Der tiefe Fall - "Das Leben des Vernon Subutex" von Virginie Despentes

Anhand eines arbeitslosen Plattenhändlers entwirft Virginie Despentes in dem ersten Roman ihrer Trilogie ein Sittengemälde des heutigen Frankreichs mit all seinen gegenwärtigen Krisen, unterschiedlichen Meinungen, tiefen Unsicherheiten und großen Ängsten. Globalisierung, technischer Fortschritt und (gefühlter) Verlust der Heimat sowie die Erschütterung eines seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs anhaltenden Aufschwungs und Glaubens an Beständigkeit lassen auch Verlierer entstehen - Verlierer, wie Vernon Subutex es einer ist.

Vernon Subutext, Endvierziger, charismatisch, attraktiv, Musikliebhaber, muss seinen Plattenladen schließen. In Zeiten digitaler Musik und Streamingdiensten kann sich der Laden nicht mehr halten. Vernon akzeptiert es stoisch, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, erhält Sozialhilfe und verkauft nach und nach nicht nur seine Plattensammlungen, sondern auch seine Möbel und sonstige Habseligkeiten. Als ihm auch die Sozialhilfe gestrichen wird, ist er auf die finanzielle Unterstützung seines Jugendfreundes Alex Bleach angewiesen, aus dem mittlerweile ein gefeierter Musiker geworden ist.

 

Vernon versinkt in Apathie. Gleichgültigkeit und Desinteresse füllen ihn aus, so dass er nur noch in den Tag hinein lebt, stundenlang im Internet surft und Pornos guckt. Als Alex schließlich Selbstmord begeht, da er an seinem Erfolg zerbricht, und Vernon kein Geld mehr für die Miete aufbringen kann, wird dieser von einer auf die andere Sekunde aus der Wohnung geschmissen und landet auf der Straße.

 

Fortan entspinnt sich die Geschichte eines rasanten sozialen Abstiegs. Vernon versucht bei alten Freunden zu übernachten, die er über Facebook anschreibt, und schaut von Tag zu Tag, ob er nicht eine bessere Bleibe finden kann. Er tischt ihnen eine mit Notlügen gespickte Geschichte auf, um ihnen und auch sich selbst nicht die Wahrheit eingestehen zu müssen. Viele alte Weggefährten öffnen ihm mal bereitwillig, mal missmutig die Tür. Alle verbindet jedoch die Bekanntschaft zu Alex Bleach, dessen filmisches Testament sich in Vernons Besitz befindet. Doch Vernons Abstieg ist unaufhaltbar. Immer weiter rutscht er die soziale Leiter hinunter, schläft schließlich auf einer Parkbank, bis er eines Tages ganz unten angekommen ist: in der Gosse.

 

 

DIE ABGEHÄNGTEN, DIE ENTTÄUSCHTEN UND DIE WUTBÜRGER

 

Während seines sozialen Abstiegs übernachtet Vernon sowohl bei alten Jugendfreunden als auch bei alten Liebschaften. So unterschiedlich deren Lebenswege und -verhältnisse auch sein mögen, so ist doch allen die Stimmung gemein - eine Stimmung, die ein ganzes Land, womöglich ganz Europa erobert und im Griff zu haben scheint.

 

Denn Enttäuschung spricht aus ihren Erzählungen. Sie sind enttäuscht von ihrem Leben, das nicht den Weg genommen hat, den sie sich vorgestellt haben. Sie sind desillusioniert von Staat und Regierung, vom Establishment, sie empören sich über die Politik und fühlen sich von ihr im Stich gelassen. Ängste quälen sie, darunter besonders Abstiegsängste, die sich in Wut entladen - ein Gefühl, das das bestimmende Merkmal unserer heutigen Moderne zu sein scheint.

 

Allein die Schuld wird immer bei anderen gesucht und so sind es mal die Rechten oder die Linken, die alles niedergewirtschaftet haben, es sind die Nazis oder die Kommunisten, die das Land in die Krise führten, die Alteingesessenen oder die Migranten, die Städter oder Dörfler, die Reichen oder Armen. Die Globalisierung hat die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert und so wurde Unsicherheit zum prägenden Lebensgefühl, denn das Land geht vor die Hunde, reibt sich auf zwischen Rechts und Links, zwischen Reich und Arm, zwischen wenigen Gewinnern und vielen Verlierern. Internet, Social Media, Musik, Mode, Kunst und Kultur, Gesellschaft und Gentrifizierung, Religion und Patriarchat, EU und Digitalisierung - alles bekommt in diesem Roman sein Fett weg, ganz nach Ansicht und Einstellung der gerade im Fokus befindlichen Person.

 

 

VIELE STIMMEN, GLEICHER TON

 

Auch wenn Vernon Subutex der Protagonist des Romans ist, wird nicht durchgängig aus seiner Sicht erzählt. Oft springt die Perspektive von Kapitel zu Kapitel und meistens sieht man als Leser durch die Augen der Person, die den Obdachlosen gerade beheimatet. Durch diesen Perspektivwechsel bekommt der Leser eine Vielzahl an unterschiedlichen Meinungen, Blickwinkeln, Wahrnehmungen und Ansichten vorgesetzt. Er schlüpft kurzfristig in die Haut von Linken oder von Rechten und mag sogar die Beweggründe nachvollziehen, die sie antreiben und zu dem Menschen machen, der sie sind.

 

Der durchgängige Ton ist allerdings fast immer ironisch gebrochen. Die Sprache ist derb, sarkastisch, zugleich aber auch auf unverfrorene Weise ehrlich.

 

 

FAZIT

 

Vor dem Leser entfaltet sich ein stimmgewaltiges Sammelsorium an Charakteren, die im gegenwärtigen Frankreich meist desillusioniert dahinleben. Es ist tatsächlich ein Sittengemälde der Gesellschaft, das wohl beinahe auf ganz Europa anwendbar ist und die momentane Stimmung karikiert. Die Geschichte wird mit viel Witz und Ironie erzählt, allerdings bleibt der Unterton sehr ernst. Denn es scheint viel mehr Verlierer als Gewinner der Globalisierung zu geben.

 

Auch wenn der Roman in Frankreich hochgelobt wird, konnte er mich nicht restlos begeistern. Der Abgesang auf die Gesellschaft ist mir zu pessimistisch und zu eintönig gemalt, auch wenn er an vielen Stellen stimmen mag und amüsiert. Dennoch ist es ein außergewöhnlicher Roman, der sich auf unterhaltsame Weise mit den Themen unserer Zeit auseinandersetzt und sie mit viel Ironie durchspielt.

 

 

 

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Roman, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz

Gebunden, 400 Seiten

Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2017

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags