Die Banalität des Bösen - "Das kalte Blut" von Chris Kraus

Anhand der Geschichte zweier Brüder, die sich durch eine Stiefschwester zu einer ménage-à-trois erweitert, entwirft Chris Kraus in seinem neuen Roman ein buntes Panorama der deutschen Geschichte im letzten Jahrhundert, das den Blick vom Ende des Zarenreichs und der Russischen Revolution im Baltikum über das Dritte Reich sowie den zweiten Weltkrieg bis hin zur Bonner Republik schweifen lässt.

 

 

Die Handlung des Romans setzt in einem Krankenhauszimmer im Jahre 1974 ein. Koja Solm, ein in die Jahre gekommener Deutschbalte, liegt mit einer Kugel im Kopf im Bett und unterhält sich mit seinem Zimmergenossen, einem jungen Hippie der 68er Flower-Power-Generation. Als Koja eines Tages Besuch von seinem Bruder Hub erhält und es zu einem Wortgefecht und einer handgreiflichen Auseinandersetzung kommt, löst dies eine Flut an Erinnerungen in Koja aus. Fortan erzählt er seinem Zimmergenossen seine Geschichte, eine Geschichte, die drei Protagonisten kennt, so witzig und unterhaltsam, zugleich so abscheulich und schwer verdaulich ist, dass im Laufe der Zeit nicht nur der Hippie, sondern auch der Leser vom Glauben abfällt. Immer schrecklichere Begebenheiten und Situationen fördert der Ich-Erzähler aus den Ruinen seiner Vergangenheit zutage und entwirft dadurch einen Roman seines Lebens, der unglaublich erscheint und doch fest mit der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts verbunden ist.

 

 

DIE GESCHICHTE DER SOLMS ALS GESCHICHTE DEUTSCHLANDS

 

Koja und sein älterer Bruder erblicken am Vorabend der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in Lettland das Licht der Welt. Der Geburtstag Kojas, der 9. November, ist damals zwar noch unbelastet, da es jedoch für die weitere Entwicklung Deutschlands ein so bedeutungsträchtiges Datum darstellt, wirft die kommende Geschichte bereits ihre Schatten voraus. Durch die Wirren des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution erhalten sie eine Stiefschwester, genannt Ev, in die sich beide im Laufe der Jahre verlieben. Koja ist der einfühlsamere der Brüder, Hub dagegen der bestimmendere und kraftvollere Part. Durch die gefühlte oder tatsächliche Unterdrückung der Deutschen in den baltischen Ländern sowie durch Geldsorgen und Abenteuerlust gelangt Koja durch seinen Bruder zur SD, dem Geheimdienst der SS. Beide steigen die Karriereleiter weit nach oben, sind im engen Kontakt mit SS-Obergruppenführer Heydrich und dem Reichsführer SS Himmler. Auch andere Nazigrößen lernen sie kennen und schätzen. Im Dritten Reich laden sie schließlich immer mehr Schuld auf sich, begehen schlimmste Gräuel und sind an Massakern sowie ungeheuerlichen Verbrechen beteiligt. Bei alledem stellt Hub den Überzeugungstäter dar, während Koja eher den Mitläufer verkörpert. Auch Ev macht sich schuldig, reflektiert jedoch zu einem späteren Zeitpunkt ihr Handeln und bildet dadurch einen Gegensatz zu den Brüdern. Zwischen den drei Protagonisten entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Hassliebe, die in falschem Spiel, Lug und Betrug, Verrat und Hinterlist mündet und schließlich in einem Erschießungskommando und einer versehentlich abgegebenen, jedoch tötlichen Kugel ihren Höhepunkt findet.

 

Während sich die Schlinge um die drei immer enger spannt, wird Koja im Krieg Geheimagent, operiert in Frankreich und Russland, gerät am Ende des Zweiten Weltenbrands in russische Gefangenschaft und wird gezwungen mit dem KGB zu kooperieren. Als er freikommt und in das verwüstete Nachkriegsdeutschland zurückkehrt, wird gerade der neue deutsche Geheimdienst von der CIA aufgebaut, deren Führer die neuen Mitarbeiter aus der ehemaligen SS rekrutieren. So arbeitet Hub bereits für den neuen Geheimdienst und holt seinen Bruder ins Boot. Koja macht erneut Karriere, nun als Agent des BND und, da er immer noch für den KGB arbeitet, nunmehr als Doppelagent. In den weiteren Jahren bringt er es sogar bis nach Israel und arbeitet für den Mossad, ist schließlich Dreifachagent und verrät am Ende alles und jeden, hintergeht gar seinen Bruder und seine Schwester, bis ihn selbst eine Kugel in den Kopf trifft und sein falsches Leben beendet.

 

 

DAS GIFT DES NATIONALSOZIALISMUS ALS FUNDAMENT UNSERER REPUBLIK

 

Was nun nach einem packenden und verwirrenden James-Bond-Thriller klingt, sind zum großen Teil historisch verbürgte Fakten, eingebettet in eine fiktive Familiengeschichte. Auch wenn die agierenden Personen frei erfunden sind und ihre Geschichte nur zu einem kleinen Teil auf dem Leben des Großvaters von Chris Kraus beruht, so sind doch die aufgezeigten Umstände durch historische Fakten belegt. Fakten, die den Leser bis ins Mark erschüttern.

