Eine unerhörte Begebenheit - "Ein Festtag" von Graham Swift

Der neue Roman von Graham Swift wirft die großen Themen der Literatur in kleiner Szene auf. Zwischen Liebe, Tod und Kunst spinnt er die Einzigartigkeit des Augenblicks in eine sinnliche Erfahrung ein, die dem Leichentuch der Vergänglichkeit entrissen wird und noch nach Jahrzehnten im Gedächtnis verweilt. Alles dreht sich um diesen einen Augenblick in der Jugend, durch den das Leben aus der Bahn geworfen zu werden drohte und doch retrospektiv die Essenz des Individuums ausmachte.

 

 

Ein Nachmittag im Jahr 1924, irgendwo in England. Die 22jährige Jane Fairchild, die als Dienstmädchen in einer wohlhabenden Familie arbeitet, verbringt einige Stunden zusammen mit Paul, einem Nachbarsjungen, der als Sprössling eines reichen Hauses der Upperclass angehört. Schon oft haben sie sich getroffen und Intimitäten ausgetauscht, doch dieses Mal ist alles anders, denn dieses Mal wird es das letzte Mal sein.

 

Jane, die als Jugendliche am Ende des ersten Weltkriegs zu der wohlsituierten Familie Niven gekommen ist, pflegt bereits seit Jahren eine Affäre mit Paul.  Heimlich treffen sie sich in Gewächshäusern und Ställen und werden intim. Die Liaison muss allerdings geheim bleiben, nicht nur, weil die Grenzen sozialer Konventionen es verlangen, sondern auch, da Paul bald heiratet. Seine Zukunft steht bereits fest, denn gemeinsam mit seiner Zukünftigen, die dem gleichen großbürgerlichen Stand angehört wie er, wird er nach London ziehen und Anwalt werden.

 

DER REIZ DES VERBOTENEN

 

An diesem Tag - es ist der 30. März 1924, um den sich die ganze Geschichte spannt - ist Muttertag und sowohl die Bediensteten als auch die reichen Herrschaften sind außer Haus. Eigentlich ist es auch Janes freier Tag, doch Paul durchkreuzt ihre Pläne mit einem Anruf, in dem er sie bittet, ihn zu besuchen. Im Bewusstein über das letzte Mal, das sie sich ungeniert treffen werden, fährt Jane aufgeregt und jeden Augenblick genießend zu ihm. Fortan entspinnt sich eine zarte und einfühlsame Liebesbegegnung, in der das Liebespaar für einen Nachmittag die Rollen tauscht. So schlüpft er in die Rolle des Dieners, der sie an der Vordertür empfängt, durch die sie noch nie zuvor schreiten durfte, der ihr wie ein Bediensteter Zigaretten reicht und sie wie eine Magd entkleidet. Sie übernimmt hingegen den kühlen und selbstbewussten Part des stolzen Herren. In dieser Konstellation geben sie sich den Frühlingsgefühlen sowohl der Jahreszeit als auch ihrer Jugend hin.

 

Das letzte Glück scheint jedoch nur von kurzer Dauer, denn Paul muss zu einer Verabredung mit seiner Verlobten. Obwohl ihm nur noch wenig Zeit bleibt, zieht er sich vor ihr ohne jegliche Eile an, sodass er Jane geradezu aufdrängt, ihn zu beobachten. Dabei kleidet er sich so fein und elegant, dass seine Festtagsgarderobe Fragen aufwirft. Immer wieder denkt Jane darüber nach, ihn am Fortgehen zu hindern, doch sie bleibt stumm und nackt im Bett liegen. Die Minuten verstreichen in beinahe völliger Stille, bis Paul sich schließlich aufmacht. Während Jane unerhörterweise nackt durch das Anwesen streift, sich Gedanken über die Vergänglichkeit des Augenblicks macht, diesen einen letzten Augenblick, den sie mit ihm zusammen genießen durfte und der nun verflogen ist, während sie zu halten versucht, was bereits verflossen ist, geschieht das Unfassbare. Ein unerwarteter aber desto bedeutungsträchtigerer Vorfall ereignet sich, der ihr Leben von Grund auf verändern wird.

