...liest gerade "Brüder" von Jackie Thomae

Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Der eine ein Hallodri, der in den Tag hineinlebt und das macht, was er für richtig hält, ohne Rücksicht auf die Menschen in seiner Umgebung.
Der andere ein Stararchitekt, der den alltäglichen Anforderungen und Verpflichtungen bis zur Selbstaufgabe nachkommt.
Sie kennen sich nicht, doch sie verbindet mehr als die Hautfarbe, die sie kennzeichnet.
Sie haben denselben Vater.

 

Mick führt ein Leben, das zum Scheitern verurteilt ist. Er ist ein Hippster, bevor sich die Bezeichung überhaupt im trendigen Berlin durchsetzt. Er lebt in den Tag hinein, feiert tagelang, hat zahlreiche Affären und betrügt so seine Frau, die duldsam zuschaut. Doch dann gerät sein Leben ins Wanken. Als der Club, den er mit Freunden führt, wegen Steuernachzahlungen schließen muss und ihn schließlich auch noch seine Frau verlässt, stürzt alles um ihn herum ein und er wagt den Sprung in ein neues Leben.

 

Gabriel ist das Gegenteil. Er führt ein konservatives Leben, ist verheiratet und hat einen Sohn. Pflichtbewusstsein lässt ihn bis zum Umfallen arbeiten. Er lebt für seine Agentur und findet wenig Zeit für andere Dinge. Und so bemerkt er auch nicht, dass seine Frau ihn betrügt. Am Ende bricht auch er unter der Last des Lebens zusammen und erleidet einen Burnout.

 

Als beide schließlich eine EMail vom verschollenen und unbekannten Vater erhalten, scheint das fehlende Puzzleteil ihres Lebens gefunden - oder doch nicht?

 

Eines vorab: Der Roman ist herausragend. Es wird nicht nur eine Familiengeschichte aufgeworfen, deren Wege verschlungen durch die Jahrzehnte irren, es ist vielmehr die Geschichte der Trennung, Annäherung und Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die sich in den unterschiedlichen Männern widerspiegelt. Es ist ein Roman über die Suche nach dem Sinn in einem Leben, in dem stets etwas fehlt, ein Leben, das nicht komplett erscheint.

 

Mit Scharfsinn, Witz und Humor wird die Geschichte der ungleichen Brüder erzählt. Dabei werden die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse sowie das Lebensgefühl der 80er, 90er und 2000er auf famose Weise heraufbeschworen. Dazwischen, in leisen Tönen, surrt der alltägliche Rassismus mit, den beide wegen ihrer Hautfarbe erdulden müssen, aber auch die Feinheiten des alltäglichen Lebens, das Geflecht, in dem man sich verirren kann, stechen imposant heraus. Der Roman setzt all dies feinfühlig, witzig und unterhaltsam in einer gelungenen Komposition um. Ein Roman, der meiner Meinung nach den Buchpreis allemal verdient gehabt hätte.

 

 

 

Jackie Thomae: Brüder

Roman

Hardcover, 432 Seiten

Hanser Berlin, Berlin 2019