Auf dem Boden eines tiefen Lochs.
Das Loch hat sie ausgehoben – um sich zu rächen.
Der Vater gibt sich charmant, doch nicht umsonst bewacht die Mutter nachts die Zimmer der drei Töchter. Strenge Regeln herrschen im Haus, die zu brechen fürchterliche Konsequenzen nach sich zieht. Seitdem sie elf ist, gräbt sie deshalb ein Loch im Keller, jede Nacht ein wenig tiefer. Hand für Hand trägt sie die Erde hinaus. Das Loch wird groß und größer und das Mädchen reift heran.
Dann verschwindet der Vater plötzlich. Das Auto ist fort, ein Abschiedsbrief liegt auf dem Tisch. Der Tyrann hat die Familie verlassen. Die Schwere fällt und die Schwestern blühen auf. Sie ziehen aus, befreien sich von den Fesseln und bestimmen ihr Leben fortan selbst. Nur sie muss zu Hause bleiben, muss für die alkoholkranke und bald demente Mutter sorgen – und sie muss sich um den Vater kümmern, den sie in das Loch gestoßen hat. Als er nun tot auf dem Boden liegt, kriecht die Wahrheit langsam hervor und drängt ans Tageslicht.
Sylvia Wages Debütroman ist ein wunderbares Vexierspiel, das kunstvoll mit Wirklichkeit und Fiktion jongliert. Denn schon bald stellen sich Fragen, Fragen nach der Zuverlässigkeit der Erzählerin. Was stimmt eigentlich in der Geschichte, die sie dem Leser in einem lakonischen Plauderton erzählt, als redete sie über Nebensächlichkeiten? Was ist in der Kindheit wirklich vorgefallen? Und wer wusste von ihrer Tat? Oder gab es sie gar nicht, was sie nur eine symbolische Tötung, eine Art gedankliche Katharsis? Je tiefer man sich auf den Grund begibt, desto mehr Unklarheiten ergeben sich. Schon der Titel spielt mit der Ungenauigkeit, kann Grund doch als Boden, als Ursache oder aber auch als Abgrund gelesen werden.
Der Roman erhielt den Blogbusterpreis 2020, ein Wettbewerb, bei dem auch ich teilgenommen habe. Deshalb war es umso interessanter, den Gewinnertitel zu lesen, und nach eingängiger Lektüre muss ich zugeben: Sylvia Wage hat den Preis zu Recht erhalten. Der Roman ist ein mehrschichtiges Psychogramm einer Frau, die sich erst als Täterin Gehör verschaffen kann, da ihr als Opfer nicht geglaubt wird.
Sylvia Wage: Grund
Roman
Hardcover, 176 Seiten
Eichborn Verlag, Köln 2021