...liest gerade „Dschinns“ von Fatma Aydemir

Hüseyin schaut auf die Stadt seiner Träume hinaus.

Er hat es geschafft. 30 Jahre hat er für diese Wohnung in Istanbul geschuftet.

Der Moment überwältigt ihn, nicht wissend, dass es der letzte seines Lebens sein wird.

 

Als die BRD in den 70er Jahren nach Gastarbeitern ruft, folgt Hüseyin der Verlockung und lässt seine Familie in der Türkei zurück. Es vergehen Jahre, in denen er seine Frau und seine Kinder nur in den Ferien sieht, bis er sie endlich nachholen kann – alle, bis auf seine älteste Tochter.

 

In Deutschland ist alles anders, die Menschen, die Städte, das Leben, das Klima. Auch die Eltern verhalten sich merkwürdig, besonders als im ganzen Land plötzlich Häuser brennen. Eine subtile Angst kriecht in die Familie, das Gefühl von ständiger Bedrohung nistet sich ein, während die Deutschen in Partykellern und auf der Loveparade feiern. Die Eltern werden nie richtig heimisch, die Kinder derweil zwischen den Kulturen hin und her gerissen. Und so versucht jeder auf seine Weise, seinen quälenden Geistern zu entkommen, bis die Familie auseinanderbricht und erst in Istanbul wieder zusammenfindet.

 

„Dschinns“ ist eine Wucht und ein zutiefst bewegender Roman, der die Frage nach Familie und Identität neu aufwirft und verhandelt, denn was hält diese Menschen, die miteinander verwandt sind, eigentlich zusammen? Sind es die Geschichten, die man einander erzählt, wieder und wieder, meist auf Familienfesten? Oder sind es die Bruch- und Leerstellen, die sich wie Gräben durch Familien ziehen, die Geheimnisse, die man voreinander hat, die Wunden, die man sich schlägt?

 

Selten habe ich einen poetischeren Beginn gelesen. Der plötzliche Tod des Vaters stellt den Ausgangspunkt zu einer Geschichte dar, die durch Perspektivwechsel und Rückblenden das Panorama einer Migrantenfamilie in den 80er und 90er Jahren der BRD entfaltet. Es ist zugleich aber auch Familien- und Generationen-, Arbeiter- und Zeitroman und handelt besonders von dem Drang nach Unabhängigkeit, Emanzipation, Selbstfindung und -behauptung.

 

Der Roman erschien bei Hanser, stand auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und wäre ein ebenso verdienter Siegertitel gewesen.

 

 

 

 

Fatma Aydemir: Dschinns

Roman

Hardcover, 368 Seiten

Hanser Verlag, München 2022