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...liest gerade „Der große Gopnik“ von Viktor Jerofejew

Gestern jährte sich zum zweiten Mal der Jahrestag des Großangriffs auf die Ukraine. Und es gibt nur einen, der für dieses unaushaltbare Leid verantwortlich ist, einen, der das verwandte Brudervolk bombardieren lässt, einen, der Mensch und Kultur auslöschen will, einen, der eine ganze Generation seines eigenen Volkes in den Tod treibt, einen allein, wegen dem Zehntausende sterben müssen – es ist der große Gopnik.

 

Dieser Kleinkriminelle stand aus dem zerfallenen Großreich der UdSSR auf und machte sich mit seinen Freunden Land und Leute Untertan. Dabei scheuten sie vor nichts zurück, beseitigten alle, die gegen sie waren, und entfesselten Krieg auf Krieg, während der Westen wegen seiner eigennützigen Motive nur tatenlos zusah.

 

„Das sind sie – die Jungs aus dem Hinterhof, die jetzt in Palästen auf den Sperlingsbergen mit Panoramablick auf Moskau residieren.“

 

Selbst vor dem Großen Gopnik geflüchtet, spürt Viktor Jerofejew in seinem autofiktionalen Text nicht nur seinem Leben, sondern vor allem dem Wesen Russlands nach, seiner Kultur als auch seinem Größenwahn. Mit böser Zunge und scharfer Feder seziert er die Gesellschaft, in der es ein Gopnik bis an die Spitze des Staates geschafft hat, stellt die Macht und Gewalt bloß, die Russland beherrscht und entwirft ein desaströses Bild seines Vaterlandes, dessen Chaos der Übergangsjahre sich einer zunutze machte: ein aufstrebender Hinterhofjunge, der seinem Idol nacheifert und das Stalinovirus durch seine Propagandamaschine unters Volk bringt.

 

Und immer wieder steht der 24.2. im Mittelpunkt, die Fassungslosigkeit darüber, dass man die eigenen Verwandten angreift und tötet. Es ist die Seele Russlands, die Jerofejew hier erkundet, dieser Komplex der Überlegenheit, an die man glaubt und die auf eigenartige Weise nur den jahrhundertealten Minderwertigkeitskomplex überspielt, an dem die russische Seele leidet.

 

„Der große Gopnik“ ist ein schwieriger Text. Er ist verstörend und undurchsichtig, aber auch verrückt und humorvoll, oft in einer teils sehr derben Sprache. Dabei ist er aber vor allem eines: eine Abrechnung mit dem Großen Gopnik und dem russischen Nationalismus.

 

 

 

Viktor Jerofejew: Der große Gopnik

Roman

Hardcover, 614 Seiten

Matthes & Seitz, 2023

 

...liest gerade etwas „Populärliteratur“, passend zu aktuellen Geschehnissen

LICHTSPIEL

von Daniel Kehlmann

 

Der große Filmproduzent Pabst geht einen Bund mit dem Teufel ein. Vordergründig aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt, um sich um seine kranke Mutter zu kümmern, sehnt er sich nach alten Zeiten zurück. Denn weder in den USA noch in Frankreich konnte er an seine Erfolge anknüpfen. Doch plötzlich werden die Grenzen geschlossen. Deutschland überfällt Polen und beginnt den 2. Weltkrieg. Pabst ist Gefangener im Reich und muss den Canossagang antreten. Er wird vor Göbbels zitiert und wird fortan im Auftrag des Regimes Filme drehen, einer erfolgreicher als der andere. Doch der Erfolg steigt ihm zu Kopf. Die Freiheiten, die er genießt, überschatten sein Schaffen, bis er in seinem letzten Film die Grenze überschreitet.

 

Kehlmann schreibt über den vergessenen Filmproduzenten einen Künstlerroman im Gewande einer faustischen Tragödie. Was ist Kunst? Warum schafft man sie? Was darf sie? Und wo liegen ihre Grenzen? Dabei spielt er nicht nur mit postmoderner Ironie, sondern auch mit Filmtechniken und Wirklichkeiten.

 

Eindrucksvoll konstruiert und sehr unterhaltsam.

 

*****

 

DER TRAFIKANT

von Robert Seethaler

 

Muss man diesen Roman wirklich noch vorstellen?

 

Wien, kurz vor dem 2. Weltkrieg. Die Nationalsozialisten marschieren in Österreich ein und diktieren ihre Vorstellung von Recht und Ordnung. Plötzlich verschwinden Menschen oder werden in aller Öffentlichkeit versprügelt. Zeitungen werden zum Propagandasprachrohr, Geschäfte boykottiert. Inmitten dieses Chaos versucht der junge Franz in einer Trafik zu arbeiten und macht Bekanntschaft mit Siegmund Freud. Zudem verliebt er sich und so wie sein Seelenleben ins Chaos stürzt, so stürzt es Wien durch die Nazis.

 

Seethaler schreibt bewegend über das Aufkommen des Nationalsozialismus, über die Angliederung, die Mitläufer und Gewinner, aber auch über die Verlierer und über das Aufbegehren gegen das Unrecht. Vor allem schreibt er aber auch über die Verstrickungen Österreichs, das sich lange als erstes Opfer Hitlers darstellte.

 

Mag es meiner Meinung nach auch etwas an Komplexität und Tiefe fehlen, weiß Seethaler doch zu unterhalten.

 

 

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Roman

Hardcover, 480 Seiten

Rowohlt Verlag, 2023

 

Robert Seethaler: Der Trafikant

Roman

Tasschenbuch, 256 Seiten

Kein & Aber, 2013

 

...liest gerade „Landgang“ von Mayjia Gille

„Kattegat:

Südost um 3, süddrehend.

Belte und Sund:

Südost um 3, südwestdrehend.

Westliche Ostsee:

Boddengewässer Ost:

Südost um 3, später schwachwindig.“

 

Seewetter- und Küstenberichte beruhigen die 12-jährige Magdalena auf der Reise in ein neues Leben. Das alte mussten sie zurücklassen – und mit ihm auch Bruder und Vater. Allein die Mutter begleitet sie und bis zur Grenze auch ein auffälliger Mann, wohl ein Spitzel, da die Mutter als Dissidentin gilt.

 

Nachdem der dritte Ausreiseantrag genehmigt wurde, gelangen sie endlich in den verheißungsvollen Westen. Doch es ist nicht das Paradies, das sie erwartet, nicht der erhoffte Neubeginn in Freiheit und Unbekümmertheit, sondern eine jahrelange Odyssee, bei der sie sich von Stadt zu Stadt schlagen und Bekanntschaften nur kurz währen. Dabei bietet die Mutter keinen Halt, quälen sie doch selbst Dämonen aus der Vergangenheit, die sie auf ihre Tochter projiziert.

 

Mit dem neuen Leben beginnt für Magda die schwere Suche nach sich selbst, doch nicht nur ihre Mutter legt ihr Steine in den Weg, auch in der Gesellschaft findet sie sich immer weniger zurecht. Immer trostloser wird das Leben, immer hoffnungsloser, bis plötzlich die Mauer fällt.

 

Dieser Roman besticht durch seine Collagenform, anhand derer die Ich-Erzählerin das Leben in der DDR In leisen und unaufgeregten Erinnerungen ausmalt, kontrastiert vom unsteten Leben in der BRD und unterbrochen von Aktenvermerken der STASI. Es ist die Selbstfindung und -behauptung eines jungen Mädchens, hin und her gerissen zwischen einem liebevollen und kunstliebenden Vater und einer gebrochenen Mutter, zwischen der Heimat im Osten, wo man als individueller Kopf Repressalien zu befürchten hatte und bespitzelt wurde, und dem chaotischen und anonymen Neubeginn im Westen. Eine feinsinnige Erzählung über die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit einer Heranwachsenden auf der Suche nach ihrer künstlerischen und individuellen Freiheit.

 

"Landgang" ist das bemerkenswerte Romandebüt der Autorin Mayjia Gille, ihres Zeichens selbst Lyrikerin, Musikerin und Malerin, deren Bild auch das Cover ziert und das Buch so zu einem Gesamtkunstwerk macht.

 

 

Mayjia Gille: Landgang

Roman

Hardcover, 264 Seiten

kul-ja! publishing, 2023

 

Jahresrückblick 2023

Die besten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe - hier sind sie.

 

 

 

"DAS ACHTE LEBEN (FÜR BRILKA)"

von Nino Haratischwili

 

Mit ungeheurer Fabulierlust erzählt Haratischwili die Geschichte einer Familie über fünf Generationen und spiegelt darin die wechselvolle Geschichte Georgiens, aber auch die Geschichte der UdSSR und Europas wider. Es sind die unfassbaren Tragödien des letzten Jahrhunderts, die sich tief in die Menschen eingegraben haben. Dabei sind die Charaktere so plastisch, lebensnah und tief gezeichnet sind, dass sie wie Menschen aus Haut und Haar wirken. Meisterhaft verwebt Haratischwili die einzelnen Fäden ihrer Figuren miteinander, bis am Ende ein einzigartiger Teppich mit den Bildern des 20. Jahrhunderts zu bestaunen ist.

Dieser Roman ist ausschweifend, genial, intensiv und einmalig.

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"AUGUSTUS"

von John Williams

 

Anhand von Briefen, Memoiren, Tagebucheinträgen, Schmähschriften, Gedichten, Erlassen, Protokollen, Petitionen und vielen anderem malt John Williams ein buntes und lebendiges Bild des Römischen Reiches zu Zeiten Kaiser Augustus, in denen die Republik durch Korruption und Vetternwirtschaft an ihr Ende gelangt war und der erste Kaiser aus den Bürgerkriegen hervorging. Aufgebaut wie ein antikes Drama, bevölkert mit lebhaften Menschen voller Begierden, Wünschen, Träumen und Handlunsgmotivationen, nahm dieser Roman schon vor Jahrzehnten vorweg, was heute als Geheimrezept von Netflix Produktionen gilt: Intrigen, Komplotte, innere Zerrissenheit, überraschende Wendungen, Morde und Freundschaften.

Also vergesst Netflix und lest diesen Roman!

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"EIN MYTHOS VON MIR"

von Arno Dahmer

 

Arno Dahmer hat einen wunderbar verdichteten Roman geschrieben, in dem philosophische Gedankengänge in ein einzigartiges Kostüm aus naturhaften Vergleichen und poetischen Bildern gestrickt wird. Dabei steht besonders die Frage nach dem Wesen des Lebens im Mittelpunkt, aber auch jene nach der Sprache. Mit der Figur des Markward Hain hat Dahmer zudem einen wunderbaren Charakter erschaffen, dessen Wesen bereits im Namen angelegt ist. Als fabelhafter Topos dient hier auch der Wald, ist er doch seit jeher ein Ort, an dem Wundersames geschieht, in dem Realität und Fiktion miteinander verschwimmen, unheimlich und dennoch reizvoll.

Ein philosophischer, fein nuancierter und poetischer Roman, den ich jedem ans Herz legen kann.

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"EIN GEIST IN DER KEHLE"

von Doireann Ní Ghríofa

 

Dies ist ein weiblicher Text. Ein weiblicher Text, der es in sich hat. Das Klagelied einer Irin aus dem 18. Jahrhundert dient hier als Ausgangspunkt einer ganz besonderen Spurensuche. Die Protagonistin, selbst dreifache Mutter, erschöpft und gehetzt, begibt sich auf die Suche nach der Dichterin, einer Frau, die durch den männlichen Blick auf die Geschichte ausgelöscht wurde. Sie wurde getilgt wie so viele Frauen zuvor und danach. Doch in ihrem Gedicht findet die Mutter Kraft und Mut und widmet sich der Übersetzung und Nachforschung. Und auch wenn sie nur Bruchstücke über die Dichterin erfährt, fühlt sie sich über die Jahrhunderte mit ihr verbunden.

