der verlorenen Gelassenheit

Heute aus der kleinen Bibliothek der Weltweisheit: Seneca.

Was kann man gegen diese Unruhe und Unrast, gegen diese Unzufriedenheit und Unausgeglichenheit im Leben machen?

Seneca stellte vor beinahe 2000 Jahren schon etliche Tipps auf, die in heutigen Lebensratgebern immer wieder als neuzeitliche Erkenntnis gepriesen und stets aufs Neue aufgelegt werden.

Er rät dazu, seine Begabung zu finden und daran festzuhalten, ohne Druck seinen Talenten nachzugehen, auf naheliegende und erreichbare Ziele hinzuarbeiten, sich aber auch Ruhepausen und Abwechslung hinzugeben. Zudem sollte man richtige Freunde wählen und negative Personen meiden. Ebenso ist es von Vorteil, wenig zu besitzen, Genügsamkeit zu lernen, im Hier und Jetzt zu leben und Vergänglichkeit und Tod zu akzeptieren. Man sollte Mut zu Veränderung aufbringen, da sich ohnehin alles stets im Wandel befindet. Und man sollte besser über die Dinge lachen als über sie zu jammern. Letzlich ist es besonders wichtig, Kraft und Freude aus sich selbst zu ziehen und sich nicht hinter einer Maske zu verstecken.

"Lernen wir, die Enthaltsamkeit zu steigern, der Genußsucht Schranken zu setzen, das Streben nach Anerkennung zu mäßigen, den Jähzorn zu dämpfen, die Armut gelassen zu betrachten, die Genügsamkeit in Ehren zu halten, auch wenn sich so mancher ihrer schämen wird, den natürlichen Bedürfnissen durch leicht zu beschaffende Mittel Befriedigung zu verschaffen, ungezügelte Hoffnungen und Einstellungen, die ständig auf Künftiges ausgerichtet ist, gleichsam in Fesseln zu halten und es dahin zu bringen, daß wir Reichtum mehr von uns selbst als vom Schicksal erwarten."

Vielleicht sollte man öfter in die klassischen Schriften der Philosophie eintauchen, um in die Erkenntnisse des Lebens einzublicken, die heute noch genauso aktuell sind wie damals.

 

 

 

...liest gerade "Hunger" von Knut Hamsun

Mal wieder Zeit für einen echten Klassiker!

 

Einfach ein atemberaubender Roman! Die Darstellung von Hunger gelingt hier so überzeugend, plastisch und ausdrucksvoll, dass man während der Lektüre selbst mithungert und das wilde Knurren im Magen nicht unterdrücken kann. Durch die damalige neue Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms spürt man geradezu in jeder Faser die Zerrissenheit zwischen Scham und Stolz, zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, zwischen Verdruss und Hoffnung, die den Protagonisten zersetzt und immer weiter an den Rand der Gesellschaft drängt.

 

Es ist die Geschichte eines verarmten (Überlebens-)Künstlers, die die gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwirft und mitten hinein in die Frage zielt: Was ist Kunst und was ist Dilettantismus? Braucht Kunst einen besonderen Nährboden, um zu entstehen? Entsteht sie erst durch Ablehnung, durch Armut und Existenznöte? Erfährt man Inspiration erst durch Leid und Verdruss? Oder sind das nur schwachsinnige Gedankengänge eines obdachlosen Dilettanten?

 

Besonders spannend ist die Fragestellung hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Romans, denn Knut Hamsun litt selbst an Hunger, während er die Geschichte schrieb, die ihm ab 1890 zu seinem weltweiten Ruhm verhalf.

 

Ein herausragender Roman, witzig und zugleich erschreckend!

 

 

 

Knut Hamsun: Hunger

Roman, aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel

Taschenbuch, 160 Seiten

Ullstein Verlag, Berlin 2017

Zum Gedenken an Paul Thomas Mann

Der Zauberer. Der Stilist. Der Ironist. Der Schriftsteller des Großbürgertums. Der raunende Beschwörer des Imperfekts. Der Nobelpreisträger. Der Exilant. Der Mythologe. Der Kämpfer gegen das Dritte Reich...

 

PAUL THOMAS MANN

 

Heute wird der 145. Geburtstag des Schriftstellers begangen, einer der größten und bedeutsamsten des letzten Jahrhunderts. In einer bewegten und von tiefen Umwälzungen beeinflussten Lebenszeit, die vom alten Kaiserreich über den 1. Weltkrieg, die Weimarer Republik und den 2. Weltkrieg bis in die Anfänge des Kalten Krieges reichte, lebte er ein durchaus bewegtes Leben, geprägt durch Großbürgertum, Zerrissenheit zwischen Künstlertum und Bürgerlichkeit, Verwerfungen mit seinem Bruder Heinrich angesichts seiner eigenen Treue für das Kaiserreich, Arrangement mit der ersten deutschen Demokratie, Flucht und Vertreibung durch die Barberei des Nationalsozialismus, Verlust der Heimat und Leben im Exil, Kampf gegen das Dritte Reich sowie geprägt durch eine große, zwischen Genie und Wahnsinn wankenden Familie, deren schmerzhaftester Höhepunkt sicherlich der Freitod des Sohnes Klaus darstellte.

