...liest gerade "Mr. Lincoln & Mr. Thoreau" von Sebastian Guhr

Zwei Männer - zwei Kontrahenten.

Der eine verlangt nach gesellschaftlichen Regeln, ficht für staatliche Gesetze und nimmt die Gemeinschaft in den Blick.

Der andere flieht die Gesellschaft, lehnt den Staat ab und besinnt sich auf sich selbst.

Zwei Wege – zwei Berühmtheiten – und ein Frage.

 

Abraham Lincoln ist Ende 20, mittel- und ruhelos, als er in einer weit entfernten Kanzlei anheuert. Nachdem er sich als Arbeiter, Landvermesser und Politiker versucht hat, verbeißt er sich in Paragraphen. Planlos scheint er durchs Leben zu irren, ohne rechten Halt, bis er schließlich einer Depression verfällt. Erst der Aufsatz eines scheinbar Verrückten entfacht das Feuer, das ihn letztlich bis ins Weiße Haus voran peitschen wird.

 

Thoreau gilt in seiner Stadt schon lange als entrückt, aber als er eine Hütte im Wald baut, um dort in Einsamkeit und völliger Freiheit zu leben, gilt er als geisteskrank. Er will aus der Gesellschaft aussteigen, lehnt den Staat ab und wird schließlich von diesem verfolgt und eingekerkert. Als seine Familie ihn freikauft, lehnt er sich gegen den Obrigkeitsstaats auf und verfasst seinen berühmten Aufsatz „Über die Pflicht zum Ungehorsam“.

 

Lincoln und Thoreau, zwei Gegenwichte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Durch sie prallen zwei Lebensauffassungen aneinander, die sich diametral und unversöhnlich gegenüberstehen. Und doch eint beide die Suche nach Sinn und einem Platz im Leben.

 

Sebastian Guhr, der Gewinner des Blogbuster Preises 2018, hat mit seinem zweiten Roman einen wirklich großen Wurf gelandet, der nicht nur verborgene Seiten der beiden Berühmtheiten ins Scheinwerferlicht stellt, sondern auch Fragen zu unserer Lebensweise aufwirft. Denn was ist beim Lebensentwurf des Menschen höher zu bewerten? Die individuelle Freiheit oder der Gemeinschaftssinn? Steht über allem das Recht auf die freie Entfaltung, auf absoluten Individualismus? Oder liegt der Zweck des Menschseins im Miteinander, in der Gemeinschaft, in einem Kollektiv, für das der Einzelne Opfer zu bringen hat?

 

„Mr. Lincoln und Mr. Thoreau“ ist für mich die Überraschung des Jahres und wirklich ein Lesehighlight, das nicht nur auf sehr kluge Weise unterhält, sondern auch die heutige Zeit spiegelt und reflektiert.

 

 

 

Sebastian Guhr: Mr. Lincoln und Mr. Thoreau

Roman

Hardcover, 192 Seiten

S. Marix Verlag, Wiesbaden 2021