Und hier also noch Teil 2 des Jahresrückblicks: die Backlist Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe und die mich in ihren Bann gezogen haben. Mit Klick auf das Foto werdet ihr zur ganzen Besprechung weitergeleitet.
"DIE WOHLGESINNTEN"
von Jonathan Littell
Ein Roman über die grausamste Epoche des letzten Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg, die zahlosen und bestialischen Kriegsverbechen, den Russlandfeldzug und den Holocaust. Doch der Erzähler ist kein Opfer, der nur knapp dem Tod entronnen ist, niemand, der die Shoa überlebt hat oder heldenhaft gegen die Nazis kämpfte, nein - dies ist ein Täterroman, der keineswegs leicht zu verdauen ist, der schwer im Magen liegt wie wohl nur wenige andere Romane, der aufwühlt und wütend macht, der Unfassbares erzählt, gegen das sich alles im Innern sträubt, und der doch vielleicht so nah an der Wahrheit ist wie keine andere Geschichte oder Geschichtsschreibung. Eine Erzählung, die wichtig ist und sehr tief in menschliche Abgründe führt.
Ein unfassbarer, ein bedeutsamer, ja ein Jahrhundertroman!
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"MELANCHOLIE DES WIDERSTANDS"
von László Krasznahorkai
In seitenlangen Sätzen und absatzlosen Kapiteln wird hier die drohende Apokalypse in einem ungarischen Dorf geschildert. Doch wenn man sich der eigenwilligen Form hingibt, erhält man eine Geschichte, die an Tief- und Scharfsinn, Intellektualität, Komik und Melancholie ihres gleichen sucht. Es ist geradezu ein Sog, in den man gerät, wenn man in die apokalyptische Welt abtaucht, beschworen durch eine bestechende Präzision der Worte und einer einmaligen Fabulierlust. Die in sich verschachtelten Sätze, die stockenden und springenden Gedankengang simulieren, dazu die Perspektivwechsel entfachen einen Lesewahn, dem man sich nicht entziehen kann.
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"HUNGER"
von Knut Hamsun
Die Geschichte eines verarmten (Überlebens-)Künstlers, die die gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwirft und mitten hinein in die Frage zielt: Was ist Kunst und was ist Dilettantismus? Die Darstellung von Hunger gelingt hier so überzeugend, plastisch und ausdrucksvoll, dass man während der Lektüre selbst mithungert und das wilde Knurren im Magen nicht unterdrücken kann. Durch die damalige neue Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms spürt man geradezu in jeder Faser die Zerrissenheit zwischen Scham und Stolz, zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, zwischen Verdruss und Hoffnung, die den Protagonisten zersetzt und immer weiter an den Rand der Gesellschaft drängt.
Ein atemberaubender Roman!
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"KASSANDRA"
von Christa Wolf
Kassandra steht kurz vor der Hinrichtung in Mykene und erinnert sich an den trojanischen Krieg und ihre Gefährten. Allerdings stehen hier nicht mehr die Taten der Götter im Vordergrund, sondern die Begierden und Machenschaften der Menschen. Jegliche Taten werden rückblickend psychologisiert und so geht es nicht mehr um den Kampf der Götter, sondern um Politikgeschacher, List und Heuchlei. Es ist eine zutiefst menschliche Erzählung, in der Götter keinen Platz mehr finden, sondern der Krieg aus der Sicht einer Frau erzählt wird, die auf Seiten der Verlierer steht. Und so ist auch der Kriegsgrund wahrlich ein anderer als stets angenommen. Die Sprache ist dabei gewöhnungsbedürftig, imitiert sie doch mit ihren gestelzten Sätzen den Rhythmus der Ilias und Odyssee, doch wie hier die Mythologie vermenschlicht und umgedichtet wird, ist einfach grandios!
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"SCHANDE"
von J. M. COETZEE
Schonungslos beschreibt Coetzee die Missstände in Südafrika nach dem offiziellen Ende der Apartheid, beschreibt die Entwicklung des Landes, das sich nun andere Opfer sucht und doch beim gleichen Schema von Herr und Knecht bleibt, beschreibt den Hass, der sich zwischen den Menschen eingebrannt hat und nach Blut dürstet, und beschreibt letztlich einen Generationenkonflikt rund um das Erbe der Apartheid. Zudem spiegeln sich in den großen Themen, die der Roman beleuchtet - das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Schwarz und Weiß, Vater und Tochter, Täter und Opfer - Ungnade und Schande (Originaltitel: "Disgrace") gegenseitig wider und skizzieren am Ende den Beginn von etwas Neuem.
Ein beklemmender Roman in einem beinahe lapidaren, lakonischen, auf jeden Fall sehr gradlinigen Stil. Lesenswert, aber beunruhigend und verstörend.
Teil 1 verpasst? Keine Sorge, hier geht es zum ersten Teil meines Jahresrückblicks 2020.