...liest gerade "Miroloi" von Karen Köhler

Eine abgelegene Insel im Meer, fern ab vom Rest der Welt.


Ein archaisches Dorf, das an festen Traditionen und Ritualen festhält.


Eine patriarchalische Gemeinschaft, in der viel gearbeitet, getrunken und geschlagen wird.


Und ein junges Mädchen, das nicht dazugehört.

 

 

Als Kind fand der Vorsteher des Gebetshauses das namenlose Mädchen auf der Treppe und nahm sie auf. Nun ist sie sechzehn und singt einen Totengesang auf ihr Dorf, ein abgelegenes Dorf, in dem Männer bestimmen und Frauen zu gehorchen haben, ein Dorf, in dem häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe nicht selten sind. Die Regeln des Zusammenlebens schreibt der Ältestenrat vor, bestehend aus 13 Männern, und so dürfen Frauen nicht lesen und schreiben lernen. Wer gegen die zahreichen Regeln verstößt, wird an den Schandpfahl gebunden, an dem ihm/ihr der Angstmann manche Knochen bricht. Oder er/sie wird gleich gesteinigt. Es ist das Leben einer Sekte, die dem Fundamentalismus von Islamisten, ultraorthodoxen Juden und strenggläubigen Evangelikalen in nichts nachsteht - und so heißt auch das heilige Buch Khorabel.

 

Und doch wird das Mädchen, das im Dorf als Außenseiterin behandelt wird, bald von ihrem Finder unterrichtet. Durch das Erlernen von Buchstaben öffnet sich dem Mädchen plötzlich eine völlig neue Welt. Mit dem Verstehen der Schrift bestürmen sie neue Gedanken, Zweifel brennen sich in ihr ein, sie hinterfragt die Gegebenheiten und sehnt sich auf die andere Seite des Meeres.

 

Des Menschen größter Antrieb, die Neugier, veranlasst sie dazu, Fragen zu stellen, unbequeme Fragen, doch sie findet keine Antworten. Als Unglücksbotin verschrien, gedemütigt, ausgegrenzt und geschlagen, entzündet sich in ihr eine Wut. Wut auf die Verhältnisse, Wut auf das Patriarchat, Wut auf die eng gesetzten Grenzen des Dorfes. Als sie sich schließlich verliebt und auch noch ihr Beschützer stirbt, wird ihre Wut zu einem Feuer aufgepeitscht, das das ganze Dorf verbrennen wird.

 

Nun habe ich es also auch endlich gelesen und was wurde nicht alles über diesen Roman geschrieben?

 

In den Feuilletons zerrissen - komischwerweise von meist männlichen Kritikern -, musste der Roman als Brennholz für eine Diskussion herhalten, in der es um nichts weniger ging, als um die Literatur an sich, um ihren Begriff und ihre Kritik. Und so ging ich voreingenommen an die Lektüre - und siehe da, es ist nur ein Text, gar nicht der Zerstörer der Literatur, und zudem hat er mich außerordentlich überrascht.

 

Der Roman hat Ecken und Kanten, dem stimme ich zu, aber wecken nicht gerade Unvollkommenheiten das Interesse? Ist es nicht die Reibung an dem Wie und Was der Erzählung, die einen Roman im Gedächtnis verankert?

Was hat die Literaturkritik nicht alles an Geschützen aufgefahren, um diesen Text zu verumglimpfen?

 

Der Roman sei zu unrealistisch und nicht zu verorten? -
Ich wusste gar nicht, dass dies notwendige Kriterien einer fiktiven Erzählung sind.

 

Er sei zu unglaubhaft? -
Da hat wohl jemand das Prinzip der Wahrscheinlichkeit nicht verstanden und gleich mit Glaubwürdigkeit verwechselt.

 

Zu patriarchalisch? -
In den Elfenbeintürmen von Feuilletonisten mag man es vielleicht anders sehen, ein Blick auf unsere Welt genügt allerdings, um zu erkennen, dass wir auch heute noch größtenteils in einem Patriarchat leben.

 

Zu viele Fragen bleiben am Ende zurück? -
Ja wunderbar, ein Text, über dem man auch nach der Lektüre noch nachdenken muss.

 

Die Sprache sei zu naiv? -
Welcher Sprachstil wird denn von einer unterdrückten, ausgeschlossenen, angefeindeten, der Bildung ferngehaltenen 16-Jährigen, die gerade lesen und schreiben lernt, genau erwartet? Schillerische Verse?

 

Und es gebe keinen Erzählanlass? -
Soetwas Verrücktes habe ich noch nie gehört. Woraus genau speist sich denn der Erzählanlass einer Geschichte und wer entscheidet darüber, ob er notwendig sei oder nicht?

 

Bei "Miroloi" handelt sich um einen Coming-of-Age Roman, eine Geschichte über Emanzipation und Selbstbestimmung, eine Erzählung über Neugier als Trieb, über den Tellerrand zu blicken und Gegebenheiten zu hinterfragen, ein Manifest über den Drang nach Freiheit.

 

Mitnichten hat der Roman den Literaturbegriff ins Wanken gebracht, viel eher zeigt die hitzige Debatte, wie Kritik in heutiger Zeit ausarten kann, selbst in den Feuilletons, die womöglich so energisch keifen und beißen, um den Platz auf dem Thron der Literaturkritik mit allen Mitteln zu verteidigen. Bald schon wird deswegen die nächste Sau durchs Dorf gejagt. Das ist gewiss.

 

Diese Sau fand ich allerdings großartig!

 

 

 

Karen Köhler: Miroloi

Roman

Hardcover, 464 Seiten

Carl Hanser Verlag, München 2019