...liest gerade „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier

Ein Auftragsmörder, der sich akribisch auf seine Opfer vorbereitet.

Ein Rapper, der im größtenteils homophoben Nigeria Männer liebt.

Ein Mädchen, das nicht mit seinem Vater allein gelassen werden will.

Und die FBI, die alle an einen geheimen Ort bringt.

Denn es gibt ein Problem – sie existieren doppelt.

 

Im März 2021 befindet sich eine Boeing 787 der Air France auf dem Weg von Paris nach New York, als sie über dem Atlantik in ein heftiges Unwetter gerät. Die Turbulenzen sind so stark, dass etliche Passagiere mit ihrem Leben abschließen. Im Cockpit bricht der Funkkontakt zur Außenwelt ab, die Instrumente spielen verrückt, doch die Panik hält nur wenige Augenblicke. Das elektromagnetische Gewitter verliert sich so schnell, wie es gekommen war.

 

Gerade als sich Erleichterung breitmachen will, steigen zwei Abfangjäger neben dem Flugzeug auf und leiten die Maschine zu einem Luftwaffenstützpunkt um. Dort zwingt man die Passagiere in Quarantäne. Unter strenger Beobachtung müssen sie im Trakt verharren, dürfen nicht hinaus, nicht telefonieren. Sie werden festgehalten, ohne Anklage, ohne Grund, bis etwas durchsickert, das unmöglich erscheint: Dasselbe Flugzeug ist bereits vor drei Monaten gelandet – mit denselben Passagieren. Jeder Einzelne von ihnen existiert also doppelt.

 

Was zu Beginn wie ein halbgarer Thriller anmutet, da man den Spuren eines Auftragsmörders folgt, entpuppt sich mit der Zeit…als halbgarer Thriller. Das ist also der Roman, von dem alle sprechen? Puh…was für eine Enttäuschung! Da hilft auch der Prix Goncourt nicht, den er 2020 erhalten hat.

 

Natürlich ist die Geschichte interessant: ein Flugzeug, das sich samt seiner Passagiere verdoppelt hat. Die Zweitgelandeten werden mit einem Ich konfrontiert, das ihnen drei Monate voraus ist, und schauen in ihre eigene Zukunft. Was würde man tun, wenn man seine Zukunft kennte? Was, wenn man einen Doppelgänger hätte? Was ist das Leben, ja was sind wir? Ist alles nur eine groß angelegte Simulation, von höheren Wesen ersponnen?

 

Philosophische Fragen werden aufgeworfen, doch sie kommen hier so beschränkt daher, so altbacken und oberflächlich, dass man sich tatsächlich fragt, wie dieser Roman solch ein Erfolg werden konnte. Schon Matrix setzte sich vor über zwanzig Jahren eingehender mit der Simulationstheorie von Nick Bostrom auseinander, als dieser Roman es tut.

 

Das größte Problem des Romans liegt allerdings in den Charakteren. Jede Erzählung knirscht, wenn sie sich zu sehr auf die Story fokussiert und Figuren als Statisten missbraucht, um einen gewünschten Effekt zu transportieren. Zwar sind die Charaktere bunt gemischt, doch bleibt nicht nur der Ton immer derselbe, sondern auch ihr Leben seltsam blass. Die Figuren, aus denen erst wahre motivierte Handlung entsteht, werden zu Pappkameraden, die die sonderbare Story tragen sollen.

 

Stellvertretend für die lahme und an vielen Stellen plumpe Unterhaltung ist eine Szene, in der sich Vertreter aller Religionen treffen, um über Wesen und Sinn des Lebens zu diskutieren, eine Szene, die ein Kind hätte schreiben können und sie wäre wahrscheinlich besser gelungen.

 

Mag sein, dass ich dem Roman wegen der enormen Erwartungshaltung, gespeist aus den unzähligen überschwänglichen Kritiken, ein wenig Unrecht tue, doch mehr als etwas zerstreuende Unterhaltung bietet er auf keinen Fall.

 

 

 

Hervé le Tellier: Die Anomalie

Roman, aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte

Hardcover, 352 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2021