Tecum sunt quae fugis - "Und es schmilzt" von Lize Spit

Das Dorfleben kann trügerisch sein. Für Außenstehende zieht rasch das Bild einer heilen Welt herauf, eine Welt, in der alles irgendwie noch in Ordnung scheint, in der eine Gemeinschaft lebt, die aufeinander zählen kann und sich solidarisch zeigt. Lize Spit erzählt in ihrem Überraschungserfolg des letzten Jahres vom Leben in solch einem Dorf, hinter dessen Wänden die Welt jedoch alles andere als heil ist. Vielmehr ist sie trostlos und kaputt und mündet in einem Sommer, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es vorher auch nie war.

Eva, Ende Zwanzig, fährt nach beinahe zehn Jahren zurück in ihr Heimatdorf in die belgische Provinz. Jans dreißigster Geburtstag stünde bevor - wenn er denn noch lebte. Trotzdem veranstaltet sein Bruder Pim ihm zu Gedenken eine Feier.

 

Mit einem Eisblock im Kofferraum macht Eva sich auf den Weg. Mit Pim und einem weiteren Dorfjungen namens Laurens bildete sie in Kindheit und Jugend eine verschworene Gemeinschaft. Aneinandergeschweißt seit der Grundschule sahen sich die Freunde selbst als die drei Musketiere, bis Pims Bruder plötzlich verstarb. Fortan erlitt ihre Freundschaft Risse, sie bröckelte und verfiel, und zerriss endgültig in einem Sommer, in dem ein jugendliches Spiel eskalieren sollte, ein Spiel, das in Eva ein Trauma hinterließ, das sie bis heute verfolgt. So lebt sie seit beinahe zehn Jahren in Brüssel, weit weg von dem Ort ihrer Kindheit, zu dem sie jegliche Kontakte abgebrochen hat.

 

Auf der Fahrt in ihre alte Heimat erinnert sie sich nun in losen Fetzen an ihre Vergangenheit, erinnert sich an die Eltern, beide alkoholkrank und stets suizidgefährdet, erinnert sich an die kleinere Schwester, die unter den Augen der Familie zunehmend neurotischen Zwangsstörungen verfiel. Sie erinnert sich an ihre Liebe Jan, dessen Tod sich wie ein Schatten über das Dorf legte, erinnert sich ferner an die alten Freunde, die ein dunkles Geheimnis miteinander zu verbinden scheint, und besonders erinnert sie sich an diesen einen Sommer im Jahre 2002, vor dessen Ereignissen sie flüchtete und wegen derer sie nun mit einem Eisblock im Kofferraum doch wieder zurück ins Heimatdorf fährt.

 

 

VERDRÄNGTE SCHATTENSEITEN

 

Ein großes Geheimnis liegt über der Geschichte, ein großes Geheimnis scheint das Dorf zu verschlingen, legt sich über die Familie und besonders über diesen einen Sommer. Etwas Unausprechliches ummantelt alles und jeden und vergiftet die Atmosphäre. Zwar erscheint sie stets vertraut, doch immer schwingt eine leichte Note großen Unbehagens mit, etwas, das den Magen aufwühlt und verkrampfen lässt. Die Stimmung ist sehr bedrückend und die viele Andeutungen, dass etwas geschehen sei, dass etwas zerbrochen und unwiderruflich gerissen sei, steigern sowohl Spannung als auch Erwartungshaltung. Immer mehr verliert man sich als Leser in dem Labyrinth des Unausgesprochenen, denn je mehr man liest, desto mehr Fragen stellen sich dem Leser.

 

Denn was ist eigentlich mit der Familie passiert? Was hat sie derart entzwei gerissen? Was ist mit Tes, Evas Schwester, die als Kind immer mehr den Halt zu verlieren schien und nun in einer Pflegefamilie lebt? Und was geht in diesem Dorf vor sich? Wie hat Jan das Leben verloren?  Warum ist die Freundschaft zu Pim und Laurens zerbrochen? Und was ist mit der Protagonistin selbst geschehen, dass sie flüchtete und seitdem ein Leben abseits des Dorfes und der Familie führt? Wovor ist sie geflohen? Oder vor wem? Und warum kehrt sie jetzt zurück?

 

Und was zum Teufel macht dieser Eisblock im Kofferraum?

 

 

DAS EIS SCHMILZT

 

Das Eis schmilzt und Schicht für Schicht wird alles offengelegt. Allerdings sei auch sogleich erwähnt, dass mit dem Eis auch jegliche moralischen Wertvorstellungen schmelzen.

 

Bis man zum Kern vorstößt und das Geheimnis offenbart wird, vergeht allerdings eine Menge Lesezeit. Lize Spit nimmt viele Fäden auf und verstrickt sie gekonnt miteinander, bereitet den Leser peu à peu auf das vor, was kommen wird, und versetzt ihm dann doch einen Schlag in den Magen. Durch das anachronistische Erzählen schwirrt man als Leser abwechslungsweise durch den einen Tag ihrer Heimkehr, dann wieder durch den Sommer 2002 sowie durch viele Episoden aus ihrer Kindheit und Jugend. Dabei nimmt die Erzählzeit nur einen Tag ein, ebenjenen Tag ihrer Rückkehr. Die erzählte Zeit erstreckt sich allerdings über beinahe ihr ganzes Leben.

 

Im Mittelpunkt steht dabei stets der Sommer 2002. Alles dreht sich um diese kurze Zeit, der sie nicht entkommen mag. Dieser Sommer sitzt wie etwas Unverdautes in der Kehle und  erst wenn am Ende alle Erinnerungsfetzen zusammenlaufen und in dem Moment kulminieren, in dem das Eis geschmolzen ist, ergibt sich ein Gesamtbild. Plötzlich kommt etwas zum Vorschein, was lange unter dem Eis begraben lag - und dieses Etwas ist das pure Grauen!

 

 

FAZIT

 

Der Roman ist ein Schlag ins Gesicht! Das Trauma entpuppt sich als nicht zu überbietende Grausamkeit und das Ende ist ein Paukenschlag!

 

Bis dahin allerdings steigt die Spannung, sie steigt kontinuierlich, auch wenn sie manchmal mehr schleicht denn sputet. Denn leider gerät der Roman an manchen Stellen auch etwas zu lang und zäh, dauert es doch letztlich beinahe 400 Seiten, bis wirklich etwas geschieht. Auch die immer wieder auftretenden Wetterphänomene trüben die Lektüre, denn in vielen brenzligen Situationen droht immer wieder ein Gewitter oder dunkle Wolken ziehen auf - alles Plattitüden!

 

Dennoch hat der Roman etwas, das ihn besonders macht - und sei es nur das Verstörende, das so sachlich erzählt wird, als wäre es Alltägliches! Und so lässt mich der Roman sehr konfus und aufgewühlt zurück, sehr zwiegespalten und mit flauem Magen. Aber wahrscheinlich will er genau das.

 

 

 

Lize Spit: Und es schmilzt

Roman, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Gebunden, 512 Seiten

Frankfurt: S. Fischer Verlag 2017

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags