...liest gerade „Internat" von Serhij Zhadan

Das Internat ist nur wenige Kilometer entfernt, und doch scheint es unerreichbar.

Denn zwischen ihm und dem Gebäude tobt der Krieg.

Ein Krieg, den es offiziell nicht gibt.

 

Pascha ist Lehrer im Donbass. Obwohl er im russischsprachigen Teil des Landes Ukrainisch unterrichtet, interessiert er sich nicht sonderlich für Politik. Ebenso wenig für den Krieg, der seit zwei Jahren in der Region wütet und längst zum Alltag geworden ist.

 

Als sich aber der Krieg bis zum Internat seines Neffen frisst, macht sich Pascha auf den Weg in die wenige Kilometer entfernte Stadt, um den Sohn seiner Schwester zu sich zu holen. Er weiß nicht, dass es der beschwerlichste Weg seines Lebens wird, vorbei an Barrikaden, Umleitungen, Checkpoints und Einbahnstraßen, stets auf der Hut vor Separatisten, ukrainischen und russischen Soldaten, mitten durch ein Kriegsgebiet, in dem es schwerfällt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Und so braucht er letztlich mehrere Tage, Tage, die alles verändern werden, woran er jemals glaubte.

 

Der Roman erschien bereits 2017 - also etwa 3 Jahre nach der Krimbesetzung und dem Vorrücken russischer Soldaten in den Donbass - und schildert eindrücklich und bildgewaltig den Kriegsalltag im Osten der Ukraine, einen Krieg, der uns im Rest Europas größtenteils verborgen geblieben ist. Denn der Krieg in der Ukraine begann nicht erst im Februar dieses Jahres, wie es medial oft den Eindruck macht, sondern schon 2014.

 

Mit feinem Blick seziert Zhadan das alltägliche und zur Normalität verkommene Kriegsgrauen. Er beschreibt eine Gegend, deren Städte leergefegt sind, deren Menschen in Kellern hausen und deren Häuser durch Raketenbeschuss dem Erdboden gleichgemacht wurden. Eine Gegend, wo völlig verängstigte Frauen und Kinder sich in Bahnhöfen zusammendrängen, wo achtzehnjährige Jungen mit Kalaschnikows hantieren und schließlich an der Front verheizt werden. Er beschreibt eine Gegend, wo Misstrauen und Angst nicht nur vor Fremden, sondern auch vor Nachbarn herrschen, da immer die Ungewissheit über ihre Überzeugung mitschwingt: Sind sie Freund oder Feind? Und wer ist überhaupt Freund und Feind in jenen Tagen? Wo genau verläuft die Trennlinie? Gibt es überhaupt eine?

 

Durch das politische Desinteresse Paschas, der anfangs allen Seiten die Schuld für den Krieg gibt und sich auf keine Seite schlagen will, wirft der Roman einen ungeschönten Blick auf den Krieg, frei von jeglicher Ideologie oder politischen Beeinflussung, einen Blick, der nur eine Frage aufwirft: Warum?

 

Serhij Zhadan lebt in Charkiw und berichtet seit vielen Jahren über die Gewalt in der Ukraine. Immer noch weigert er sich die Stadt zu verlassen und gilt längst als Chronist dieses imperialistischen Krieges. Im Oktober wird er durch seine unermüdliche Arbeit mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Seine Romane sind der Beweis dafür, dass man alles, was momentan in der Ukraine passiert, schon hätte voraussehen können, hätte man seine Bücher nur als das gelesen, was sie sind: als Warnung an uns Mitmenschen.

 

Seine Entgegnung auf den Offenen Brief deutscher Intellektueller zum Waffenstillstand ist daher auch an Eindringlichkeit nicht zu überbieten, denn angesichts der Brutalität Russlands ist Zhadan sich sicher, „wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende“ ("Wir werden vernichtet", in der ZEIT vom 06.07.2022)

 

„Internat“ erschien 2018 im Suhrkamp Verlag und sollte von allen gelesen werden, die verstehen wollen, wie es zu dem kam, was sich jetzt in der Ukraine zuträgt.

 

 

 

Serhij Zhadan: Internat

Roman, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr

Hardcover, 300 Seiten

Surkamp Verlag, Berlin 2018