...liest gerade "Apeirogon" von Colum McCann

Auf den ersten Blick trennen sie Welten.

Rami ist Israeli, Jude und Jerusalemer.

Bassam ist Palästinenser, Muslim, Araber.

Und doch sind sie Freunde, unmögliche Freunde.

Denn sie vereint ein Schicksalsschlag, der ihr Leben verändert.

 

Smadar ist ein junges Mädchen, beinahe vierzehn, eine ausgezeichnete Schülerin, Schwimmerin und Tänzerin, die Klavier und Jazz liebt. 1997 spaziert sie mit Freundinnen durch die Straßen im Zentrum Jerusalems, hört Musik und will Schulbücher kaufen. Da sprengen sich plötzlich drei Selbstmordattentäter neben ihr in die Luft und reißen Smadar in den Tod.

 

Auch Abir ist ein junges Mädchen, gerade einmal zehn. 2007 verlässt sie in der Pause das Schulgelände, um wenige Straßen weiter Süßigkeiten zu kaufen. Als sie aus dem Geschäft tritt, fällt ein gezielter Schuss. Ein Gummigeschoss trifft sie am Kopf, abgefeuert durch einen israelischen Soldaten. Wenig später verstirbt sie im Krankenhaus.

 

Das erste Gefühl der Väter ist Rache. Hass schäumt auf, Vergeltungsdrang, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch würde das etwas ändern? Würde es den Schmerz lindern? Die Töchter gar zurückbringen?

 

Rami sucht nach Antworten und tritt argwöhnisch der Organisation "Parents Circle" bei, einem palästinensisch-israelischen Forum für Hinterbliebene. Als er jedoch in das Gesicht einer Palästinenserin blickt, ändert sich sein Leben mit einem Schlag. Denn er erkennt, dass Israelis und Palästinenser derselbe Schmerz über den Verlust ihrer Kinder eint, dieselben quälenden Fragen, dieselbe Sinnlosigkeit dieses ewigen Krieges.

 

Auch Bassam hat seinen Hass abgelegt und möchte etwas verändern. Trotz immerwährender Schikane und Vertreibung, trotz Folter und Haftstrafe, die er durch die Israelis durchleben musste, öffnete ihm ein Film über den Holocaust die Augen. Nun will auch er versöhnen. Zusammen ziehen die ungleichen Freunde durch das Land und erzählen eindrücklich von ihren Kindern, gelenkt von der Hoffnung, mit ihren Geschichten zu einer besseren Zukunft beizutragen, zu einer Aussöhnung zwischen den Geschwistern des Nahen Ostens.

 

Apeirogon ist eine Wucht! Ungewöhnlich mögen zunächst die kurzen Kapitel wirken, die meist aus wenigen Sätzen bestehen und immer neue Erzählfäden aufnehmen. Doch mit der Zeit verbinden sich die Fäden und weben ein einzigartiges Bild von der Geschichte und Gegenwart Palästinas und Israels.

 

Eindrücklich liest man über den gegenseitigen Hass, über Kriege und Verbrechen. Über Politiker und Gruppierungen, die von der stets befeuerten Gewalt und Eskalation profitieren.

 

Kritisch wird aber vor allem das Apartheidssystem Israels dargestellt, das selbst Rami und seine Frau kritisieren und sich damit den Zorn konservativer Juden einhandeln.

 

Eindringlich sind daher die Beschreibungen eines besetzten Landes, das durch illegalen Siedlungsbau immer weiter von der Landkarte verschwindet, eindringlich sind die Beschreibungen von willkürlichen Schikanen gegenüber den Palästinensern, von Armut, den unüberwindbaren Mauern eines Freiluftgefängnisses, den ständigen Checkpoints und willkürlichen Kontrollen, ja dem brutalen Vorgehen israelischer Soldaten selbst gegen Kinder.

 

Die Geschichte Israels ist ohne die Shoa und den Holocaust nicht zu verstehen. Die Geschichte Palästinas allerdings auch nicht ohne die Nakba und die völkerrechtswidrige Besatzung. Dieser Tage überschlagen sich erneut die Ereignisse im Nahen Osten und es sterben wieder Menschen auf beiden Seiten, Kinder wie Smadar und Abir.

Im Roman gibt es dazu einen eindringlichen Appell, sowohl von Bassam als auch von Rami, ein Appell, der als erster Schritt zu einem möglichen Frieden verstanden wird. Ein Schritt, der längst überfällig ist:

 

"Beendet die Besatzung!"

 

 

 

Colum McCann: Apeirogon

Roman, aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Hardcover, 608 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2020