Dieser Text ist die poetische Selbstfindung einer Frau in einer männerdominierten Welt. Ein ganz besonderes Buch.

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"DAS FEUER RETTEN"

von Giullermo Arriaga

 

Ein ungemein rasanter Roman, in dem die bürgerliche Welt Mexikos auf die kriminelle prallt und ein Beben entsteht, das alles in den Abgrund reißt. Erzählt wird die Geschichte aus vier unterschiedlichen Perspektiven, die oft brutal und schonungslos die heutige Spaltung Mexikos offenlegen. Dabei handelt der Roman davon, Grenzen zu sprengen und aus der Mittelmäßigkeit auszubrechen, das Leben, in dem man sich häuslich eingerichtet hat, aufzubrechen und zu fliehen. Er handelt von dem Wunsch nach mehr, dem Wunsch, seiner Leidenschaft zu folgen, sowohl in der Kunst, die Erfüllung und Freiheit verspricht, als auch in der Liebe.

Brutal, aber ehrlich. Vor allem ist es eine der ungewöhnlichsten und spannendsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe.

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"DIE UNGLEICHZEITIGEN"

von Philipp Brotz

 

Philipp Brotz hat einen bewegenden Roman über Heimatlosigkeit geschrieben, aber auch über Liebe und Freundschaft. In klarer, unaufgeregter und einfühlsamer Sprache breitet er die Geschichte eines Einzelgängers aus, der entwurzelt in seine Heimat im Schwarzwald zurückkehrt, in der Hoffnung, die Zeit zurückzudrehen. Doch dort muss er sich der Realität stellen und lernt in Adana eine geflüchtete Jesidin kennen. Die anfängliche Ablehnung schlägt in Offenheit und Empathie um, und erst als Hagen auch andere Geflüchtete kennenlernt, entdeckt er die Menschen hinter der Projektionsfläche, wo die vermeintlich Anderen zu dem werden, was sie wirklich sind: Menschen mit Namen, mit Gefühlen und Lebensgeschichten.

Ein bewegender und angesichts aktueller Flüchtlingsdebatten wichtiger Roman.

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"MORGEN, MORGEN UND WIEDER MORGEN"

von Gabrielle Zevin

 

Bewegend erzählt Zevin, was uns aneinanderhält, was uns reizt und verbindet, aber auch entzweit, erzählt von Freundschaft, die so zerbrechlich sein kann wie Porzellan, aber auch stark wie Panzerglas. Doch auch die Kunst steht im Vordergrund, der kreative Prozess, dem alle Schaffenden unterworfen sind. Dabei steht die Frage im Raum, was es eigentlich heißt, Großes zu erschaffen. Möchte man etwas Einzigartiges kreieren, das aber nur wenige berührt, oder etwas, was viele Menschen bewegt? Geht es um Klasse oder Masse? Was ist, was kann und was soll Kunst?

Ein wirklich lesenswerter Roman, auch wenn ich den Hype nicht ganz nachvollziehen konnte.

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"DAS VOLK DER BÄUME"

von Hanya Yanagihara

 

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der in den Augen der Gesellschaft großartige Leistungen vollbracht hat, ein Forscher und Wissenschaftler, der dem Kern des ewigen Lebens auf die Spur gekommen ist und dafür ausgezeichnet wurde. Doch vor seinen Schattenseiten verschloss man zu lange die Augen. Kann man die Leistung eines Menschen noch würdigen, wenn er schreckliche Taten vollbracht hat? Mit großer Erzählkunst stellt Yanagihara hier einen Mann in den Mittelpunkt, bei dem man unweigerlich an R. Kelly, Till Lindemann, Harry Weinstein und andere denken muss. Zugleich geht es aber auch um die Wissenschaft und ihre Grenzen. Wie weit darf Wissenschaft gehen? Und was geschieht, wenn Neugier in Gier umschlägt?

Ein verstörender Roman, der besonders die Frage nach moralischem Relativismus aufwirft.

 

 

 

 

...liest gerade „Insel der verlorenen Erinnerung“ von Yoko Ogawa

Immer mehr Sachen verschwinden auf der namenlosen Insel. Zunächst sind es nur Hüte, dann Vögel, bald auch Rosen, Fotos und Kalender. Das Schlimmste jedoch: Mit den Gegenständen verschwindet auch die Erinnerung an sie. Sie gehen verloren und je mehr verschwindet, desto blasser und enger wird das Leben der Menschen, bis selbst ihre Identität zerfällt. Doch es gibt Menschen, die sich an alles erinnern, besondere Menschen, die nichts vergessen und deswegen in Angst leben müssen. Denn die Erinnerungspolizei macht Jagd auf sie.

 

Bereits 1994 im Original auf Japanisch erschienen, wurde der Roman erst 2020 ins Englische und Deutsche übersetzt und landete schließlich auf der Shortlist des International Booker Prize. Vielfach gelobt als Parabel über Diktaturen und als Meisterwerk der Literatur, ließ es mich erschreckend kalt.

 

Das liegt vor allem an der Sprache. Obwohl die Protagonistin und Ich-Erzählerin bereits erwachsen ist, bleibt die Sprache seltsam infantil. Zudem liegt wirklich über allem ein dicker Nebel. Weder Orte noch Namen, weder das politische System noch etwaige Hintergründe werden benannt oder gar erläutert. Diese Unschärfe bietet zwar reichlich Raum für Interpretationen, macht die Geschichte aber überaus schwammig.

 

Der größte Schwachpunkt liegt aber in der allzu simplen Geschichte, in der eine klassische Diktatur beschrieben wird, die Menschen bis aufs Äußerste gängelt. Ogawa selbst nennt das „Tagebuch der Anne Frank“ als eine ihrer wichtigsten Lektüren und so schreit es tatsächlich aus dem ganzen Text nach Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Menschen, die hier merkwürdigerweise durch besondere Gene als Art Übermensch gelten, werden in Kammern vor den Fängen des Regimes versteckt, Bücher werden verbrannt und spätestens, als auch Heines berühmtes Zitat über Bücherverbrennungen fällt, weiß auch der letzte, worauf der Roman anspielt. Das Ende ist schließlich nach dem ersten Drittel absehbar und hält keinerlei Überraschung bereit.

 

Der Text könnte sich als Jugendbuch eignen, um an das Thema Diktatur heranzuführen, mir aber bot der Roman keinerlei Mehrwert und hat mich schwer enttäuscht.

 

 

 

Yoko Ogawa: Insel der verlorenen Erinnerung

Roman

Taschenbuch, 352 Seiten

atb Verlag, 2022

 

...liest gerade „Gesang der Fledermäuse“ von Olga Tokarczuk

Ein abgelegenes Bergdorf an der polnisch tschechischen Grenze.

Ein unbarmherziger Winter.

Eine Außenseiterin, die mit Tieren spricht.

Und plötzlich - ein Mord.

 

Im schneereichen und harten Winter bewohnen sie nur zu dritt das Dorf. Doch weil die alte Englischlehrerin als verschroben, ja schrullig gilt, verbringt sie die Tage meist allein, besonders seitdem ihre Liebsten spurlos verschwunden sind. Tiere gelten ihr als Bezugspersonen, zu denen sie eine eigentümliche Nähe aufbaut. Ihre größte Leidenschaft liegt aber darin, die Sterne zu deuten und sich damit das Leben zu erklären.

 

Als einer ihrer Nachbarn plötzlich stirbt, erstickt an dem Knochen eines Rehs, das er zuvor gejagt hat, beginnt eine mysteriöse Mordserie. Männer fallen ihr zum Opfer, Männer, die sich allesamt gegen Tiere versündigt haben. Die Alte macht sich auf die Suche nach dem Mörder und wird bald von einem Verdacht heimgesucht, der sie noch mehr ins Abseits stellt: Es sind die Tiere, die sich rächen.

 

Was zunächst wie ein Krimi klingt, ist es gewissermaßen auch – es ist die Persiflage eines Krimis. Mit einer Prise Humor erzählt Tokarczuk die Geschichte einer Außenseiterin, die in ihrer Einsamkeit große Empathie mit Tieren entwickelte und nun einem Rachefeldzug auf die Schliche kommt, der sich gegen Jäger wendet. Gespickt mit einem gesellschafts- und religionskritischen, feministischen und naturmystischen Unterton breitet sich vor dem Leser die Geschichte einer extremistischen Vegetarierin aus.

 

Olga Tokarczuk gewann 2019 den Literaturnobelpreis – rückwirkend für 2018 – und wie schon ihr Roman UNRAST konnte mich auch dieser leider nicht vollends begeistern. In der klaren und bildreichen Sprache verliert man sich zwar gerne, aber die Erzählung mäanderte so viel herum, schlug mal die eine Richtung ein, um dann wieder eine andere zu nehmen, dass mich die Geschichte eher langweilte als zu unterhalten. Das Ende löste in mir jedoch die größten Zweifel aus, da dadurch letztlich der Grund der Narration in sich zusammenbrach. Seitdem klingt die Frage in mir nach, wem und warum eigentlich dieser Text erzählt wird. Eine Antwort habe ich bis jetzt nicht gefunden.

 

 

 

Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse

Roman

Hardcover, 320 Seiten

Kampa Verlag, Zürich 2019

 

...liest gerade „Einsteins Hirn“ von Franzobel

Thomas Harvey fristet ein Schattendasein.

Seinem Beruf kommt er freudlos nach.

Seine Ehe plätschert dahin.

Und seine Träume liegen längst begraben.

Doch dann erhält er die Chance seines Lebens – und sein Leben ändert sich fulminant.

 

Als der bedeutendste Physiker des letzten Jahrhunderts stirbt, hält die Welt den Atem an. Es ist der 18.4.1955 und eigentlich wollte Harvey wegen seines Hochzeitstags früh nach Hause. Nun soll er aber den Körper von Albert Einstein obduzieren, diesem Genie, das zu Lebzeiten bereits zur Legende geworden ist.

 

Bei der Obduktion entnimmt Harvey Einsteins Gehirn. Es ist ein Geistesblitz, der ihn durchfährt, denn er möchte dem Sitz der Genialität nachspüren und deren Geheimnis lüften. Der zuvor blasse Pathologe wird plötzlich zum gefragten Mann auf der ganzen Welt. Er gibt Interviews, wird von Experten eingeladen und gewinnt das Herz einer attraktiven Krankenschwester. Es ist eine Erfolgswelle, die ihn zu tragen scheint, doch diese Welle bricht mit aller Wucht über ihn ein, als das Gehirn plötzlich zu sprechen beginnt.

 

Leider muss ich zugeben: Franzobel und ich finden nicht mehr zueinander. Schon „Das Floß der Medusa“ enervierte mich mehr als zu unterhalten. Eines kann man Franzobel allerdings bei weitem nicht unterstellen: Phantasielosigkeit. Ausschweifend und bunt erzählt er die auf einer wahren Begebenheit basierende Geschichte von Thomas Harvey, aber mit der Zeit schlägt diese Fabulierlust in ein unglaubliches Geplapper um, dessen Lärm und Unsinn ich kaum auszuhalten vermochte.

 

Natürlich ist der Roman gespickt mit Witz und Komik, aber die Geschichte plätschert ohne wirkliche Höhepunkte dahin. Manche Dialoge sind derweil an Trivialität nicht zu überbieten und das Roadmovie durch die amerikanische Geschichte, bei dem viele historische Begebenheiten miteinander im Reißwolf landen, erinnert an eine schlechte Version von Forrest Gump.

 

Viele historische Fakten, Trends und Moden dienen auch meist nur als Einstieg in ein neues Kapitel, ohne Bezug zum Geschehen. Legte man den Grundsatz „Show, don’t tell“ als Gradmesser an den Roman, wäre er wohl krachend durchgefallen.

 

 

 

Franzobel: Einsteins Hirn

Roman

Hardcover, 544 Seiten

Zsolnay Verlag, Wien 2023

 

...liest gerade „Augustus" von John Williams

Denkt ihr auch immer so oft an das Römische Reich?

Nein?

Na gut, ich auch nicht, aber manchmal schon, besonders wenn ich ungemein spannende Bücher dazu lese, zB „Augustus“ von John Williams.

 

Anhand von Briefen, Memoiren, Tagebucheinträgen, Schmähschriften, Gedichten, Erlassen, Protokollen, Petitionen und vielen anderem malt John Williams ein buntes und lebendiges Bild des Römischen Reiches zu Zeiten Kaiser Augustus, in denen die Republik durch Korruption und Vetternwirtschaft an ihr Ende gelangt war und der erste Kaiser aus den Bürgerkriegen hervorging.

 

Zugleich kreisen die Aufzeichnungen um die Person des jungen Augustus, der unverhofft die Nachfolge Cäsars übernimmt, sich gegen innere und äußere Feinde zur Wehr setzt und das Reich schließlich mit Hilfe seiner Jugendfreunde unter seiner Alleinherrschaft eint. Dabei stellt sich bei all der Menschlichkeit, die Augustus im Roman auszeichnet, diesem hadernden und einsamen Menschen, stets die Frage, ob er eigentlich Versöhner und Wohltäter des römischen Volkes war, der nur zugunsten seiner Heimat handelte, oder ob er die Macht, die ihm zufiel, klug ausnutzte und ausbaute, um zum ersten Diktator zu werden, zum ersten Cäsar.

 

Aufgebaut wie ein antikes Drama, bevölkert mit lebhaften und plastischen Menschen voller Begierden, Wünschen, Träumen und Handlunsgmotivationen, nahm dieser Roman schon vor Jahren vorweg, was heute als Geheimrezept von Netflix Produktionen gilt. Denn all das, was Netflixserien so erfolgreich macht, findet man schon hier: Intrigen, Komplotte, innere Zerrissenheit, überraschende Wendungen, Morde und Freundschaften, die zerbrechen.

 

Also vergesst Netflix und lest diesen Roman!

 

„Augustus“ wurde übrigens 1973 mit dem National Book Award ausgezeichnet und das völlig zurecht, wie ich finde!

 

 

 

John Williams: Augustus

Roman

Taschenbuch, 480 Seiten

dtv Verlag, München 2017

 

...liest gerade „Die Ungleichzeitigen“ von Philipp Brotz

„Man hat nur vor den Dingen Angst, die man nicht kennt.“

 

Als Hagen nach dreizehn Jahren zurück in sein Heimatdorf zieht, ist alles anders. Die Leute erkennen ihn nicht mehr, das Schloss am Haus seiner kürzlich verstorbenen Eltern wurde ausgetauscht, die alten vertrauten Möbel seiner Kindheit mussten modernen sterilen weichen und die Katze ist halb tot. Aber das Schlimmste spielt sich auf den Straßen ab. Dort tummeln sich verdächtig aussehende Menschen – Flüchtlinge. Und für deren Unterkunft soll auch noch der Lärchenwald gefällt werden, der verklärte Ort seiner Kindheit.

 

Gegen diese Entscheidung will er vorgehen, will wenigstens ein Stück Heimat erhalten, und begibt sich in einen aussichtlosen Kampf. Als er bei dem Vorhaben sein ganzes Geld verliert, steht er plötzlich vor dem Nichts. Doch dann lernt er Adana kennen, eine junge Frau, die ihm hilft. Eine junge Frau, die ihn fasziniert - eine Geflüchtete.

 

Philipp Brotz hat einen bewegenden Roman über Heimatlosigkeit geschrieben, aber auch über Liebe und Freundschaft. In klarer und unaufgeregter Sprache breitet er die Geschichte eines Einzelgängers aus, der entwurzelt in seine Heimat zurückkehrt, in der Hoffnung, die Zeit zurückzudrehen. Doch auch daran scheitert er und muss sich der Realität stellen, in der er schließlich Adana kennenlernt, eine Jesidin. In Schmerz und Heimatlosigkeit findet das ungleiche Paar zueinander. Die anfängliche Ablehnung schlägt in Offenheit und Empathie um, sodass Hagen auch andere Geflüchtete kennenlernt und die Menschen hinter der Projektionsfläche entdeckt, wo die vermeintlich Anderen zu dem werden, was sie wirklich sind: Menschen mit Namen, mit Gefühlen und Lebensgeschichten.

 

Der Roman verzichtet dabei auf Klischees und arbeitet in sanften und einfühlsamen Tönen Ambivalenzen heraus. Besonders geht die Geschichte Adanas unter die Haut, da sie den Scheinwerfer auf die Jesiden lenkt, deren Schicksal im alltäglichen Strom der schnelllebigen Nachrichten längst wieder der Vergessenheit anheimgefallen ist.

 

„Die Ungleichzeitigen“ ist ein bewegender und angesichts aktueller Flüchtlingsdebatten wichtiger Roman.

 

 

Philipp Brotz: Die Ungleichzeitigen

Roman

Hardcover, 320 Seiten

8grad Verlag, Freiburg 2023

 

...liest gerade „Babel“ von Rebecca F. Kuang

Worte können animieren.

Sie können aufstacheln, bewegen und ermutigen.

Sie können die Welt verändern – und töten.

 

Als Robin den Turm in Oxford das erste Mal erblickt, ist er begeistert. Überwältigend ist der Bau, in dessen Innern sich der Mittelpunkt der Welt befindet. Als chinesisches Waisenkind hat er bisher unter strenger Obhut daraufhin gearbeitet, hier am Institut Sprachen zu studieren. Seine drei Kommilitonen und er werden rasch zu seiner eingeschworenen Gruppe, doch schon bald schauen sie hinter die Fassade Babels und entdecken Schreckliches. Je weiter sie sich vorwagen, desto ungeheuerlicher wird die Erkenntnis. Denn Babel hat ein dunkles Geheimnis - und plötzlich geht es um ihr Leben.

 

Mit Anleihen aus dem Reich der Fantasy erzählt der Roman von Kolonialismus und Ausbeutung, aber auch von Widerstand und Mut. Sprachen sind dabei von besonderer Bedeutung, denn neben Übersetzungen gibt es noch das Silberwerken, das Gravieren von etymologisch verwandten Wörtern aus zwei Sprachen in Silbereisen, denen dadurch eine magische Kraft eingeschrieben wird. Silber und Sprachen stehen deswegen im Fokus des britischen Empires, das sich alles Untertan machen will.

 

Die Begeisterungsstürme kann ich dennoch nicht teilen. Schon das Vorwort, in dem die Autorin auf den Fiktionsgehalt des Werkes hinweist, ließ mich irritiert zurück. Müssen sich Autoren in Romanen dafür rechtfertigen, dass Schauplätze und Gegebenheiten womöglich der Phantasie entspringen?

 

Natürlich ist es sehr originell, Sprache und Kolonialismus zu verbinden, als wären Worte eine Ressource wie Gold oder Öl, die abgeschöpft werden könnten. Dennoch war mir vieles zu plakativ und eindimensional. Und natürlich ist es interessant zu sehen, wie verwandte Wörter in verschiedenen Sprachen auf denselben Ursprung zurückzuführen sind. Das allein macht aber noch keinen guten Stil. Im Gegenteil, hier wird alles erklärt und auserzählt, jede Gefühlsregung, jeder Blick, jeder Geste, sodass kein Interpretationsraum bleibt, den man selbst füllen könnte.

 

So bleibt eine durchaus unterhaltsame Urlaubslektüre, die in eine phantastische Welt führt, literarisch für mich aber kein Glanzpunkt war.

 

 

R.F. Kuang: Babel

Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck und Alexandra Jordan

Hardcover, 738 Seiten

Eichborn Verlag, Köln 2023

 

...liest gerade „Das Feuer retten“ von Guillermo Arriaga

Was wärst du bereit zu opfern, um das Leben zu führen, das du willst?

Was wärst du bereit hinter dir zu lassen?

Nichts – oder alles?

 

Marina hat alles. Sie verkehrt in den besten Kreisen Mexikos, nennt Künstler und Filmregisseure ihre Freunde, ist selbst Tänzerin und führt eine eigene Tanzschule. Mit ihrem Mann, einem vermögenden Banker, hat sie zwei Kinder, denen sie ein sorgloses Leben in der abgeschotteten Oberschicht Mexikos bietet.

 

Doch etwas nagt an Marina, etwas, das ihre Unzufriedenheit aufpeitscht, etwas, das sie an ihrem Leben zweifeln lässt. Als sich ihr die Möglichkeit bietet, eine Choreographie im städtischen Gefängnis aufzuführen, nimmt sie unter freudiger Unruhe an. Sie weiß nicht, dass diese Begebenheit ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttern und eine Leidenschaft in ihr aufbrennen lassen wird, die alles in Schutt und Asche legen soll. Denn hier lernt sie José kennen - und für ihn wird sie alles opfern.

 

Guillermo Arriaga hat einen ungemein rasanten Roman geschrieben, in dem die bürgerliche Welt Mexikos auf die kriminelle prallt und ein Beben entsteht, das alles in den Abgrund reißt. Erzählt wird die Geschichte aus vier unterschiedlichen Perspektiven, die oft brutal und schonungslos die heutige Spaltung Mexikos offenlegen. Auf der einen Seite stehen die Unterdrückung und das Leid der indigenen Bevölkerung, der Drogenkrieg der Narcos, die korrupten Machenschaften von Polizei und Politik, Morde, Entführungen und die durch den Machismus geprägte Gewalt. Auf der anderen hingegen die wohlhabende Oberschicht, die sich hinter Mauern und Securitys sowie in gepanzerten SUVs vor der anderen Welt versteckt.

 

Der Roman handelt davon, Grenzen zu sprengen und aus der Mittelmäßigkeit auszubrechen, das Leben, in dem man sich häuslich eingerichtet hat, aufzubrechen und zu fliehen. Er handelt von dem Wunsch nach mehr, dem Wunsch, seiner Leidenschaft zu folgen, sowohl in der Kunst, die Erfüllung und Freiheit verspricht, als auch in der Liebe.

 

„Das Feuer retten“ ist brutal, aber ehrlich. Vor allem ist es eine der ungewöhnlichsten und spannendsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe.

 

Guillermo Arriaga: Das Feuer retten

Roman, aus dem Spanischen von Matthias Strobel

Hardcover, 800 Seiten

Klett-Cotta, Stuttgart 2022

 

...liest gerade „Blauer Hibiskus“ von Chimamanda Ngozi Adichie

Eine Mauer trennt das Zuhause Kambilis vom Rest der Welt.

Eine Mauer mit Stacheldraht und Sicherheitspersonal.

Sie soll die Gefahren Nigerias abhalten, auf dessen Straßen der Umsturz tobt.

Aber was, wenn die größte Gefahr im eigenen Heim lauert?