 

 

ERINNERN UND VERBLASSEN

 

Die Vergänglichkeit allen Seins ist das große Motiv des Romans und spiegelt sich in jeglicher Beschreibung der Szene wider. Das ganze Leben der Jane Fairchild wird um einen einzigen Moment herum angeordnet, den sie selbst als 90jährige noch dem Vergessen entreißt. Das Ereignis dieses einen Tages wird ihr Leben grundsätzlich verändern, denn sie entscheidet sich infolgedessen dazu, auch angeregt durch vorige Lektüre in der Bibliothek ihrer Herrschaften, Schriftstellerin zu werden. Dieser Augenblick stellt ihr Erweckungserlebnis dar, dem der Leser durch die Lektüre beiwohnt. Immer wieder wird angedeutet, dass sie eine sehr berühmte Autorin wird, viele Geschichten schreiben, viele Interviews geben, doch von einem niemals erzählen wird: von ebenjenem Nachmittag im Jahre 1924. Bis ins hohe Alter möchte sie diesen Moment nicht preisgeben, nicht veröffentlichen, sondern fest im Herzen halten als Einmaligkeit ihres Lebens. Denn erst dieser Tag hat sie zu sich selbst finden lassen und zu dem gemacht, was sie nun ist.

 

 

ZEITENWECHSEL

 

Edouard John Mentha, Lesendes Dienstmädchen in einer Bibliothek
Edouard John Mentha, Lesendes Dienstmädchen in einer Bibliothek

Erzählt wird nicht nur von einer Zeit im Wandel, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der die Technik in den Alltag vordringt, Herrenhäuser weniger Personal anstellen und es allgemein weniger Jungen gibt, da viele im Krieg geblieben sind. Der Erzähler verfährt ebenso virtuos wie leicht in seiner Geschichte mit der erzählten Zeit, da er immer wieder gekonnt Rückblenden und Vorausdeutungen setzt, die die Geschichte erhellen. An entscheidenden Stellen holt er eine Szene aus dem trüben Nichts der Vergangenheit zurück, um in der nächsten eine aus der Zukunft heraufzubeschwören. Durch die Leichtigkeit seines Tons verliert man jedoch zu keiner Zeit den Durchblick, sondern vernimmt viel eher ein Orchester vieler Erinnerungen und Weissagungen, die zusammen eine vieltönige Symphonie ergeben. Bei alldem werden die immerwährenden Motive der Literatur mit einer poetischen Leichtigkeit durchgespielt, dass Liebe, Tod und Kunst verschmelzen und auf der kleinen Bühne der Jane Fairchild zu einer gelungenen Aufführung finden.

 

FAZIT

 

So zart und einfühlsam, so poetisch und sanft kommt diese Erzählung daher, dass man sich gleich in ihr verliert. Sie ist zutiefst berührend und wirft die allgemeingültigen Fragen auf kleiner Bühne auf.  Ebenso verleihen die liebevollen Details der Geschichte Lebendigkeit und durch die Kraft des Erzählers meint man als Leser, der geschilderten Szene beizuwohnen, den Windhauch zu spüren, der durch das offene Fenster gleitet, mit den Gardinen spielt und über die nackte Haut kribbelt. Es ist ein kleines Stück Prosa, das poetischer nicht sein könnte, denn in der Sinnlichkeit und Zartheit liegt der Reiz dieses Romans, der sich eigentlich als Novelle gebiert. Denn eine Novelle ist nach Goethes Worten "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit". Und das ist Ein Festtag allemal!

 

 

 

 

Graham Swift: Ein Festtag

Roman, aus dem Englischen von Susanne Höbel

Gebunden, 144 Seiten

München: dtv 2017

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags