...liest gerade "Dort Dort" von Tommy Orange

Das Powwow steht vor der Tür. Es ist das traditionelle Festival der indigenen Bevölkerung Amerikas. Ein Fest der Freude und Ausgelassenheit. Ein Fest der Traditionen und des Gedenkens. Ein Fest des Tanzes und der Musik.
Es wird ein Fest des Todes.

 

Dene möchte das Projekt seines Onkels fortführen und in einem Dokumentarfilm die Spuren der Native Amercians in den heutigen Städten nachzeichnen. Bewaffnet mit einer Kamera begibt er sich auf die Suche nach den letzten Nachfahren der indigenen Bevölkerung.

 

Er findet unter anderem Orvil. Orvil lebt mit seinen zwei kleineren Brüdern bei der Halbschwester seiner Oma. Seine Mutter ist tot, seine Großmutter desinteressiert. Sie sind zwar Native Americans, aber ihre Traditionen sind erloschen. Als der Junge den rituellen Tanz seiner Vorfahren sieht, kennt er jedoch nur noch ein Ziel: Er will zum Powwow und tanzen.

 

Da ist aber auch Tony. Der Alkoholismus seiner Mutter spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Er verkauft Drogen für Octavio, mit dessen Gang er plant, das Powwow zu überfallen, um an Geld zu kommen.

 

Ihre Wege, so wie die vieler anderer, werden sich auf dem Festival unausweichlich kreuzen - zum Bedauern aller.

 

Eines vorweg: "Dort Dort" ist erschütternd. Es die Geschichte der Native Americans. Die Geschichte ihrer Ausrottung, Verfolgung, Umsiedlung und Assimilierung. Ein Bild, das die Ahnen der indigenen Bevölkerung in Szene setzt, heimatlose Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, ausgeschlossen, in Armut und Kriminalität, gezeichnet von Alkohol- und Drogenmissbrauch.

 

Tommy Orange, selbst Native, wirft mit seinem Roman die Frage nach der heutigen Verantwortung auf. Wie einen Zopf flicht er eine Geschichte, in der sich die Erzählfäden nach und nach ineinander verstricken. Durch die Vielzahl an Perspektiven, die sich überschneiden und bedingen, wird der Zopf eng und enger, bis er straff auf einen Punkt zuläuft: das Powwow.

 

Aufwühlend. Mitreißend. Bewegend. Und ein Ende, das schockiert. Ich habe den Roman ruhelos gelesen. Das Schicksal der Native Americans wurde wohl noch nie so plastisch dargestellt. Im Stil erinnert es an einen Roman, den ich als einen der besten preise, den ich je gelesen habe: "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" von Marlon James.

 

Und wenn mich "Dort Dort" auch nicht ganz so überwältigt hat wie sein Vorbild, so ist es doch ein grandioses Werk, das den Natives eine Stimme verleiht, eine Stimme, die sich tief einbrennt und nachhallt.

 

 

 

Tommy Orange: Dort Dort

Roman, aus dem Englischen von Hannes Meyer

Hardcover, 288 Seiten

Hanser Verlag, München 2019