 

Kambili lacht nie. Sie ist darauf bedacht, nicht aufzufallen und still zu sein. Erzogen, um zu gehorchen, macht sie das, was der ebenso vergötterte wie angsteinflößende Vater sagt. Als streng gläubiger Katholik und angesehener sowie wohlhabender Geschäftsmann gebärt dieser sich als Oberhaupt der Familie, als ein wahrhafter Patriarch – als Tyrann.

 

Doch dann lernt Kambili den Rest ihrer Familie kennen, ihren Opa, der alte Traditionen feiert und Igbu spricht, ihre Cousine und Tante, die zwar in bescheidenen Verhältnissen leben, aber so frei, frech und selbstbewusst sind, dass sie nur staunen kann. Als dann auch noch politische Unruhen einsetzen und sie sich zum ersten Mal verliebt, ändert sich ihr Leben radikal.

 

In Adichies Debütroman treffen die kolonialisierte und traditionelle Welt Nigerias unversöhnlich aufeinander. Während in der einen Englisch gesprochen, Jesus und die weiße Welt verehrt wird, spricht man in der anderen Igbu und hängt alten Götterwesen und Traditionen an. In der Figur des Vaters bricht zudem ein religiöser Fanatismus durch, der Liebe mit Härte und Gewalt gleichsetzt und Folter als Erziehungsmethoden erlaubt.

 

Obwohl schon 2003 veröffentlicht, spricht der Roman mit dem Patriarchat ein leider immer noch aktuelles Thema an, dessen Ketten man sich nur mit Gewalt entledigen kann. Vor allem wirft er die Frage danach auf, wie weit man zu gehen bereit ist, um Freiheit vom Joch des Unterdrückers zu erreichen?

 

Während die pubertierende Kambili desillusioniert ihren eigenen Weg geht, flackert zwischendurch stets die politische Lage Nigerias in den frühen 90er Jahren auf, dessen System von Terror und Umsturz bedroht wird.

 

All das wird in der bunten Sprache einer Fünfzehnjährigen erzählt, die sehr bildreich, zart und sanft daherkommt.

 

„Blauer Hibiskus“ gilt als ein Meilenstein der jungen feministischen Weltliteratur und konnte mich durchaus begeistern.

 

 

 

Chimamanda Ngozi Adichie: Blauer Hibiskus

Roman, aus dem Englischen von Judith Schwab

Taschenbuch, 336 Seiten

Fischer Taschenbuch, Berlin 2015

 

...liest gerade „Ein Mythos von mir“ von Arno Dahmer

Hatte Wittgenstein Recht?

Kann ich eine Privatsprache kreieren, die nur ich verstehe?

Kann ich leben, indem ich mich als einzig wahre Referenz betrachte?

Oder brauche ich doch andere Menschen, um aufzuleben?

 

Markward Hain, Doktor der Existenzphilosophie und Leiter von Deutschkursen für Migranten, hat so seine Eigenheiten. Schon seit langem hat er sich dem Geist verschrieben, ein Denker und Gelehrter, der abends kein Tagebuch schreibt, sondern ein Journal. Nach der Arbeit bildet er sich umfassend weiter und brütet über seiner Habilitation. Zurückgezogen lebt er am Rande eines Dorfes, ein Einsiedler, dessen Leben ins Wanken gerät, als seine Tante stirbt.

 

In einem Wirtshaus im nahegelegenen Wald lernt er eine junge Kellnerin kennen. Immer wieder pilgert er zu dem Ort, denn in ihr scheint er eine Seelenverwandte gefunden zu haben, die ihn aus seiner selbst gewählten Isolation befreit. Als er sie jedoch außerhalb des Waldes zu kontaktieren versucht, erscheint sie unerreichbar. Ist sie nur eine Einbildung? Als Hain ihr auf den Grund zu gehen versucht, reißen seine Grenzen ein und seine Welt gerät aus den Fugen.

 

Arno Dahmer hat mit „Ein Mythos von mir“ einen wunderbar verdichteten Roman geschrieben. Philosophische Gedankengänge werden hier in ein einzigartiges Kostüm von naturhaften Vergleichen und poetischen Bildern gestrickt, wie ich sie lange nicht gelesen habe. Dabei steht besonders die Frage nach dem Wesen des Lebens im Mittelpunkt, aber auch jene nach der Sprache.

 

Mit der Figur des Markward Hain hat Dahmer zudem einen – im wahrsten Sinne des Wortes – wunderbaren Charakter erschaffen, dessen Wesen bereits im Namen verankert ist. So leitet sich „Markward“ aus dem Althochdeutschen ab und bedeutet „Schützer der Grenze“. „Hain“ steht auch heute noch für einen lichten Wald.

 

Überhaupt dient der Wald hier als wunderbarer Topos, ist er doch seit jeher ein Ort, an dem Wundersames geschieht, in dem Realität und Fiktion miteinander verschwimmen, unheimlich und dennoch reizvoll. In ihm wird das Alltägliche aufgebrochen und es geschieht das Unerwartete, aus dem der Held als ein anderer hervorgeht.

 

„Ein Mythos von mir“ ist ein philosophischer, fein nuancierter und poetischer Roman, dem ich wirklich jeden ans Herz legen kann.

 

 

Arno Dahmer: Ein Mythos von mir

Roman

Hardcover, 244 Seiten

kul-ja publishing, Erfurt 2023

 

...liest gerade „Morgen, morgen und wieder morgen“ von Gabrielle Zevin

Wäre das Leben ein Spiel, hätte man unendlich viele Chancen.

Wäre das Leben ein Spiel, dürfte man sich ausprobieren und immer wieder von neuem beginnen.

Ja, wäre das Leben ein Spiel, müsste man keine Angst haben und könnte frei leben.

Doch das Leben ist ernst – und manchmal bitterernst.

 

Jahre sind vergangen, seitdem sie sich als Kinder im Krankenhaus kennengelernt haben. Sam erholte sich damals von einem Autounfall, der seiner Mutter das Leben gekostet hatte. Sadie, auf Besuch bei ihrer Schwester, begegnete dem stillen und invaliden Jungen im Spielzimmer. Schnell freundeten sie sich an und verbrachten viele Nachmittage damit, Videospiele zu spielen.

 

Nun laufen sie sich als Studenten wieder über den Weg. Ihre Leidenschaft zu Videospielen ist ungebrochen und so beginnen sie ein eigenes Spiel zu entwerfen. In ihrer Arbeit verschmelzen sie zu einer Symbiose und ergänzen sich so perfekt, dass das Spiel ein riesiger Erfolg wird und sie ihre eigene Firma gründen können.

 

Doch wird ihre Freundschaft den Erfolg überstehen?

 

„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist ein Roman über das Wesen der Freundschaft, das so zerbrechlich sein kann wie Porzellan, aber auch stark wie Panzerglas. Bewegend erzählt Zevin, was uns aneinanderhält, was uns reizt und verbindet, aber auch entzweit.

 

Für mich steht aber vor allem die Kunst im Vordergrund, denn mitreißend erzählt Zevin auch vom kreativen Prozess, dem alle Schaffenden unterworfen sind. Dieser beginnt mit der Suche nach Ideen, geht über die Vision, die sich im Kopf zu einem Bild formt und deren Umsetzung meistens nicht so gelingen will, bis hin zum endlosen Bearbeiten, Veröffentlichen und Bewerben. Dabei steht die Frage im Raum, was es eigentlich heißt, Großes zu erschaffen. Möchte man etwas Einzigartiges kreieren, das aber nur wenige berührt, oder etwas, was viele Menschen bewegt? Geht es um Klasse oder Masse? Was ist, was kann und was soll Kunst?

 

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen, auch wenn ich den Hype nicht ganz verstehen kann.

Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen

Roman, aus dem Englischen von Sonia Bonné

Hardcover, 560 Seiten

Eichborn Verlag, Köln 2023

 

...liest gerade „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart

Am Ende lässt er sie gehen.

Sie, die er bewundert und geliebt hat.

Die er vergöttert und umsorgt hat.

Sie – seine Mutter.

 

Es ist eine raue Welt, in der Shuggie aufwächst. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit sowie die bis aufs Blut ausgetragene Fehde zwischen Katholiken und Protestanten machen Glasgow in den 80er Jahren zu einem dunklen Ort.

 

Shuggie sticht aus diesem Sumpf durch seine Feinfühligkeit heraus. Zudem vergöttert er seine Mutter, der er stets zu helfen versucht. Sie ist seine Königin, die durch ihre Schönheit besticht und selbstbewusst ihre Krone richtet, wenn sie wieder fällt.

 

Doch ihr ist nicht zu helfen. Der Alkohol zersetzt sie und im Rausch verliert sie regelmäßig die Kontrolle - bis ihr letztlich das Leben entgleitet.

 

Dies ist die bewegende Geschichte des Autors, die dieser fiktionalisiert hat. Vom rauen Klima des Umfelds über die Alkoholsucht der geliebten Mutter, ihre Selbstmordversuche vor den Kindern und die Gewalt der Männer bis hin zu den Diskriminierungen aufgrund seiner Homosexualität - es ist ein halb autobiografischer Roman, der zutiefst erschüttert.

 

Aber ist er deswegen auch gute Literatur?

 

„Shuggie Bain“ wurde überall gefeiert und erhielt 2020 den Booker Prize. Mir drängt sich aber der Verdacht auf, dass sich hier jemand seine Geschichte von der Seele schreiben wollte, seinen Schmerz und seine Erfahrungen. So zieht sich der Roman sehr lange hin, obwohl man bereits zu Beginn versteht, dass die Mutter Alkoholikerin ist und ihre Kinder vernachlässigt. Passend zur Tragödienkonzeption wird eine Episode eingesponnen, in der alles auf ein gutes Ende zusteuert, nur um dann desto radikaler das Happy End zu zerschlagen. Das ist zu durchschaubar.

 

Mich hat der Roman deswegen nicht so begeistern können, zu eng ist er an der eigenen Geschichte gestrickt, zu ergriffen ist der Autor selbst vom Stoff. Hinzu kommt eine zu polare Charakterzeichnung, denn beinahe alle Figuren sind moralisch schlecht, plump oder egoistisch. Selbst der Taxifahrer ist noch pädophil und misshandelt den kleinen Shuggie, der durch seine Einfühlsamkeit und Sensibilität als Antipode hervorsprießt. Er ist der einzige, der liebevoll und zart ist.

 

Der Roman gibt einen Einblick in die Umwälzungen des Neoliberalismus zur Zeit Margret Thatchers. Und ja – er ist drastisch in seinen Schilderungen. Aber literarisch konnte er mich nicht wirklich überzeugen.

 

Douglas Stuart: Shuggie Bain

Roman, aus dem Englischen von Sophie Seitz

Hardcover, 496 Seiten

Carl Hanser Verlag, München 2021

 

...liest gerade „Bericht zur Lage des Glücks“ von Bodo Kirchhoff

Es ist dieselbe Reise wie vor 15 Jahren.

Doch an seiner Seite ist nicht mehr die Frau, die er einst liebte.

An seiner Seite ist eine junge Unbekannte aus Afrika - eine Geflüchtete.

 

Sie wird gesucht. Ganz Italien sucht nach ihr, auch wenn niemand weiß, wie sie aussieht, allein: sie soll betörend schön sein. Seitdem ein Foto von ihr gemacht wurde, das nach der Entwicklung nur afrikanisches Land zeigte, ist sie die mysteriöse Frau, die jeder sehen will, die jeder finden will. Eine Attraktion, nach der in Presse und Fernsehen gefahndet wird.

