Ein Geschichtenerzähler, der verstummt, ein Bann, der gebrochen werden muss, und eine Gemeinschaft, die zusammenhält. In Rafik Schamis Roman dreht sich alles um
die Magie des Erzählens und um die Macht des Wortes, besonders zu einer Zeit, da offenes Sprechen verboten ist. Vor den Augen des Lesers entsteht ein buntes Kaleidoskop unterschiedlichster Erzählungen, in denen Typen, Formen und Stimmen so stark variieren, dass alle Finessen des literarischen Handwerks eingeflochten und
jegliche Eigenarten der wohl ältesten Form menschlicher Kommunikation durchgespielt werden.
Damskus, Ende der 1950er Jahre. Der Erzähler hebt an und berichtet über den Tag, als der alte Kutscher Salim, der zwar weder lesen noch schreiben kann, dafür aber als der beliebteste Geschichtenerzähler der Stadt gilt, verstummt. Wie in einem Märchen erscheint ihm eines Tages eine Fee, die Manifestation seiner Inspiration, und teilt ihm mit, dass er nur noch 21 Wörter zu sprechen habe und danach seine Stimme verliere. Um sie wiederzuerhalten, benötige er in den nächsten drei Monaten sieben besondere Geschenke.
Nachdem Salim die ersten Wörter sinnlos vergeudet hat, begibt er sich auf kürzestem Wege zu seinen Freunden, deren Ritual es in all den Jahren geworden ist, sich allabendlich bei ihm zu versammeln, um seinen Geschichten zu lauschen. Mit den letzten Worten vermag er noch, ihnen von dem ihm auferlegten Bann zu erzählen, bevor kein Ton mehr über seine Lippen kommt. Nach einigen gescheiterten Versuchen erfasst sie die Idee, den stummen Geschichtenerzähler nur durch Geschichten von seinem Leiden befreien zu können.
Und so treffen sie sich fortan jeden Abend im Hause desjenigen, auf den tagszuvor das Los gefallen ist. Der neue Gastgeber muss im Kreise seiner Freunde eine Geschichte erzählen, um seinen Beitrag zu leisten und schließlich durch das gemeinsame Handeln den Bann von Salim zu nehmen. Auf diese Weise werden sieben Erzählungen dargeboten, die sich abhängig von ihrem Erzähler völlig unterschiedlich gestalten. Dem Leser ergibt sich ein buntes Sammelsorium an Stimmen und Formen, denn manche Geschichten sind märchenhaft verwoben, manche realistisch dargestellt, manche geradezu mythologisch aufgeladen. Manche gelten von vornherein als frei erfunden, manche wiederum erheben Wahrheitsanspruch. Bei allen Unterschieden in Stil und Darbietung ist jedoch allen eines gleich: die Freude am Erzählen.
GESCHICHTEN IN GESCHICHTEN IN GESCHICHTEN
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass sich Rafik Schami beim Aufbau seines Romans an "Tausendundeine Nacht" oder "Decamerone" orientiert und damit an die Tradition der Novellen- und Märchensammlungen anknüpft. So wie in den klassischen Vorbildern aus der Weltliteratur steht auch in diesem Roman die fingierte Mündlichkeit im Vordergrund, das Performative, also der Vortrag einer Erzählung, von denen eine Vielzahl im Text auf den Leser wartet. Denn man darf nicht nur den sieben Geschichten der Freunde als Zuhörer beisitzen und sich in ihre märchenhafte Ausführung vertiefen, sondern noch vielen anderen beiwohnen, von denen die meisten vom Ich-Erzähler stammen. Dieser Erzähler der Rahmengeschichte ist ein Junge aus der Nachbarschaft, der jeden der Freunde Salims in einer eigenen Erzählung vorstellt und damit die Vielstimmigkeit an unterschiedlichen Erzählungen vervollständigt.
Der Kern der meisten Geschichten liegt in Lüge und Täuschung, denn was ist Erzählen anderes als ebendieses? Dabei hantiert der jeweilige Erzähler mit vielen literarischen Kniffen und Illusionsbrüchen, die sich besonders zwischen den Ebenen abspielen. Denn an manchen Stellen geht es bis in die dritte oder vierte Ebene hinunter. So gibt es als erstes den Ich-Erzähler, der die Rahmenhandlung präsentiert. In dieser Geschichte treten die Freunde Salims auf, die ebenfalls Geschichten erzählen. Doch diese werden immer wieder gebrochen, unterbrochen oder gar in eine weitere Ebene hinabbegleitet, so dass es in diesen Geschichten wiederrum einen Erzähler gibt, der eine Geschichte erzählt. Oft greifen die Ebenen aber auch ineinander, sind gesprickt mit Abschweifungen, Ausschweifungen und Auslassungen, ebenso wie mit Vorschauen und Rückschauen, Zeitsprüngen und Pausen sowie vielen weiteren literarischen Kniffen. Aus dieser Vielstimmigkeit ergibt sich dem Leser ein buntes Panorama des Erzählens, das leicht und unterhaltsam daher kommt.
