...liest gerade "Identitti" von Mithu Sanyal

Sage mir, woher du kommst, und ich sage dir, wie braun du bist.

 

Was für ein Skandal!

Die von ihren Studenten vergötterte Professorin für Postcolonial Studies ist entlarvt.

Saraswati, aus Indien stammende Person of Colour, ist nicht, was sie zu sein vorgibt.

Ihre Identität ist geklaut, ist erstunken und erlogen – denn sie ist weiß!

 

Nivedita ist voller Vorfreude auf ihren Masterstudiengang in Düsseldorf. Die sagenumwobene Saraswati wird eine ihrer Professorinnen, jene Inderin, die den ganzen universitären Betrieb mit ihren Methoden auf den Kopf stellt. Ihr Charisma, Ihre Eloquenz und Stärke beeindrucken Nivedita, die, selbst halb indisch und polnisch, endlich ein Rolemodel gefunden zu haben scheint, nach dem sie sich so lange sehnte.

 

Doch dann kommt die Wahrheit ans Tageslicht und Niveditas Welt zerbricht. Desillusioniert versucht sie Antworten zu finden und begibt sich zu ihrer einstigen Professorin, um sie zu stellen. Doch statt Antworten zu finden, prasseln nur noch mehr Fragen auf sie ein, Fragen, die ihr den Kopf verdrehen, Fragen nach Identität und Selbstbestimmung. Denn was ist eigentlich Identität? Und wer oder was bestimmt sie?

 

Über kaum einen anderen Roman wurde dieses Jahr so viel geredet und geschrieben, kaum ein anderer Roman wurde so überschwänglich gelobt und teilweise hart kritisiert wie „Identitti“. Obwohl ich solchen meist schnelllebigen Hypes skeptisch gegenüberstehe, hat mich die fabelhafte Lesung Mithu Sanyals in Freiburg doch dazu gebracht, das Buch zur Hand zu nehmen…welch ein Glück!

 

Denn der Roman ist in der Tat großartig und kreist um die Fragen unserer Zeit. Allen voran handelt er von Identitäten, selbstgewählten und aufoktroyierten, von Gruppen, zu denen der Beitritt erlaubt oder verweigert werden kann, vom Gefühl und Wunsch nach Zugehörigkeit und vom Ausgestoßensein.

 

Er handelt von Rassismus und Kulturalismus, deren Wurzeln tiefer als bis zum Kolonialismus reichen, handelt von kultureller Aneignung und zersetzenden Machtstrukturen, die immer mehr aufweichen, vom Spagat zwischen liberalem Weltbild und Denk- und Meinungsverboten, die dieses trotz allem begleiten. Er handelt von Cancel Culture im Zuge überbordender Political Correctness, von der ausufernden Empörung, die in Zeiten von Social Media, wo Hate Speech und Shitstorms toben, zur Hexenjagd verkommt, von Sex und Gender, Rollen und Zuweisungen, von der Gesellschaft und ihrem Miteinander und das alles auf so spielend leichtem Wege, das man ungemein amüsiert und unterhalten wird, während einem der Kopf von all den Fragen schwirrt.

 

„Identitti“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und hat mehrere Auszeichnungen gewonnen. Erschienen ist der Roman in Hanser Literaturverlage und verdient eine klare Leseempfehlung.

 

 

 

Mithu Sanyal: Identitti

Roman

Hardcover, 432 Seiten

Hanser Verlag, München 2021