 

Er findet sie schließlich, einsam und verlassen auf einem Parkplatz, und nimmt sie mit auf seine Tour. Zusammen fahren sie durch Italien, halten sich stets im Verborgenen. Während sie aber nur zu ihrem Cousin nach Rom möchte, um endlich in Europa anzukommen, möchte er seine alte Liebe vergessen – und verliebt sich erneut. Doch wer ist diese Schönheit wirklich? Was verbirgt sie? Und was will er von dieser jungen Frau?

 

Glück – Liebe – Heimat – wo sind sie zu finden? Kann man sie überhaupt finden?

Schwere Themen, die der Roman verhandelt…und dabei krachend scheitert.

 

Ich hasse den Begriff des alten weißen Mannes, setzt er der möglichst genauen Ausdifferenzierung unserer Zeit doch eine plumpe Pauschalisierung entgegen. Aber ich muss gestehen: Dies ist der Roman eines alten weißen Mannes.

 

Zunächst wirkte er wahrlich erfrischend auf mich, schwimmt er doch mit seiner altbackenen Erzählweise gegen den Strom der Zeit. Doch je weiter ich las, desto eintöniger wurde die Erzählung rund um verflossene Lieben und neu erwecktes Begehren.

 

Gleich drei Liebschaften werden auf altbekannte Weise verhandelt, die selbst mich - immerhin mittelalter weißer Mann - anödet. Hier strahlt der alte weiße Mann nochmal in seiner ganzen Pracht, wenn er sein Leben retrospektiv betrachtet und sich auf seine alten Tage in eine junge Frau verliebt.

 

Mit einer diffusen Erwartung las ich immer weiter, erhoffte noch irgendeinen Wendepunkt, irgendetwas Unerwartetes, aber ich wurde hoffnungslos enttäuscht.

So bleibt nur ein Roman, der altbekannte männliche Traditionen wieder aufwärmt.

Bodo Kirchhoff: Bericht zur Lage des Glücks

Roman

Hardcover, 680 Seiten

Frankfurter Verlagsgesellschaft, Frankfurt 2021

 

...liest gerade "Ritchie Girl" von Andreas Pflüger

Vor Jahren musste sie ihre Heimat verlassen.

Nun kommt sie wieder und sucht nach dem, den sie liebte.

Und nach denen, die bereuen.

Doch alles, was sie findet, ist Übermut und Überlebenskampf.

 

Zum Ende des 2. Weltkriegs landet Paula Bloom in Europa. Sie wird als Dolmetscherin für eine sich verschanzende SD-Einheit in Italien benötigt. Nach dem Krieg hört sie Gespräche von SS-Gefangenen ab und sucht nach Menschen, die bereuen, doch sie findet nur falschen Stolz und Elend.

 

Dann erhält sie einen Auftrag. Agent Sieben, der die Deutschen mit wichtigen Informationen zur UdSSR versorgt hatte, scheint gefangen worden zu sein. Sie soll herausfinden, ob dieser Mann tatsächlich der berühmte Spion ist und trifft ihn zu Gesprächen. Sie erfährt vieles über Deutschland, über die Vergangenheit, über die USA und ihre Verwicklungen mit dem Dritten Reich. Schließlich erfährt sie auch vieles über den neuen Kampf gegen den Kommunismus. Doch erfährt sie auch mehr über den Mann, den sie liebte?

 

„Ritchie Girl“ ist ein Thriller, dem man die gedankliche Verfilmung anmerkt, teilen viele Schnitte und Dialoge ihn doch wie einen Film und tragen die Handlung voran.

 

Der Roman kreist um die Frage, inwieweit Schuld und Scham kollektiv oder singulär zu betrachten sind. Er bietet gute Unterhaltung, die durchaus etwas Spannung verspricht, meines Erachtens aber nicht ganz eingehalten wird. Beinahe alle Größen der 30er und 40er geben sich hier die Klinke in die Hand. Dialoge sind oft gestellt und dienen nur dazu, neue Personen anhand eines Steckbriefs einzuführen. Hinzu kommen manche in den Kitsch abrutschende Formulierungen, z.B. wenn die Sonne mit dem Wind schmuste.

 

Wie die Amerikaner mit Nazis paktierten, wie ehemalige SS-Offiziere rekrutiert und für den Geheimdienst im Kampf gegen den Kommunismus angeworben wurden, wie das Gehlen Projekt aufgebaut wurde, dem später der BND entstammte, war nichts Neues für mich. „Das kalte Blut“ von Chris Kraus erzählt dieses Kapitel der deutschen Vergangenheit viel plastischer und spannender.

 

Wer sich mit der Materie nicht auskennt, dem wird allerdings flotte Unterhaltung geboten.

 

 

 

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Roman

Hardcover, 464 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

 

...liest gerade "Das achte Leben (für Brilka)“ von Nino Haratischwili

Diese Geschichte ist für ihre Nichte.

Sie ist für ihre ganze Familie.

Für die Toten und Lebenden.

Für dich und mich – diese Geschichte ist für sie selbst.

 

Niza stammt aus Georgien. Sie führt ein ruheloses und sprunghaftes Leben in Berlin, in dem alles gleichgültig und sinnlos erscheint. Selbst ihre Ehe ist nur ein Schein, heiratete sie doch nur, um der Enge der Heimat zu entfliehen. Ihr einziger Wunsch war es, ihre Familie zu verlassen und ihrer Heimat endgültig den Rücken zu kehren.

 

Dann erhält sie plötzlich einen Anruf. Ihre Nichte ist aus einem Sommercamp ausgebüchst und Nizas Mutter bittet sie darum, das Mädchen zurück nach Hause zu bringen. Widerwillig beugt sich Niza und macht sich auf den Weg, ihre Nicht zu finden. Als sie losfährt, weiß sie noch nicht, dass sie sich auf eine Reise begibt, die ihr Leben vollkommen verändern wird, eine Reise durch die Geschichte ihrer Familie, durch die Geschichte Georgiens und Russlands. Eine Reise durch die Geschichte des ganzen letzten Jahrhunderts – eine Reise zu sich selbst.

 

Was für ein intensiver und emotionaler Roman!

 

Mit ungeheurer Fabulierlust erzählt Haratischwili die Geschichte einer Familie über fünf Generationen und spiegelt darin die wechselvolle Geschichte Georgiens, aber auch die Geschichte der UdSSR und Europas wider. Es sind die unfassbaren Tragödien dieses Jahrhunderts, die sich tief in die Menschen einzeichneten und ihr Leben bestimmten, sodass man manches Mal lachen und noch öfter weinen möchte.

 

Nur selten habe ich so mitgefiebert, habe so mitgelitten wie mit diesen Charakteren, die so plastisch, lebensnah und tief gezeichnet sind, dass sie wie Menschen aus Haut und Haar wirken. Man verliert sich in den bewegenden und mitreißenden Geschichten und verfolgt gebannt ihre tragischen Schicksale. Meisterhaft verwebt Haratischwili die einzelnen Fäden ihrer Figuren miteinander, bis am Ende ein Teppich zu bestaunen ist, der die menschlichen Dramen des letzten Jahrhunderts porträtiert.

 

Dieser Roman ist unglaublich und wirklich allen empfohlen, die in einer Geschichte versinken möchten. Dieser Roman ist ausschweifend, genial und einmalig.

 

Was für ein Erzähltalent!

 

 

 

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)

Roman

Hardcover, 1280 Seiten

Frankfurter Verlagsgesellschaft, Frankfurt 2014

 

Jahresrückblick 2022

Ein bisschen spät, aber zum Glück haben Bücher ja kein Verfallsdatum.

Hier also noch meine Lesehighlights aus dem letzten Jahr. Interessanterweise sind es dieses Mal nur Frauen, die mich begeistern konnten.

 

 

 

"DUNKELBLUM"

von Eva Menasse

 

Es ist ein kleiner Ort, dieses Dunkelblum, idyllisch gelegen im österreichischen Burgenland. Seit Generationen bewohnen alteingesessene Familien den Ort und so bleibt man auch gerne unter sich. Argwöhnisch wird deshalb der fremde, alte Mann begutachtet, der in das Dorf kommt und Fragen nach Gräbern stellt, Fragen auch nach dem schallenden Fest am Ende des 2. Weltkriegs, nach Einwohnern, die seitdem als verschollen gelten. Plötzlich stehen die Geister der Vergangenheit wieder vor der Tür, denn über dem Ort liegt ein dunkles Geheimnis, ein Ungeheuer, das seit Jahrzehnten schläft und niemals geweckt werden sollte.

Ein wirklich intensiver, atmosphärischer und stilistisch brillanter Roman!

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"NACHTS IST ES LEISE IN TEHERAN"

von Shida Bazyar

 

Dies ist die bewegende Geschichte einer iranischen Familie und ihrem Streben nach Freiheit. In bedeutenden Zehn-Jahres-Schritten wird ihre Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Dadurch malt der Roman nicht nur ein Bild von Hoffnungen und Enttäuschungen der Familie, sondern porträtiert zugleich das Gefühlsleben eines ganzen Volkes. Denn in wichtigen Etappen wird die Geschichte des Irans seit der islamischen Revolution von 1979 bis heute erzählt, eines Staates, in dem Inhaftierung, Folter und Hinrichtungen Andersdenkender bis heute andauern, eines Staates, in dem das Volk immer wieder versucht, sich zu erheben und blutig niedergeschlagen wird.

Der Roman ist mitreißend und gerade jetzt hochaktuell:

ژن، ژیان، ئازادی - Jin, Jiyan, Azadî

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"GESAMMELTE WERKE"

von Lydia Sandgren

 

Im Mittelpunkt dieses großartigen Debüts stehen die unergründlichen Wege des Lebens, die oft erst rückblickend verstanden werden können. Daneben wird in leisen Zwischentönen nicht nur der Kampf zwischen Individualität und Gesellschaft skizziert, sondern auch das Ringen mit der ewigen inneren Leere. Nicht zuletzt geht es aber auch um weibliches Aufbegehren in einer männerdominierten Welt, in der es immer noch normal erscheint, wenn ein Vater die Familie verlässt, jedoch skandalös, wenn diesen Schritt eine Mutter wagt.

Gesammelte Werke ist eine Hommage an die Literatur und die Kunst, ein wahrlicher Schmöker, aus dem man nicht mehr auftauchen möchte.

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"DSCHINNS"

von Fatma Aydemir

 

Der Roman wirft die Frage nach Familie und Identität neu auf, denn was hält diese Menschen, die miteinander verwandt sind, eigentlich zusammen? Sind es die Geschichten, die man einander erzählt, wieder und wieder, meist auf Familienfesten? Oder sind es die Bruch- und Leerstellen, die sich wie Gräben durch Familien ziehen, die Geheimnisse, die man voreinander hat, die Wunden, die man sich schlägt?

Es ist ein Familien- und Generationen-, Migranten-, Arbeiter- und Zeitroman und handelt besonders von dem Drang nach Unabhängigkeit, Emanzipation, Selbstfindung und -behauptung.

Dschinns ist eine Wucht und ein zutiefst bewegender Roman!

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"AUFBRECHEN"

von Tsitsi Dangarembga

 

Diese Coming-of-Age Geschichte spiegelt eindrücklich die Erfahrungen eines Mädchens in einer patriarchalischen Welt wider. Rassismus, Apartheid und Armut bestimmen ihr Leben genauso wie alte Familienstrukturen und Stammesdenken. Doch durch den unbändigen Drang nach Bildung öffnet sich ihr eine ganz andere Welt. Immer mehr begreift sie, wie es um die Rolle der Frau bestellt ist in einem System, das Frauen knechtet und herabwürdigt.

