In seinem preisgekrönten Roman beschreibt Fiston Mwanza Mujila eine afrikanische Großstadt, die im Rausch des Diamantenfiebers eine Neue Welt verspricht, doch
wegen der reichen Bodenschätze und ihrer geradezu dämonischen Anziehungskraft zu Sodom und Gomorrha verkommt. Überall grassieren Gewalt und Korruption, Alkohol und Drogen, so dass die Stadt von
Gewinnern und Verlierern jeglicher Art bevölkert wird. Doch egal, ob obszön reich oder bettelarm, ob gebildet oder dumm, kriminell oder gesetzestreu, Einheimischer oder Tourist, alle treffen sich
in der Bar namens Tram 83, die ihre Pforten zur Hölle 24/7 geöffnet hat und jeden verschlingt.
Nach Jahren im Hinterland flüchtet der Schriftsteller Lucien vor Repressalien und Zensur nach Stadtland, eine Großstadt, die sich um die zahlreichen Minen des Umlandes gebildet hat und von einem abtrünnigen Rebellen beherrscht wird. In der Hoffnung, hier ein freieres Leben führen und sich seinem Schreiben widmen zu können, wohnt er bei seinem alten Freund Requiem, der sich jedoch innerhalb der letzten zehn Jahre stark gewandelt hat. Denn Requiem ist in zwielichtige Geschäfte verwickelt, mischt mit in Erpressung, Drogen und Zuhälterei.
Während Requiem sich nicht nur mit den Zuständen arrangiert hat, sondern sogar an ihnen verdient, weiterhin gleichermaßen Touristen wie einheimische Politiker erpresst, versucht Lucien nun in dem Moloch aus Gewalt und Korruption Fuß zu fassen, versucht zu schreiben und zu dichten, auch wenn er damit Requiems Spott und Verachtung auf sich zieht. Rasch merkt er jedoch , dass Kunst und Literatur in einer nach Alkohol, Gewalt und Sex dürstenden Männerwelt nicht gefragt ist. Wegen seiner Intellektualität wird er von den Einwohnern zunächst verlacht, später gar wegen seiner literarischen Darbietungen verprügelt. Dennoch gibt er nicht auf, bis er schließlich im Tram 83 einen Verleger kennenlernt, der von seinem Talent überzeugt ist und ihm seine Hilfe anbietet.
DAS TRAM 83 ALS VORORT DER HÖLLE
Immer stärker gerät Lucien in den düsteren Sog der Großstadt. Bei seinen freiwilligen und unfreiwilligen Streifzügen und Abenteuern begegnet er einer Vielzahl unterschiedlichster Menschen, die alle auf ihre Weise versuchen, zu überleben, die alle auf ihre Weise versuchen, sich durch das Leben zu gaunern, die jedoch bei aller Unterschiedlichkeit eines eint: Sie gieren nach dem schnellen Geld, lechzen nach Sex und Alkohol und schmeißen dabei jegliche Moral über Bord. Und so trifft sich die ganze Stadt zum exzessiven Sauf- und Sexgelage im Tram 83, während von den Minaretten Fatwas gepredigt werden.
Der Club ist halb Bar, halb Bordell, so dass man dort auf Prostituierte allen Alters trifft, ebenso auf Zuhälter, Studenten, Straßenräuber, Waffenhändler, Kleinkriminelle, Organhändler, Touristen, Soldatenwitwen, abtrünnige Rebellen, Vergewaltiger, Söldner, Säufer, Warlords, Politiker, Kindersoldaten, Dealer und Entwicklungshelfer - um nur einige zu nennen. Es ist ein riesiger Moloch, ein Sumpf aus Drogen und Gewalt, in dem alle leben, als gäbe es keinen Morgen mehr. Der Club ist die Heimstatt aller Enttäuschten, die ihr Leben vergessen wollen und es in Alkohol ertränken, um schließlich mit den begehrten Minderjährigen Sex auf der Toilette zu haben. Das Tram 83 bildet die schöne Neue Welt ab, die im Zuge des Diamantenrausches entstanden ist, die schöne Neue Welt, die die Bodenschätze heraufbeschworen haben.
DAS POSTKOLONIALE AFRIKA
Auch wenn sich die Erzählung um die ehemals befreundeten und nun immer mehr voneinander distanzierenden Protagonisten spannt, auch wenn sich vieles um die schriftstellerischen Ambitionen und den literarischen Werdegang dreht, den Lucien inmitten all des Chaos verfolgt, so steht doch das Moloch der Stadt und besonders der Sündenpfuhl des Clubs im Mittelpunkt. Der wahre Protagonist ist damit nicht Lucien oder Requiem, sondern die Bordellbar samt seiner Einkehrer.
Zwar ist Stadtland ein rein fiktiver Ort, doch da Fiston Mwanza Mujila aus dem Kongo stammt, kann man sich nur schwer verkneifen, sich nicht eine kongolesische Bergbaustadt vorzustellen, die durch den Kolonialismus ausgebeutet wurde und nun durch endlos geführte Kriege zwischen Rebellen und Regierung zerschunden ist. Der Kampf um die Macht geht natürlich auf Kosten der Bevölkerung und im Rausch des Reichtums wachsen Gewalt und Elend.
