Der Schrecken: eine Art Schlaganfall.
Die Diagnose: nur noch wenige Monate zu leben.
Die Folge: mit dem Leben abschließen.
Die Überraschung: eine neue Chance.
Simon Leyland ist fasziniert von Sprachen, von Wörtern und den Lebenswirklichkeiten, die sie erbauen. Schon als Kind, da er bei seinem Onkel eine alte Karte des Mittelmeers bestaunte, hegte er den Wunsch, alle Sprachen der mediterranen Länder zu erlernen. Tief eingebunden in intellektuelle Zirkel führt er neben seinen Übersetzungsarbeiten den Verlag seiner Frau weiter, die vor Jahren verstorben ist. In Briefen schreibt er ihr weiterhin, um sie nicht gänzlich zu verlieren.
Plötzlich bricht er zusammen und erhält eine Diagnose, die sein Leben in Scherben schlägt: Hirntumor, inoperabel. Nur noch wenige Monate werden ihm in Aussicht gestellt, bis der Krebs ihn zersetzt hat. Schockiert zieht er sich zurück, verkauft schweren Herzens den Verlag und versucht mit dem Leben abzuschließen. Im Angesicht des Todes quälen ihn Fragen, ob er eigentlich das Leben geführt habe, das er erträumt hatte, ob er die Zeit wirklich genutzt habe, die ihm gegeben worden war. Seine Kinder und eine Vielzahl an Bekannten begleiten ihn in diesen schweren Tagen, die seine letzten sein sollen.
Doch dann eröffnet man ihm, dass es eine Verwechslung gab. Statt eines Hirntumors leidet er lediglich an Migräne. Nach elendigen 77 Tagen steht Leyland plötzlich wie neugeboren da und stellt sich nur noch eine Frage: Was nun anfangen mit der unerhofften zweiten Chance im Leben?
Pascal Merciers Romane werden von seinen Fans geliebt und gefeiert, von Kritikern jedoch meist argwöhnisch beäugt. Dieser Roman macht da keine Ausnahme, auch bei mir nicht.
Das Thema lässt das Herz jeden Literaturliebhabers höher schlagen. Denn im Mittelpunkt steht die Faszination für Wörter, für die Feinheiten der Sprachen, es geht um Literatur und deren Übersetzungsmöglichkeiten, um das Fühlen und Denken in verschiedenen Sprachen, deren Strukturen eine andere Aneignung der Welt und Wirklichkeit nach sich ziehen. Es geht aber auch um Erinnerungen, vergessenen, und um die drängendsten aller Fragen: Was ist wirklich wichtig im Leben? Was verleiht Sinn? Und nutze ich eigentlich diese einmalige Zeit?
So inspirierend die Gedankengänge manchmal wirken, so profan sind sie natürlich auch. Jeder stellt sich diese Fragen wohl öfters in seinem Leben. Zudem geschieht nichts Aufregendes, nichts Überraschendes, es entsteht keinerlei Reibung. Die Geschichte plätschert ein wenig vor sich hin. In den Briefen an seine Frau, die Leyland immer weiter führt, werden alle Geschehnisse des Romans nochmals erzählt. Eine langwierige Wiederholung, derer es wirklich nicht bedurfte. Zudem gleichen sich die Figuren in vielerlei Hinsichten, ausnahmslos sind sie gebildet, kosmopolitisch, sensibel und sinnlich. Stets vertreten sie die gleiche Meinung und lassen sich leicht für die gleichen Dinge faszinieren. Die Menge an Personal, die aufgeboten wird - Verleger, Schriftsteller, Übersetzer, Künstler, Leser - ist in gewisser Weise austauschbar.
Gespalten lässt mich der Roman somit zurück, der einen zwar durch die Seiten fliegen lässt, aber nichts Außergewöhnliches birgt. Es ist eine sehr klassisch erzählte Geschichte mit einigen berührenden und kitzelnden Gedankengängen, die aber angesichts von Gleicheit, Langatmigkeit und Wiederholungen ein wenig in ihrem Potential verstocken.
Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte
Roman
Hardcover, 576 Seiten
Hanser Verlag, München 2020