Die fremde Welt in Afrika wird aus den Augen eines Kindes erzählt. Auf diese Weise machen die Beschreibungen der Kultur, der Menschen, ihrer Schicksale und Beweggründe, ihrer Probleme und Mentalitäten an diesem fernen Ort diesen Roman zu einem ganz besonderen.

 

 

 

Komm mit mir und lass uns Bücher feiern!

 

Schaut nicht diese WM, sondern kommt mit mir und lasst uns zusammen Bücher feiern!

 

Lasst uns das Lesen feiern, das Versinken in andere Welten und Leben! Lasst uns Kulturen und Sprachen feiern, die Vielfältigkeit der Stimmen und Erfahrungen, die es so nur in Büchern gibt!

 

Denn öffnet nicht jedes Buch das Tor zu einer neuen Welt, in der man neue Sichtweisen und Blickwinkel kennenlernen, neue Lebenswege beschreiten und andere Lebenskonzepte erfahren darf?

 

Nimmt man durchs Lesen nicht an Geschichten teil, die einen bewegen und verändern, die einen prägen und den eigenen engen Horizont erweitern?

 

Durch Bücher lernen wir unterschiedliche Kulturen und Wirklichkeiten kennen, unterschiedliche Geschichten dieses Lebens, um dadurch womöglich die eigene Position in der Welt, die eigene Geschichte besser verstehen zu können.

 

Durchs Lesen tauchen wir in andere Lebenswirklichkeiten ein und schulen damit Verständnis und Empathie – und ist es nicht genau das, was diese Welt so dringend bräuchte?

 

Zu jedem der acht Spieltage präsentiere ich euch deswegen eines der herausragendsten Bücher der letzten Jahre, Bücher, die mich bis heute nicht losgelassen, die mein Leben, meine Sicht verändert haben, die immer noch nachklingen, deren Melodie immer noch in mir weiter wabert und mich durchfährt, bis ich euch zum Finale das Meisterwerk dieses noch jungen Jahrtausends präsentiere.

 

Macht mit und postet eure Lieblingsbücher zu den Spieltagen ebenfalls unter dem Hashtag, der selbst die BILD-Redaktion vor Populismusneid erblassen lässt, egal ob als Beitrag oder als Story. Wählt eure liebsten Bücher aus und lasst uns unter #BuchStattBlut an ihnen teilhaben.

 

PS: Jeder, der mitmacht, landet automatisch im Lostopf für das Gewinnspiel am Ende des Turniers.

 

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

Mein Gegenangebot

Noch eine Woche, dann beginnt die WM der Schande.

 

Ich boykottiere diese blutigen Spiele und widme mich lieber der Literatur.

Auf meinem Blog wird es deswegen keinen Fußball geben, sondern eine andere Art der Unterhaltung, bei der ihr alle herzlich eingeladen seid mitzumachen.

 

(1) Zu jedem Spieltag werde ich euch einen der besten Titel der vergangen Jahre vorstellen, unvergleichliche Romane, die mich begeisterten, die mich inspirierten, die immer noch nachhallen und mich bewegen, bis ich euch zum großen Finale am 18.12. das beste Buch dieses Jahrhunderts präsentiere, das Opus magnum dieses Jahrtausends, ein wahrliches Meisterwerk.

 

Macht mit und postet an jedem Spieltag eines eurer Lieblingsbücher unter dem  Hashtag, der selbst für die BILD zu niveaulos wäre, für diese WM aber mehr als angebracht ist: #BuchStattBlut!

 

(2) Daneben wird es zu den deutschen Spielen eine digitale Leserunde geben. Dass man für Ausbeutung nicht in ferne Länder schauen muss, zeigt Benedikt Feitens Roman "Leiden Centraal", der dieses Jahr im Verlag Volland und Quist erschienen ist.

 

Besorgt euch diesen Roman und lest mit!

 

(3) Zuletzt wird es ein Gewinnspiel von "Bis zum letzten Mann "geben.

 

Macht mit und spendet gleichzeitig für einen guten Zweck!

 

In den nächsten Tagen folgen alle weiteren Infos.

 

 

„Als Menschen appellieren wir an alle Menschen: Erinnert Euch an Eure Humanität, und vergesst den Rest!“

(Bertrand Russell)

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

...liest gerade „Chamissimo“ von Sebastian Guhr

Er ist Franzose und dient im preußischen Regiment.

Er ist ein Taugenichts und schreibt einen Bestseller.

Er erlangt Berühmtheit – und ist heute so gut wie vergessen.

Dies ist das wundersame Leben des Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt.

 

Adelbert von Chamisso, wie er sich später nennt, ist ein Kind, als sein wohlbehütetes Leben in der Champagne endet. Als Spross einer Aristokratenfamilie muss er vor der französischen Revolution fliehen. Es beginnt ein ruheloses Leben, das ihn immer weitertreibt. Er reist nach Deutschland, kommt am Hofe der preußischen Königin unter, dient in der preußischen Armee, lernt in Salons berühmte Persönlichkeiten kennen, zieht als Franzose in den Krieg gegen Napoleon, hat eine Affäre mit Madame de Stäel, schreibt den Bestseller „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ und geht schließlich auf eine Expeditionsreise, die ihn nach Brasilien, Chile, Russland und Hawaii bringt.

 

Nachdem sich Sebastian Guhr in seinem letzten Roman Lincoln und Thoreau gewidmet hat, leuchtet er nun das außerordentliche Leben von Chamisso aus. Dieses bietet eine Unmenge an Stoff, die Guhr geschickt in eine Erzählung verpackt, die selbst an eine romantische Erzählung des frühen 19. Jahrhunderts erinnert. Gekonnt verwischt er die Grenzen von Realität und Phantasie, kehrt die Nachtseiten des Lebens hervor, wenn der schaurige Graue in Adelberts Leben einfällt, ihn verfolgt und ihn seines Schattens berauben möchte - Peter Schlemihls Geschichte greift auf Adelbert selbst über.

 

Es wird aber nicht nur das Leben Chamissos nachgezeichnet, sondern auch die bewegte Zeit rund ums Jahr 1800. Zudem treten allerhand Berühmtheiten auf und werden teilweise karikiert, so zB der gemachte Mann Tieck, der Selbstmörder Kleist, der überhebliche Jean Paul oder der in seiner eigenen Phantasie gefangene Fouqué.

 

„Chamissimo“ ist eine freie Nacherzählung des wunderlichen Lebens Chamissos in sanften Tönen der Romantik, eine kleine, aber feine Erzählung, die das Leben dieser außergewöhnlichen Erscheinung auf sehr unterhaltsame Weise porträtiert und zum Staunen einlädt.

 

 

 

Sebastian Guhr: Chamissimo

Roman

Hardcover, 208 Seiten

S. Marix Verlag, Wiesbaden 2022

 

Nicht mit mir!

 

Diese WM ist eine Schande!

Die FIFA ist eine Schande. Katar ist eine Schande – und leider auch der Fußball.

Als Fan, der ich einmal war, muss ich sagen:

Ich kann dieses Turnier nicht gucken.

Ich will es nicht gucken!

 

Es ist nicht nur wegen der korrupten FIFA, einer Organisation mit mafiösen Netzwerken, zwielichtigen Gestalten und gesetzeswidrigen Machenschaften. Ein Verein, der sich eigentlich der Gemeinnützigkeit verschrieben hat und trotzdem Milliarden scheffelt.

 

Es ist nicht nur wegen der ausufernden Vermarktung, die im Fußballzirkus astronomische Gehälter und Ablösesummen nach sich zieht, sodass der Sport in den Hintergrund gerät und sich immer weiter von seinen Fans wegbewegt.

Nein!

 

Es ist besonders wegen der Menschrechtsverletzungen in einem Land, das Extremismus und Ausbeutung fördert.

 

Auch wenn der „Kaiser“ keine Sklaven gesehen haben will, sind in den letzten zehn Jahren nach offiziellen Schätzungen 6.500 bis 15.000 Arbeiter vor Ort gestorben. Menschen aus Asien und Afrika, die unter unmenschlichen Bedingungen hausen mussten, denen Pässe abgenommen und die im Kafala-System in Leibeigenschaft gehalten wurden.

 

Diese Menschen haben unter Einsatz ihres Lebens u.a. die Infrastruktur und jene Spielstätten gebaut, in denen nun der Rest der Welt feiern soll.

 

Bei mindestens 6.500 Toten und 64 Spielen heißt das, dass für jede einzelne Spielminute dieses Turniers mindestens ein Mensch sein Leben lassen musste, vielleicht aber auch zwei oder drei.

 

Dieses Sportereignis findet auf einem Massengrab statt.

Es sind blutige, menschenverachtende Spiele, die jeder durchs Schauen unterstützt und mitfinanziert.

 

Ich boykottiere diese WM, wohl wissend, dass ich nichts mit dieser Entscheidung ausrichten kann.

Ich kann diese Schande aber nicht unterstützen, ich kann nicht mitfiebern und jubeln, im Wissen darüber, dass für meine Emotionen bei einem rollenden Ball tausende Menschen ihr Leben lassen mussten.

 

Diese WM wird sicherlich ein Fest, das steht fest. Nur wird nicht der Sport gefeiert, nicht das schöne Spiel, auch nicht das bunte Miteinander, für das die Fußballgemeinschaft regelmäßig wirbt.

 

Es wird ein Fest, bei dem moderne Ausbeutung bejubelt wird, ein Fest, bei dem Gier, Menschenverachtung und Mord gefeiert und zur Normalität erhoben werden.

 

Ich kann da einfach nicht mitfeiern.

Ich kann diese unfassbare Schande nicht anschauen.

Ich kann es nicht. Ich will es nicht.

 

Kannst du das?

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

...liest gerade „Um jeden Preis“ von Christoph Biermann

Am Totensonntag beginnt die WM in Qatar.

 

Damit erreicht der moderne Fußball seinen Höhepunkt und bestätigt, dass er sich nur noch einer einzigen Sache verschrieben hat: Profit um jeden Preis!

 

Oligarchen, Scheichs und Hedgefonds kaufen und besitzen Vereine, als wären sie Spielzeuge.

Spielergehälter und Ablösesummen explodieren ins Unermessliche, wodurch sich der Sport immer weiter von den Fans wegbewegt.

Die immerselben Vereine gewinnen die nationalen Meisterschaften und die Champions League, so dass die Wettbewerbe mehr und mehr an kompetitivem Reiz verlieren.

 

Und in 3 Wochen beginnt die WM in einem Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt, ein Land, in dem Frauen unterdrückt werden, Homosexuellen die Todesstrafe droht und Arbeitsmigranten aufs brutalste ausgebeutet werden, so dass Tausende ihr Leben lassen mussten, um Stadien und Infrastruktur für dieses Turnier zu bauen.

 

Was läuft alles schief in diesem Sport, der einst als schönste Nebensache der Welt galt? Seit wann gibt es diese Entwicklung? Womit begann der Untergang des alten und der Aufstieg des modernen Fußballs?

 

Christoph Biermann zeichnet in seinem Buch anschaulich die Entwicklung des modernen Fußballs nach, der in den letzten Jahrzehnten durchökonomisiert und zu einer Ware verpackt wurde, einer Ware, der alles untergeordnet wird. Besonders seit der Einführung der Champions League 1992 nahm diese Entwicklung rasant an Fahrt auf, deren vorläufiger Höhepunkt nun mit der WM in Katar erreicht wird, bei der selbst Menschenleben und -rechte weniger zählen als der Profit.

