...liest gerade "Melancholie des Widerstands" von László Krasznahorkai

Seltsame Vorfälle ereignen sich in der kleinen Stadt.

Zuerst beginnt die seit Jahrzehnten verstummte Kirchenuhr zu ticken.
Dann schwankt der gewaltige städtische Wasserturm ohne Grund.
Und obwohl es klirrend kalt ist - viel zu kalt für die Jahreszeit - fällt kein Schnee.
Als wären die Geschehnisse nicht erschreckend genug, zieht plötzlich ein Zirkus in die Stadt ein.
Und mit ihm dunkle Gestalten, die nur eines im Sinn haben - blinde Zerstörungswut.
 
Eine kleine Stadt in Südostungarn. Die Bewohner sind unruhig. Sie merken, dass sich etwas zusammenbraut. Das beängstigende Gefühl befällt sie, dass etwas passieren wird, etwas Einmaliges, etwas Umwälzendes. Die Anzeichen häufen sich, denn außergewöhliche Dinge geschehen. Die Stadt verfällt und geht zugrunde. Müll und Unrat wachsen auf den Bürgersteigen an. Straßenlaternen funktionieren nicht mehr. Waren werden nicht mehr geliefert. Ämter arbeiten nicht mehr. Es fehlt an Medikamenten, an Kohle zum Heizen, der Verkehr ist eingestellt. Die Welt, so wie sie war, scheint unterzugehen.
 
Nur eine Frau lehnt sich gegen den Verfall auf. Frau Eszter plant eine Kampagne, um Ordnung und Sauberkeit in die Stadt zurückzubringen. Doch dazu muss sie ihren Mann gewinnen, ihren Mann, der als Koryphäe in der Stadt gilt, als zurückgezogener Intellektueller, dessen Wort Gewicht hat. Derselbe Mann, der sie aus dem Haus geworfen hat, um endlich in Ruhe und Weltabgewandtheit seine Tage im Bett zu verbringen. Aber Frau Eszter hat einen Plan. Sie will Valuska, einen romantischen Träumer und den einzigen Vertrauten ihres Mannes, in ihr Vorhaben einbeziehen.
 
Doch dann erscheint auf einmal ein ominöser Zirkus in der Stadt, ein Zirkus, der einen riesigen Wal als Attraktion mit sich führt. Doch nicht nur das. Wie eine Welle überschwemmt eine gespenstische Menge die Stadt. Dunkle Gestalten, die dem Zirkus folgen und wie Zombies umherwanken. In einem der Schausteller wollen sie ihren neuen Führer erkannt haben, den Herzog. Und so ist es, als würde die Apokalypse in die Stadt Einzug halten. Denn plötzlich beginnt der Umsturz - und er ist nicht mehr aufzuhalten.
 
Vor einem Jahr las ich den aktuellen Roman von Krasznahorkai, "Baron Wenckheims Rückkehr", und war begeistert. "Melancholie des Widerstands" erschien bereits 1989. Aber schon hier sind alle Zutaten des erzählerischen Genies Krasznahorkais versammelt, denn auch diese Erzählung ist großartig und lässt mich immer mehr daran glauben, dass Krasznahorkai einer der ganz großen und bedeutsamen Romanciers unserer Tage ist.
 
Natürlich muss man sich auf die seitenlangen Sätze und absatzlosen Kapitel einstellen, doch wenn man sich der eigenwilligen Form hingibt, erhält man eine Geschichte, die an Tief- und Scharfsinn, Intellektualität, Komik und Melancholie ihres gleichen sucht. Es ist geradezu ein Sog, in den man gerät, wenn man in die apokalyptische Welt abtaucht, beschworen durch eine bestechende Präzision der Worte und einer einmaligen Fabulierlust. Die in sich verschachtelten Sätze, die stockenden und springenden Gedankengang simulieren, dazu die Perspektivwechsel entfachen einen Lesewahn, dem man sich nicht entziehen kann.
 
Die beschriebene Apokalypse, die letztlich etwas Neues hervorbringt, könnte man u.a. als Allegorie auf den Zerfall des Kommunismus, auf den Aufstieg des Faschismus oder die Durchdringung des Kapitalismus lesen, man könnte den Roman religiös oder gesellschafts- bzw. sozialkritisch deuten. Der Interpretationsmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.
 
Eigentlich lässt sich nur eines sagen: Wer noch nie etwas von Krasznahorkai gelesen hat, sollte es unbedingt nachholen. Ich bin ihm spätestens jetzt verfallen.

László Krazsnahorkai: Melancholie des Widerstands

Roman, aus dem Ungarischen von Hans Skiecki

Taschenbuch, 464 Seiten

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2011