...liest gerade "Schlafes Bruder" von Robert Schneider

Er ist eigenartig.
Er ist seltsam.
Er ist genial.

 

Als Elias 1803 in einem Vorarlberger Bergdorf das Licht der Welt erblickt, beginnt er erst durch das Singen der Hebamme zu atmen. Den ersten Laut stößt er aus, als er die Orgel der Kirche vernimmt und nachts schrickt er regelmäßig auf, wenn die Schneeflocken als musikalische Intonation hinunterrieseln.

 

Bereits als Kleinkind nimmt er die Welt anders wahr, anders als die Dorfbewohner in ihrem alltäglichen, von Intrigen gesponnenen Leben. Als ihn schließlich ein verführerisch singender Stein zu einem Bach lockt, überkommt ihn eine Art Epiphanie. Die Geräusche des Waldes, des Baches und der Tiere fallen über ihn her und in ihn ein. Die Komposition steigert sich in einem wahnwitzigen Crescendo, dehnt sich aus wie eine Welle um einen ins Wasser geworfenen Stein, bis er die Laute des ganzen Universums in nur einem Augenblick vernimmt. Und dann hört er es. Ein Ton sticht aus der Polyphonie heraus, ein Pochen, das ihn bannt: es ist der Herzschlag eines neugeborenen Menschen, für den seine Liebe sogleich entflammt. Es ist seine Cousine Elsbeth.

 

Obwohl hochtalentiert, nimmt niemand im Dorf seine Begabung wahr. Vielmehr wird er verstoßen, gilt als Sonderling und Außenseiter. Sein musikalischer Aufstieg bleibt begrenzt. Und als seine Cousine als Jugendliche ihren Nachbarn heiratet, erinnert er sich an einen Wanderprediger, der einmal in das Dorf gekommen war und geraunt hatte: "Wer liebt, schläft nicht."
Und so fasst Elias einen Plan.

 

Erzählt werden dem Leser Leben und Leiden des zu früh Gestorbenen durch einen Chronisten, der auch die Lebensumstände in den Bergen detailliert schildert. Immer wieder unterbricht dieser sich, kommentiert, fasst zusammen und schaut voraus, warnt und (ver)tröstet. Seine derbe, altbackene Sprache ist dabei der rauen Bergwelt entlehnt und zeugt von wunderbarem Klang.

 

Der Roman ist eine Künstlergeschichte, beinahe eine Heiligenvita eines verkannten Musikgenies. Zugleich ist sie mit einer tragischen Liebesgeschichte versponnen. Eine imposante Erzählung, die noch lange nachhallt und nicht zu Unrecht als ein moderner Klassiker der deutschen Literatur gilt.

 

"Schlafes Bruder" ist bereits 1992 im Reclam Verlag erschienen.

 

 

 

Robert Schneider: Schlafes Bruder

Roman

Taschenbuch, 212 Seiten

Reclam, Leipzig