...liest gerade "Ameisig" von Charlie Kaufman

Ein nach Bestätigung gierender Filmkritiker, der mit der Zeit gehen will.

Ein afroamerikanischer Greis, der den längsten Film aller Zeiten gedreht hat.

Ein Feuer, in dem ein einzigartiges Lebenswerk in Flammen aufgeht.

Und eine unvergleichliche, alles in den Schatten stellende Höllenfahrt quer durchs Gehirn, aus der niemand hervorkommt, wie er hineingelangt ist.

 

Der neurotische Filmkritiker B. Rosenberg ist zeit seines Lebens auf der Suche nach dem großen Durchbruch. Da der gesellschaftliche Wind gedreht hat und nun gegen alte, weiße Männer wie ihn stürmt, hat er sich nicht nur eine afroamerikanische Freundin zugelegt, mit der er stets prahlt, sondern achtet auch sehr darauf, dass man ihn korrekt anredet, nämlich so, wie er seine Artikel verfasst – genderneutral.

 

Eines Tages lernt er auf einer Reise seinen Nachbarn kennen, einen uralten Afroamerikaner, der im Laufe seines 120 Jahre alten Lebens einen Film von 3 Monaten Spiellänge gedreht hat. Rosenberg widmet sich fortan jede wache Sekunde dem Schauen des Films und ist begeistert. Genau dies scheint das Meisterwerk zu sein, das er suchte, noch unveröffentlicht und von niemandem gesehen. Sein Ruhm leuchtet bereits am Firmament.

 

Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Während der Vorführung stirbt nicht nur der alte Mann, sondern bei Rosenbergs Versuch, die Filmspulen mitzunehmen, fangen diese auch noch Feuer und verbrennen. Nichts bleibt übrig, als Rosenbergs Erinnerungen daran. Nun liegt es an ihm, den Film zu retten, indem er jede einzelne Szene seinen Erinnerungen entreißen will. Doch kann das bei solch einem langen Film gelingen? Und projiziert er eigentlich dabei den Film aus seinen Erinnerungen heraus oder wird er doch in den Film hineingezogen und verschluckt?

 

Zu diesem Roman lässt sich eigentlich nur eines sagen:

WTF?! Also wirklich und wahrhaftig WTF!?

Was für ein absoluter Wahnsinn ist dieser Roman?!

Was für ein absoluter Strudel und Bruch mit allen Erzählkonventionen vom Regisseur von „Being John Malkovich“?!

 

Denn bis hierhin kann man der Handlung noch sehr gut folgen. Sie ist unglaublich witzig und ironisch, sie sprüht vor Sprachwitz und Intellekt, vor Schlagfertigkeit und Humor. Ein völlig verunsicherter alter weißer Mann, der seine Privilegien abgeben möchte, sich weltkundig gibt und doch in jedes Fettnäpfchen tappt, ein einsamer Mensch, der nach Akzeptanz trachtet und doch allen Leuten vor den Kopf stößt. Ein ungemeiner Spaß über Vorteile und Vorurteile, über Gender, Sex, Trends, Sprache, Hauptfarbe und so vieles mehr, bis der Film verbrennt und ein undurchdringbarer Wust an Illusionen, Träumen, Erinnerungen, Scheinrealitäten, Abstraktem und Wahnsinnigem entsteht, dem niemand folgen kann. Völlig absurd – also wirklich völlig absurd drehen sich die Betrachtungen Rosenbergs und sein Handeln in einer Spirale des völligen Wahnsinns, der jede Konventionen sprengt. Hat am Ende vielleicht gar Brainio damit zu tun, dieses Fernsehen aus der Zukunft, das im Kopf stattfindet?

 

Auch wenn viele Episoden weiterhin unheimlich belustigend sind, weil es so absurd, so erfrischend und im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar ist, war die Lektüre auf Dauer, sprich auf über 800 hunderten Seiten doch manches Mal schwer zu ertragen.

 

Wer einmal etwas völlig anderes lesen möchte – und ich meine wirklich, etwas völlig anderes, dem sei der Roman ans Herz gelegt. Gewiss ist dabei nur, dass man als ein völlig anderer aus dieser Geschichte auftauchen wird.

 

„Ameisig“ ist dieses Jahr im Hanser Verlag erschienen und genial von Stephan Kleiner übersetzt worden.

 

 

Charlie Kaufman: Ameisig

Roman, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner

Hardcover, 864 Seiten

Hanser Verlag, München 2021