 

Von der SS zusammengetriebene jüdische Männer, Frauen und Kinder schaufeln ihr eigenes Grab.
Von der SS zusammengetriebene jüdische Männer, Frauen und Kinder schaufeln ihr eigenes Grab.

Denn dieser Roman ist ein Täterroman und wirft ein Licht auf das schwarze Kapitel deutscher Geschichte im letzten Jahrhundert. Nicht nur das Naziregime und seine Machenschaften gilt es als Leser zu verdauen, auch die Bonner Republik, in der alte SS-Schergen bruchlos in beste Posten aufsteigen konnten und dabei halfen, den deutschen Staat wiederaufzubauen. Man erhält einen verstörenden Einblick in die Kräfte und Machenschaften, aus denen Deutschland wieder-auferstanden ist. Schonungslos wird dem Leser vor Augen geführt, wie viele NS-Täter nahtlos in die neue Ordnung integriert wurden, ohne jemals für ihre Verbrechen belangt worden zu sein, ja mehr noch, wie viele Mörder in der Bonner Republik wieder zu Ruhm und Ehre gelangten, indem sie die neue Demokratie aufbauten und dabei falscher Kameradschaft, Überlegenheitsgefühl, Rassismus und Spießbürgerlichkeit weiter frönen durften. Unfassbar ist es mitanzusehen, wie das Gift der nationalsozialistischen Ideologie in die neu gegründete Republik eindringt und diese zersetzt. Bekannt war dieses Phänomen bislang von Juristen oder Beamten, nicht jedoch von Agenten oder schwersten SS-Verbrechern. Ebenso lassen einen die nun neuen demokratischen Politiker, die sich nicht davor scheuten, mit ehemaligen Verbrechern zusammenzuarbeiten und in ihren Stab zu beordern, wenn es ihnen nutzte, die sogar durch Abstimmungen im Bundestag ehemalige Verbrecher schützten, mit offenem Munde zurück. Lug und Trug, Verrat und Unwahrheit sowie Schuld und Verdrängung sind nicht nur die Fundamente dieses Romans, sondern auch unserer deutschen Republik.

 

 

EIN TIEFER ABRGUND

 

Das eigentliche Besondere am Roman ist jedoch die tiefe Diskrepanz, die er aufwirft. Zwischen dem WIE und dem WAS der Erzählung klafft so ein tiefer Abgrund, dass man sich unweigerlich darin verliert. Der sympathische Ton des Ich-Erzählers ist unvereinbar mit dem, was er erzählt, und bringt dadurch die ganze 'Banalität des Bösen' zum Vorschein. Man erwischt sich immer wieder dabei, Sympathie für Koja zu empfinden, da er alles aus scheinbar hehren Absichten getan haben will, besonders aus Gründen der Liebe, und erschrickt im gleichen Moment vor sich selbst, da man seinem schmeichelhaften Ton verfällt.

 

Dabei mutet der Roman wie ein Film an, kommt mit rasant geschnittenen Szenen daher, ist so verdichtet und detailliert zusammengesetzt, wird so packend und aufregend erzählt, dass man nicht zum Atemholen kommt. Auch stilistisch brilliert er, denn Chris Kraus' Sprachgewalt zieht den Leser tief in den Text hinein und lässt ihn nicht mehr entkommen. Der Roman wirft zudem so viele Lesarten auf, dass man sich ihm auf unterschiedlichsten Ebenen nähern kann, denn er ist nicht nur ein Agentenroman, sondern zeitgleich Gesellschafts- und Epochenroman, Liebes- und gar Künstlerroman.

 

In den Lebensschilderungen Kojas, die sich zum Ende immer mehr zu einer Lebensbeichte ausweiten, steckt neben humoristischen und witzigen Einlagen so viel Grausamkeit, dass sich nicht nur sein Zimmergenosse, der durch seinen praktizierten Buddhismus eigentlich jedem Lebewesen zugetan ist, von ihm abwendet, sondern auch der reflektierte Leser.

 

 

FAZIT

 

Mich hat der Roman begeistert, gerade weil er diese ungeheuerliche Diskrepanz schafft, in der viele Kritiker eine Angriffsfläche sehen. Doch genau diese macht den literarischen Mehrwert des Romans aus, auch wenn Chris Kraus uns einiges dadurch zumutet. Nicht nur die Seitenanzahl von 1200, sondern eben diese schonungslose Offenlegung deutscher Vergangenheit, gespickt mit humoristischen Einlagen, lassen jeden Leser erzittern. Der einzige Kritipunkt an diesem Opus magnum liegt meines Erachtens darin, dass es sich gegen Ende ein wenig im Agentenkomplott verliert und man nach tausend Seiten nicht mehr weiß, für welche Seite Koja nun eigentlich arbeitet, ob für den KGB, die CIA, den BND, den Mossad oder nur für sich selbst.

 

Dennoch sei jedem, der einen aufregenden und kontroversen Roman sucht, der sich für deutsche Geschichte interessiert und dabei einiges ertragen kann, der eine Geschichte wie einen Film lesen möchte, packend und humorvoll, zugleich jedoch an Dramatik und Grausamkeit nicht zu überbieten, dieses Buch ans Herz gelegt!

 

Allen anderen sei es ebenso empfohlen!

 

 

 

 

Chris Kraus: Das kalte Blut
Roman
Gebunden, 1.200 Seiten
Zürich: Diogenes Verlag 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages

 

 

Bildnachweis: Bundesarchiv, Bild 183-A0706-0018-029 / CC-BY-SA 3.0// Quelle: Wikimedia Commons