Fiston Mwanza Mujila macht mit ebendiesen schockierenden Alltagsbeschreibungen auf die Missstände aufmerksam, die im Kolonialismus wurzeln, dennoch nicht allein auf ihn zurückzuführen sind, sondern vielmehr auf die Profitgier einheimischer und ausländischer Mächtiger. Es ist der perfide Umstand vieler afrikanischer Länder, der aufgezeigt wird, denn einerseits ist das Land mit unermesslich wertvollen Bodenschätzen gesegnet, so dass es eines der reichsten und wohlhabendsten Länder der Welt sein müsste, andererseits darbt die Bevölkerung und ist bettelarm. Nur wenige profitieren von den Schätzen, nur wenige verdienen an den Diamanten, ebenso an Kobalt, Koltan, Kupfer und Bronze, die besonders für die Herstellung von Smartphones u.ä. technischen Spielzeugen benötigt werden. Da jedoch jeder versucht, ein Stück vom Kuchen abzubekommen, wird der Ort zum Magneten für alle Menschen, die das schnelle Geld suchen. Der Roman führt die Schattenseiten der Globalisierung vor Augen, denn durch die Lektüre entdeckt man das andere Ende der Welt, wird Augenzeuge des Ursprungs unserer modernen Technik und erschrickt.
Besonders bedrückend sind die Beschreibungen von Kindern, die in dieser Umgebung aufwachsen, denn sie haben keine Chance dem Wahnsinn zu entkommen. Ihnen bleibt nur die traurige Wahl, Kindersoldat zu werden oder ihren Körper in der Spelunke zu verkaufen. Und so stellt Lucien resigniert fest: "Kindheit, null bis zwei, Pubertät, drei bis sieben, Jugend, acht bis zwölf. Mit fünfzehn dann das Testament..."
DER SOUND VON SODOM UND GOMORRHA
Mal rau, mal sanft, mal brüllend, mal flüsternd kommt die Geschichte des Tram 83 daher. Eine Vielzahl an Stimmen und Eindrücken lassen diese Geschichte auferstehen und hauchen ihr Leben ein. Die Sätze sind oft so verschachtelt, dass man sie mehrmals lesen muss. Viele Einschübe und Wiederholungen unterbechen den Lesefluss, Aufzählungen füllen manches Mal gar eine ganze Seite. Dabei geben unzählige Tempowechsel einen Rhythmus vor, der an Musik erinnert, an Donnern und Trommeln. Es ist eine unglaublich bildgewaltige Sprache, die Mujila hier erfunden hat und die begeistert.
Lässt man sich auf die Sprachgewalt ein, lässt sie im Gegenzug Explosionen von Bildern im Kopf entstehen, die einen in das Moloch zu versetzen scheinen. Unglaubliche Beschreibungen von Szenen prasseln auf den Leser ein und nehmen ihn mit. Ähnlich wie in den Klassikern "Berlin Alexanderplatz" oder "Manhattan Transfer" spielt der Autor hier mit der Sprache und gibt, wenn nicht der ganzen Stadt, so doch wenigstens dem Club ein Gesicht, dass zu einer Fratze verkommt, in die man zu blicken gezwungen wird.
FAZIT
Nicht umsonst wurde der Roman 2016 beim Man Booker Prize nominiert und ging als Gewinner des Internationalen Literaturpreises 2017 hervor, vergeben vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Nicht umsonst sagt das Rolling Stone Magazin, der Roman "zieht Ihnen den Boden unter den Füßen weg!" Die eigenmächtige Sprache, die Radikalität und Schärfe, mit denen Mujila spielt, heben diesen Roman ab von der Masse an Geschichten, die tagtäglich erscheinen. Die Kraft und Potenz in den Worten und Sätzen, das spürbare Chaos der Stadt, das Innenleben des Clubs als geradezu biblisch anmutende Orgie, dazu der gesellschaftskritische Unterton in allen Beschreibungen könnten diesen Roman zu einem potenziellen afrikanischen Klassiker erheben. Mujila hat mit diesem Roman eine neue Sprache in der Auseinandersetzung mit seiner Heimat geschaffen und ihr ein Denkmal erbaut.
Wer mit den bereits erwähnten Döblin und Dos Passos seine Freude hatte, der wird auch hier auf seine Kosten kommen! Denn dieser Roman ist wahrlich - um mit Kafkas Worten zu sprechen - ein Faustschlag auf den Schädel!
"Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?" (Franz Kafka)
Fiston Mwanza Mujila: Tram 83
Roman, aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller
Gebunden, 208 Seiten
Wien: Paul Zsolnay Verlag 2016
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags
Bildnachweis: Mark Craemer, Blutige Handys //
Quelle: Kölner Stadtanzeiger, Coltan im Kongo. Der schmutzige Schatz im Handy, von Tanja Brandes, Martin Gätke und
Peter Seidel, 22.09.2014