 

"Um jeden Preis" erschien bei Kiepenheuer & Witsch und sollte Pflichtlektüre für jeden Fußballfan werden, der immer noch denkt, dass dieser Sport unschuldig sei.

 

Als Fußballfan, der ich einmal war, gibt es bald mehr von mir zu dieser unbeschreiblichen Schande in Qatar, denn diese WM zeigt nichts weniger als den totalen moralischen Bankrott und Ausverkauf.

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 

 

 

Christoph Biermann: Um jeden Preis. Die wahre Geschichte des modernen Fußballs. Von 1992 bis heute.

Sachbuch

Paperback, 256 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022

 

...liest gerade „Dschinns“ von Fatma Aydemir

Hüseyin schaut auf die Stadt seiner Träume hinaus.

Er hat es geschafft. 30 Jahre hat er für diese Wohnung in Istanbul geschuftet.

Der Moment überwältigt ihn, nicht wissend, dass es der letzte seines Lebens sein wird.

 

Als die BRD in den 70er Jahren nach Gastarbeitern ruft, folgt Hüseyin der Verlockung und lässt seine Familie in der Türkei zurück. Es vergehen Jahre, in denen er seine Frau und seine Kinder nur in den Ferien sieht, bis er sie endlich nachholen kann – alle, bis auf seine älteste Tochter.

 

In Deutschland ist alles anders, die Menschen, die Städte, das Leben, das Klima. Auch die Eltern verhalten sich merkwürdig, besonders als im ganzen Land plötzlich Häuser brennen. Eine subtile Angst kriecht in die Familie, das Gefühl von ständiger Bedrohung nistet sich ein, während die Deutschen in Partykellern und auf der Loveparade feiern. Die Eltern werden nie richtig heimisch, die Kinder derweil zwischen den Kulturen hin und her gerissen. Und so versucht jeder auf seine Weise, seinen quälenden Geistern zu entkommen, bis die Familie auseinanderbricht und erst in Istanbul wieder zusammenfindet.

 

„Dschinns“ ist eine Wucht und ein zutiefst bewegender Roman, der die Frage nach Familie und Identität neu aufwirft und verhandelt, denn was hält diese Menschen, die miteinander verwandt sind, eigentlich zusammen? Sind es die Geschichten, die man einander erzählt, wieder und wieder, meist auf Familienfesten? Oder sind es die Bruch- und Leerstellen, die sich wie Gräben durch Familien ziehen, die Geheimnisse, die man voreinander hat, die Wunden, die man sich schlägt?

 

Selten habe ich einen poetischeren Beginn gelesen. Der plötzliche Tod des Vaters stellt den Ausgangspunkt zu einer Geschichte dar, die durch Perspektivwechsel und Rückblenden das Panorama einer Migrantenfamilie in den 80er und 90er Jahren der BRD entfaltet. Es ist zugleich aber auch Familien- und Generationen-, Arbeiter- und Zeitroman und handelt besonders von dem Drang nach Unabhängigkeit, Emanzipation, Selbstfindung und -behauptung.

 

Der Roman erschien bei Hanser, stand auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und wäre ein ebenso verdienter Siegertitel gewesen.

 

 

 

 

Fatma Aydemir: Dschinns

Roman

Hardcover, 368 Seiten

Hanser Verlag, München 2022

 

...liest gerade „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck

Zu den Auswirkungen der Great Depression gesellt sich in Oklahoma in den 30er Jahren eine verheerende Dürre. Die Felder verdorren, das Wasser ist knapp, es gibt kein Essen, keine Arbeit. Großgrundbesitzer schmeißen Landarbeiter von den Feldern. Angelockt durch Flugblätter, auf denen Arbeit und Geld versprochen wird, machen sich Tausende Binnenflüchtlinge auf gen Westen. Es wird eine beschwerliche Reise über tausende Kilometer, an dessen Ende sie nur eines erwartet – Elend.

Der Roman ist eine Abrechnung mit unserer liberalen Wirtschaftsordnung und so aktuell, als spiegelte er unser Zeitgeschehen. Im Fokus steht das Leben Geflüchteter, das vor 100 Jahren nicht anders verlief als heute. Die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben befeuert den Entschluss, alles hinter sich zu lassen und zu fliehen. Es folgen die lange, qualvolle Fahrt ins gelobte Land, die Ausbeutung und Anfeindung vor Ort, die überfüllten und verdreckten Camps, die Demütigungen und das Sich-Verdingen für ein wenig Essen. Die einheimische Propaganda schießt derweil gegen die Neuankömmlinge, gegen die Fremden, die Barbaren, die Vergewaltiger und Mörder, sodass es zu Spannungen, Konflikten und Pogromen kommt.

 

Der in einigen US-Staaten lange Zeit verbotene Roman schlägt eine heute immer noch anhaltende Kritik am Kapitalismus an, in dem es für Unternehmen tatsächlich profitabler ist, Lebensmittel zu vernichten, als sie zu spenden. Es ist ein Zeitroman, der zugleich mit so vielen Parallelen zur heutigen Zeit aufwartet, dass es erschreckend ist. Die überfluteten und völlig verdreckten Camps erinnern an Moria und andere Lager an der Peripherie Europas, die Propaganda gegen Flüchtlinge ist weltweit weiterhin dieselbe. Auch die Ausnutzung der Arbeitskräfte kommt bekannt vor, denkt man nur an die bevorstehende WM oder an die Menschen, die in unseren Fleischereien oder auf den Spargelfeldern arbeiten.

 

„Die Früchte des Zorns“ deutet aber auch in die Zukunft hinaus, in der sich zu den Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen auch Klimaflüchtlinge gesellen. Obwohl schon 1939 geschrieben, ist es ein hochaktueller Roman, durch den man die Welt mit anderen Augen sieht.

 

 

 

John Steinbeck: Früchte des Zorns

Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Lambrecht

Taschenbuch, 544 Seiten

dtv Verlag, München 2021 (Erstausgabe Paul Zsolnay Verlag, Zürich 1940)

 

...liest gerade „Internat" von Serhij Zhadan

Das Internat ist nur wenige Kilometer entfernt, und doch scheint es unerreichbar.

Denn zwischen ihm und dem Gebäude tobt der Krieg.

Ein Krieg, den es offiziell nicht gibt.

 

Pascha ist Lehrer im Donbass. Obwohl er im russischsprachigen Teil des Landes Ukrainisch unterrichtet, interessiert er sich nicht sonderlich für Politik. Ebenso wenig für den Krieg, der seit zwei Jahren in der Region wütet und längst zum Alltag geworden ist.

 

Als sich aber der Krieg bis zum Internat seines Neffen frisst, macht sich Pascha auf den Weg in die wenige Kilometer entfernte Stadt, um den Sohn seiner Schwester zu sich zu holen. Er weiß nicht, dass es der beschwerlichste Weg seines Lebens wird, vorbei an Barrikaden, Umleitungen, Checkpoints und Einbahnstraßen, stets auf der Hut vor Separatisten, ukrainischen und russischen Soldaten, mitten durch ein Kriegsgebiet, in dem es schwerfällt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Und so braucht er letztlich mehrere Tage, Tage, die alles verändern werden, woran er jemals glaubte.

 

Der Roman erschien bereits 2017 - also etwa 3 Jahre nach der Krimbesetzung und dem Vorrücken russischer Soldaten in den Donbass - und schildert eindrücklich und bildgewaltig den Kriegsalltag im Osten der Ukraine, einen Krieg, der uns im Rest Europas größtenteils verborgen geblieben ist. Denn der Krieg in der Ukraine begann nicht erst im Februar dieses Jahres, wie es medial oft den Eindruck macht, sondern schon 2014.

 

Mit feinem Blick seziert Zhadan das alltägliche und zur Normalität verkommene Kriegsgrauen. Er beschreibt eine Gegend, deren Städte leergefegt sind, deren Menschen in Kellern hausen und deren Häuser durch Raketenbeschuss dem Erdboden gleichgemacht wurden. Eine Gegend, wo völlig verängstigte Frauen und Kinder sich in Bahnhöfen zusammendrängen, wo achtzehnjährige Jungen mit Kalaschnikows hantieren und schließlich an der Front verheizt werden. Er beschreibt eine Gegend, wo Misstrauen und Angst nicht nur vor Fremden, sondern auch vor Nachbarn herrschen, da immer die Ungewissheit über ihre Überzeugung mitschwingt: Sind sie Freund oder Feind? Und wer ist überhaupt Freund und Feind in jenen Tagen? Wo genau verläuft die Trennlinie? Gibt es überhaupt eine?

 

Durch das politische Desinteresse Paschas, der anfangs allen Seiten die Schuld für den Krieg gibt und sich auf keine Seite schlagen will, wirft der Roman einen ungeschönten Blick auf den Krieg, frei von jeglicher Ideologie oder politischen Beeinflussung, einen Blick, der nur eine Frage aufwirft: Warum?

 

Serhij Zhadan lebt in Charkiw und berichtet seit vielen Jahren über die Gewalt in der Ukraine. Immer noch weigert er sich die Stadt zu verlassen und gilt längst als Chronist dieses imperialistischen Krieges. Im Oktober wird er durch seine unermüdliche Arbeit mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Seine Romane sind der Beweis dafür, dass man alles, was momentan in der Ukraine passiert, schon hätte voraussehen können, hätte man seine Bücher nur als das gelesen, was sie sind: als Warnung an uns Mitmenschen.

 

Seine Entgegnung auf den Offenen Brief deutscher Intellektueller zum Waffenstillstand ist daher auch an Eindringlichkeit nicht zu überbieten, denn angesichts der Brutalität Russlands ist Zhadan sich sicher, „wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende“ ("Wir werden vernichtet", in der ZEIT vom 06.07.2022)

 

„Internat“ erschien 2018 im Suhrkamp Verlag und sollte von allen gelesen werden, die verstehen wollen, wie es zu dem kam, was sich jetzt in der Ukraine zuträgt.

 

 

 

Serhij Zhadan: Internat

Roman, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr

Hardcover, 300 Seiten

Surkamp Verlag, Berlin 2018

 

...liest gerade „Gesammelte Werke" von Lydia Sandgren

Mein Beitrag zu den Sommerbuchtipps der Buchhandlung JosFritz!

Es ist ein Buch, das das Leben der jungen Studentin Rakel in Aufregung versetzt. Je mehr sie in den Roman eintaucht, desto eindeutiger erkennt sie in der Protagonistin Züge ihrer Mutter, die vor Jahren spurlos verschwand.

 

Cecilia war emanzipiert, liebte Sprachen und Literatur und stand vor einer glänzenden Karriere als Wissenschaftlerin. Zusammen mit ihrem Mann Martin, der das eigene Dichten für eine Verlagsgründung aufgab, sowie dem gemeinsamen Freund Gustav, der durch Porträts von Cecilia zu einem berühmten Künstler avancierte, lebte sie in einer intellektuellen und sich gegenseitig inspirierenden Ménage-à-trois.

 

Dann aber verlässt sie plötzlich Mann und Kinder und wird nie mehr gesehen. Angestachelt durch die Lektüre begibt sich Rakel fünfzehn Jahre später auf eine Spurensuche, die sie tief in die Geschichte ihrer Eltern hineinzieht und bis vor eine Tür führt, hinter der all ihre Hoffnungen zu liegen scheinen. Doch was verbirgt sich wirklich dahinter?

