...liest gerade "América" von T.C.Boyle

Als Delaney den Canyon hinaufkurvt, geschieht es. Aus dem Busch am Wegesrand springt eine dunkle Gestalt vor seinen Wagen. Delaney kann nicht mehr ausweichen - es gibt einen dumpfen Knall und das Auto kommt zum Stehen. Unter Schock steigt er aus und findet einen schwerverletzten Mann im Graben liegen. Er will den Krankenwagen rufen, doch der Mann winkt ab und bäumt sich unter Schmerzen wieder auf. Um sein Gewissen zu beruhigen, drückt Delaney ihm 20 Dollar in die Hand und verschwindet. Auch der Mann wankt davon - blutüberströmt. Er will so wenig Aufmerksamkeit wie möglich provozieren, denn er ist Ausländer. Mexikaner. Ein Mensch zweiter Klasse.

 

Mit diesem Unfall beginnt der Roman, in dem anhand wechselnder Perspektiven die Lebenswirklichkeiten zweier Einwohner Kaliforniens kontrastiert werden. Da stehen auf der einen Seite Delaney und seine Frau, die über den Dächern von Los Angeles leben, in einem abgeschirmten Villenviertel auf den Hügeln im Hinterland. Sie geben sich weltoffen, umweltbewusst, liberal und achten penibel auf die Ernährung ihres Kindes. Auf der anderen Seite stehen Cándido und seine junge Frau, zwei illegale Immigranten aus Mexiko, die in den Canyons wie Hunde hausen und ums Überleben kämpfen, indem sie ihre Arbeitskraft für wenige Dollar zur Verfügung stellen. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft und werden doch nur ausgebeutet und fortgewünscht.

 

Obwohl schon 1995 geschrieben, hat der Roman nichts an seiner Aktualität und Brisanz eingebüßt. Es geht um Migration und Flüchtlinge, Rassismus und Abschottung, das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, täglichen Überlebenskampf und slavereiähnliche Ausbeutung und natürlich - Donald Trump lässt grüßen - auch um die Mauer. Durch den klug inszenierten Perspektivwechsel wirken dabei die Probleme der Reichen wie Hohn im Leben der Armen. Auch die Doppelmoral der Oberschicht tritt zutage, denn einerseits fühlen die Bürger mit den "armen Schweinen", andererseits profitieren sie von der billigen Arbeitskraft der Migranten und fühlen sich zunehmend bedroht von den Fremden, die ihre Umgebung bevölkern. Zum Ende hin treibt Boyle das Szenario immer weiter auf die Spitze, so dass man sich eines Grinsens nicht erwehren kann. Als zum Schluss auch noch die Natur zuschlägt, überstürzen sich die Ereignisse.

 

"América" ist ein witziger, unterhaltsamer, dennoch ernster und politischer Roman, der die Auswirkungen und Probleme der Migration mit viel Sarkasmus aufzeigt.

 

 

 

T.C. Boyle: América

Roman, übersetzt von Werner Richter

Taschenbuch, 398 Seiten

dtv, München 1998