 

Biographien, Filme, Dokumentationen gibt es zuhauf über Thomas Mann im Speziellen, als auch über die ganze Familie. In all den Annäherungen an den Mythos Thomas Mann, in all den Spekulationen über Homosexualität, Familienbande und politische Einstellungen bleibt seine literarische Leistung jedoch unvergessen, darunter besonders seine beiden Romane "Buddenbrooks", mit dessen Geschichte über den Verfall einer Kaufmannsfamilie er die Epoche des literarischen Realismus beschloss und für den er schließlich Jahre später den Nobelpreis erhielt, als auch "Der Zauberberg", dieses philosophische und politische Großwerk im Stile eines opulenten und ausschweifenden Bildungsromans. Unerwähnt bleiben darf natürlich auch nicht seine Novelle "Der Tod in Venedig", in der er seine Lieblingsthemen vereinte: Künstlerproblematik, Mythologie, Dekadenz und Tod.

 

Vor beinahe 10 Jahren schrieb ich meine Magisterarbeit allerdings über ein Spätwerk Thomas Manns. "Doktor Faustus" greift nicht nur den Faustmythos auf, den Pakt mit dem Teufel, um in Verzicht auf menschliche Wärme und Nähe unmenschliche Kreativität zu erlangen, sondern ist ebenso ein Epochen-, Gesellschafts-, Künstler- und vor allem Musikroman. Scharfsinnig, stilistisch brillant und ironisch gebrochen wird hier das Leben von Adrian Leverkühn erzählt, der - angelehnt an Nietzsche - an der Syphilis erkrankt und sein Leben der Kunst widmet.

 

Auch 145 Jahre nach seiner Geburt sowie 65 Jahre nach seinem Tod sind die Werke Thomas Manns immer noch eine literarische Reise wert, die ich nur jederfrau und jedermann empfehlen kann.

 

 

 

...liest gerade "Der Report der Magd" von Margaret Atwood

Der Präsident wurde erschossen - und mit ihm gleich der ganze Kongress.
Folgerichtig wird der Notstand ausgerufen und die Verfassung aufgehoben.
Nur wenige demonstrieren gegen die immer drastischeren Verfügungen und nur wenige lehnen sich auf, als schließlich auch die Rechte der Frauen beschnitten werden.
Und plötzlich ist die da - die Diktatur.

 

Desfred (im Original: Offred) ist 33 Jahre alt. Sie arbeitet als Magd bei einem Kommandaten. Da die Geburtenzahlen schon seit langem zurückgehen, vermutlich durch die erhöhte Radioaktivität in der Atmosphäre, besteht ihre einzige Aufgabe darin, Kinder zu bekommen. Und so soll sie dem Kommandaten einen Spross schenken. Beim zeremoniellen Akt legt sich die Ehefrau des Kommandanten hinter die Magd und hält sie fest, so dass jene symbolisch geschwängert wird und die Magd nur als Vermittlerin gilt, die das Kind des Ehepaares austragen soll.

 

Mädge gibt es viele in dieser schönen neuen Welt und sie alle führen ein karges Leben. Nach der Indoktrination durch sogenannte Tanten, die Vertrauenspersonen und (Um)Erzieherinnen in einem sind, sollen die jungen Frauen von Haus zu Haus geschickt werden und ihren Vorstehern Nachkömmlinge schenken. Beziehungen zu anderen Menschen sind ihnen verboten, überall lauern Wächter und Augen, die Gesetzesübertretungen ahnden. Als Abschreckungen dienen nicht nur die Kolonien, in denen die Verbannten unter lebensunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, sondern auch öffentliche Hinrichtungen.

 

Desfred lebt in einem diktatorischen Patriarchat, wenn auch nicht alle Männer über gleiche Rechte verfügen. Erinnerungen bestürmen sie manches Mal, Erinnerungen an das alte Leben, das Leben mit ihrer Mutter, mit ihrem Freund, mit ihrem Kind. Seit ihrem Fluchtversuch vor ein paar Jahren weiß sie nicht, wie es ihnen ergeht oder ob sie überhaupt noch leben. In ihrer ausweglosen Situation denkt sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Doch dann bietet sich plötzlich unverhofft eine Gelegenheit, dem Albtraum zu entkommen. Fragt sich nur, ob sie die Chance nutzen wird.

 

Bereits 1985 erschienen, wird "Der Report der Magd" gerne mit "1984" von Orwell und "Brave New World" von Huxley in einem Atemzug genannt. Haben mich die ersten beiden Romane vor Jahren noch fasziniert, hat mich die Geschichte um Desfred nicht recht packen und berühren können. Womöglich ist es der Tasache geschuldet, dass ich Dystopien immer weniger abgewinnen kann, da sie einem immer gleichen Schema folgen. Die Charaktere waren mir auf jeden Fall zu blass, die Geschichte, besonders hinsichtlich des Gesellschaftsmodells, um das sich hier ja alles dreht, zu dürftig. Allerdings hat mich das Ende (hervorragend!) mit dem Roman versöhnt und die bohrenden Fragen nach Erzählhaltung und Absicht des Reportstils beruhigt.

 

Auch wenn ich nicht so begeistert bin, wie der große Rest der Leserschaft, ist der Roman nichtsdestotrotz eine gelungene Dystopie, die besonders durch den Fokus auf ein diktatorisches Patriarchat und damit auf die Unterdrückung der Frau leider nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat.

 

 

 

Margaret Atwood: Der Report der Magd

Roman

Taschenbuch, 416 Seiten

Piper Verlag, München 2017