GESCHICHTE SYRIENS
Die Einzigartigkeit des Romans liegt jedoch in dem historischen Hintergrund, der ständig mitläuft und bereits auf die heutigen Zustände in Syrien hindeutet. Werden die Binnenerzählungen nämlich meist heiter und lustig erzählt, ist der Rahmen der Geschichte doch ein ernster. Denn dieser Roman, bereits 1989 erschienen, setzt sich auch mit der Geschichte Syriens auseinander, streift von den Osmanen über die Franzosen, bis hin zur Hoffnung in den Panarabismus, der in den 50er Jahren seinen Höhepunkt erreichte.
Rafik Schami, 1946 selbst in Damskus geboren und 1971 nach Deutschland gekommen, versetzt die Erzählung in jene Zeit, als der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser zusammen mit Syrien die Vereinigte Arabische Republik ins Leben gerufen hat, in der Hoffnung, dass sich viele andere arabische Länder anschließen, um die Hegemonie der USA, Briten und Franzosen im Nahen Osten zu beenden. Nassers Regierung ist jedoch wie die heutige Assads autokratisch bis totalitär. Der Geheimdienst ist stets auf der Suche nach Abtrünnigen, zu denen bereits Menschen zählen, die kritische Aussagen gegenüber dem Regime fallenlassen. So sprechen die Freunde unter der Hand von neuen Denunziationen und Verschleppungen, Folter und Isolationshaft, Vertreibung und Flucht, immer in Angst vor den Wänden, da die Wände Ohren haben. Als Leser fühlt man die allgegenwärtige Willkür des Regimes, so dass dieser Roman auch Kritik an Zeit und Regime übt und achtzehn Jahre später hochaktuell anmutet.
Doch nicht nur die dunkle Seite der Geschichte wird theamtisiert, sondern auch die helle. Denn dieser Roman ist auch ein Roman über Damaskus und seine Menschen. Rafik Schami, der eigentlich Suheil Fadél heißt, beweist sich im wahrsten Sinne seines Pseudonyms als Damaszener Freund. Die Stadt findet Eingang in viele Erzählungen und wird dadurch oft beschrieben, wird in Gerüchen und Geschmäckern veranschaulicht, in Menschen und Gebräuchen dargestellt. Man streift mit dem Erzähler durch verwinkelte Gassen und kleine Läden, wo sich hinter jeder Ecke Geheimnisse und Wunder verbergen und auftun können. Zudem erfährt man die Freundlichkeit der Menschen, bestaunt die Märkte, genießt das Essen und Trinken, und wird in eine Zeit versetzt, als der Orient noch magisch anmutete.
FAZIT
"Erzähler der Nacht" ist im wahrsten Sinne des Wortes ein wunderbarer und fabelhafter Roman. Nicht nur, dass er wie ein Märchen aus 1001 Nacht anmutet. Nicht nur, dass die Geschichten durch ihre Formen- und Stimmenvielfalt eine Besonderheit darstellen. Nicht nur, dass das Erzählen im Vordergrund steht und der Roman damit Autorefrenzialität erkennen lässt, da es um die Macht der Worte geht, um die Kunst des Erzählens. Ja, nicht nur, dass er der Zeit den Spiegel vorhält, kritisch der Diktatur begegnet und damit plötzlich mit Blick auf die heutigen Zustände im Nahen Osten wieder hochaktuell wird. Besonders die Lebensfreude und schlichte Begeisterung der Protagonisten, die Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit, die Erzähl- und Fabulierlust ziehen den Leser in einen Bann. Ebenso das Gemeinschaftsgefühl, das eine Sonderstellung im Roman einnimmt und gegen einen oft ausufernden westlichen Individualismus steht, der manches Mal in Einsamkeit endet. Denn letztlich vermag im Roman nur die Gemeinschaft den Einzelnen zu retten.
Rafik Schami: Erzähler der Nacht
Roman
Taschenbuch, 280 Seiten
München: dtv 1994
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags
Bildnachweis: Bibliotheca Alexandrina, Syrian-Egyptian unity talks // Quelle: Wikimedia Commons