 

Lydia Sandgren hat ein großartiges Debüt vorgelegt, in dem sie das Leben in all seinen Facetten porträtiert. Mit außerordentlicher Fabulierlust werden auf über achthundert Seiten so starke Verflechtungen zwischen den Protagonisten geknüpft, dass man nur zu gerne immer weiterläse. Im Mittelpunkt stehen dabei die unergründlichen Wege des Lebens, die oft erst rückblickend verstanden werden können. So werden über Jahrzehnte innige Freundschaften geschlossen, die ineinander wachsen und doch wieder zerfallen, es wird die Liebe des Lebens gefunden und wieder verloren, und es werden Lebensentwürfe gelebt, die retrospektiv als Lügen gestraft werden. Daneben wird in leisen Zwischentönen nicht nur der Kampf zwischen Individualität und Gesellschaft skizziert, sondern auch das Ringen mit der ewigen inneren Leere. Nicht zuletzt geht es aber auch um weibliches Aufbegehren in einer männerdominierten Welt, in der es immer noch normal erscheint, wenn ein Vater die Familie verlässt, jedoch skandalös, wenn diesen Schritt eine Mutter wagt.

 

Gesammelte Werke ist ein Entwicklungs- und Epochenroman, eine Familien- und Emanzipationsgeschichte, eine Hommage an die Literatur und die Kunst und ein Schmöker für den Sommer, aus dem man nicht mehr auftauchen möchte.

 

Mehr Sommerbuchtipps von Bloggern findet ihr hier.

 

 

 

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke

Roman, aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig

Hardcover, 880 Seiten

mare Verlag, Hamburg 2021

 

...liest gerade „Aufbrechen“ von Tsitsi Dangarembga

Ein Mädchen, das nach Bildung dürstet.

Das gegen die Ungerechtigkeit seiner Welt kämpfen will.

Das sich allen Widerständen mutig entgegen stellt und das doch seinen Preis zu zahlen hat.

Denn es lebt in einer Welt, in der das weibliche Geschlecht nicht viel zählt.

 

Tambu wird in einer ärmlichen Familie im ehemaligen Rhodesien geboren. Was der Vater durch Faulheit verschläft, wird der Mutter doppelt und dreifach aufgebürdet. Denn sie ist es, die für die Familie sorgt, die kocht, sich um den Haushalt kümmert und die Kinder erzieht. Tambus Weg scheint vorgezeichnet in einer Welt, in der Mädchen nicht viel zählen. So muss sie als Kind bereits tatkräftig beim Arbeiten helfen, während ihr älterer Bruder die Schule besuchen darf. Die Mutter erinnert sie an ihr Schicksal, eine schwarze Frau zu sein und damit gleich eine doppelte Bürde zu tragen.

 

Als ihr Bruder unerwartet stirbt, erhält sie durch die Familie ihres Onkels die Chance, in die Schule zu gehen. Sie zieht zu ihr und entdeckt, dass diese Familie so anders ist als ihre eigene. Sie wohnt in einem Haus mit Angestellten, der Onkel ist angesehen und verdient gutes Geld, die Tante hat ihren eigenen Kopf und ihre Cousine ist widerspenstig und gibt dem Vater Widerworte. Ist sie durch die Jahre in London verzogen oder rebelliert sie gegen die Unterdrückung der Frau?

 

Was klingt wie ein gerade erst erschienener Roman, der die Missstände von Frauen thematisiert, ist bereits 35 Jahre alt.

 

Der Roman ist eine Coming-of-Age Geschichte und spiegelt eindrücklich die Erfahrungen eines Mädchens in einer patriarchalischen Welt wider. Rassismus, Apartheid und Armut bestimmen ihr Leben genauso wie alte Familienstrukturen und Stammesdenken. Doch durch den unbändigen Drang nach Bildung öffnet sich ihr eine ganz andere Welt. Immer mehr begreift sie, wie es um die Rolle der Frau bestellt ist in einem System, das Frauen knechtet und herabwürdigt.

 

Aus den Augen eines Kindes diese gänzlich fremde Welt in Afrika zu betrachten, fand ich ungemein spannend und bereichernd. Nicht der Fakt, dass Frauen seit Menschheitsgedenken unterdrückt werden, sondern die Beschreibungen der Kultur, der Menschen, ihrer Schicksale und Beweggründe, ihrer Probleme und Mentalitäten an diesem fernen Ort machen diesen Roman zu einem ganz besonderen.

 

Schon 1988 geschrieben, 1991 ins Deutsche übersetzt, 2018 in die BBC-Liste der „100 Bücher, die die Welt geprägt haben“ aufgenommen, aber erst durch die Auszeichnung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2021 auch endlich hier gewürdigt.

 

Der Beginn einer Trilogie, deren zweiter Teil erst dieses Jahr als Übersetzung erscheinen soll, obwohl der dritte Band bereits im Deutschen vorliegt. Ich werde auf jeden Fall noch beide lesen.

 

„Aufbrechen“ erschien im Orlanda Verlag in der Reihe „Afrika bewegt“, übersetzt von keinem Geringeren als Ilija Trojanow.

 

 

Tsitsi Dangarembga: Aufbrechen

Roman

Klappenbroschur, 280 Seiten

Orlanda Verlag, Berlin 2019

 

...liest gerade "Grund" von Sylvia Wage

Der Vater liegt tot auf dem Boden.

Auf dem Boden eines tiefen Lochs.

Das Loch hat sie ausgehoben – um sich zu rächen.

 

Der Vater gibt sich charmant, doch nicht umsonst bewacht die Mutter nachts die Zimmer der drei Töchter. Strenge Regeln herrschen im Haus, die zu brechen fürchterliche Konsequenzen nach sich zieht. Seitdem sie elf ist, gräbt sie deshalb ein Loch im Keller, jede Nacht ein wenig tiefer. Hand für Hand trägt sie die Erde hinaus. Das Loch wird groß und größer und das Mädchen reift heran.

 

Dann verschwindet der Vater plötzlich. Das Auto ist fort, ein Abschiedsbrief liegt auf dem Tisch. Der Tyrann hat die Familie verlassen. Die Schwere fällt und die Schwestern blühen auf. Sie ziehen aus, befreien sich von den Fesseln und bestimmen ihr Leben fortan selbst. Nur sie muss zu Hause bleiben, muss für die alkoholkranke und bald demente Mutter sorgen – und sie muss sich um den Vater kümmern, den sie in das Loch gestoßen hat. Als er nun tot auf dem Boden liegt, kriecht die Wahrheit langsam hervor und drängt ans Tageslicht.

 

Sylvia Wages Debütroman ist ein wunderbares Vexierspiel, das kunstvoll mit Wirklichkeit und Fiktion jongliert. Denn schon bald stellen sich Fragen, Fragen nach der Zuverlässigkeit der Erzählerin. Was stimmt eigentlich in der Geschichte, die sie dem Leser in einem lakonischen Plauderton erzählt, als redete sie über Nebensächlichkeiten? Was ist in der Kindheit wirklich vorgefallen? Und wer wusste von ihrer Tat? Oder gab es sie gar nicht, was sie nur eine symbolische Tötung, eine Art gedankliche Katharsis? Je tiefer man sich auf den Grund begibt, desto mehr Unklarheiten ergeben sich. Schon der Titel spielt mit der Ungenauigkeit, kann Grund doch als Boden, als Ursache oder aber auch als Abgrund gelesen werden.

 

Der Roman erhielt den Blogbusterpreis 2020, ein Wettbewerb, bei dem auch ich teilgenommen habe. Deshalb war es umso interessanter, den Gewinnertitel zu lesen, und nach eingängiger Lektüre muss ich zugeben: Sylvia Wage hat den Preis zu Recht erhalten. Der Roman ist ein mehrschichtiges Psychogramm einer Frau, die sich erst als Täterin Gehör verschaffen kann, da ihr als Opfer nicht geglaubt wird.

 

 

Sylvia Wage: Grund

Roman

Hardcover, 176 Seiten

Eichborn Verlag, Köln 2021

 

...liest gerade „Vierunddreißigster September“ von Angelika Klüssendorf

Als bei ihm ein Hirntumor entdeckt wird, ändert sich sein Leben.

Statt der immerwährenden Wut legt sich Sanftmut über sein Gemüt.

Seine Frau kann es nicht verstehen – und erschlägt ihn mit einem Beil.

 

Hilde ist verschwunden. Niemand im Dorf weiß, wo sie ist. Die Polizei fahndet nach der alten Mörderin, die auf solch bestialische Weise ihren Mann erschlug. Zuletzt wurde sie auf der Silvesterfeier gesehen, auf der sie unbeschwert getanzt hatte. Doch als ein Nachbarskind tags darauf die Leiche ihres Mannes findet, ist sie fort und wird nie wieder gesehen.

 

Walter erwacht als Geist. Sein Schädel ist gespalten, seine Sanftmut geblieben. Im Totenreich wird ihm auferlegt, seine Chronik zu erzählen. Aber er kann sich nicht erinnern. Nach und nach sieht er durch die Erzählungen anderer Verstorbener ein, dass seine Frau ein Leben führte, das er nicht kennen wollte, dass sie Gedichte schrieb und Sprachen lernte, wofür er sie mit Desinteresse strafte. Warum war er früher nur immer so voller Wut? Und warum bloß erschlug ihn seine Frau?

 

Angelika Klüssendorf hat einen Roman über ein Dorf geschrieben, mit dessen Bewohnern es nach der Wende stetig bergab ging. Trostlosigkeit hängt über der Stadt wie ein Leichentuch. Nur wenige schaffen es, der Einöde und der Sinnlosigkeit zu entkommen. Die meisten bleiben und stumpfen ab. Doch der Roman ist nicht nur ein Dorfroman, sondern reflektiert wie jeder gute Roman auch das Große im Kleinen. Durch den Tod Walters und seine Unterhaltungen werden die existentiellen Fragen aufgeworfen: Was ist das Leben? Was macht einen zu demjenigen, der man ist? Und wofür lohnt es sich eigentlich zu leben?

 

Mit Witz und Scharfsinn erzählt Klüssendorf von den vielen Einwohnern, die ihr kleines Leben führen, erzählt von gescheiterten Ehen, die dennoch nicht getrennt werden, erzählt von Tyrannen, die Familien knechten, und Selbstermächtigungen, die verschrien werden. Durch unterschiedliche Erzählstimmen wird das Leben aus einer Vielzahl an Perspektiven beleuchtet. Ein guter, ein unterhaltsamer Roman, an dessen Ende mir aber etwas zu wenig Substanz übrigblieb.

 

 

 

Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September

Roman

Hardcover, 224 Seiten

Piper Verlag, München 2021

 

...liest gerade „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ von Felicitas Hoppe

Vom Rhein zur Donau.

Von der Geschichte zur Sage.

Und vom Laiendarsteller zum Tod.

 

Jeder kennt die Sage der Nibelungen und keiner kennt sie richtig. Die zunächst namenlose Ich-Erzählerin wohnt der Aufführung der Nibelungen in Worms bei. Sie beschreibt und kommentiert Schauspieler und Handlung, bis sie selbst ins Drama gezogen wird und um sie herum die Ebenen verwischen. Plötzlich fährt sie mit nach Isenstein, wirbt um Brunhild und muss später in Etzels Palast dem großen Morden zuschauen. Doch sie greift nie ein, sondern bleibt immer nur Beobachterin. Wie wir im Abspann erfahren, ist diese Zeugin Felicitas Hoppe. Die Autorin hat sich also selbst in den Stoff eingewebt.

 

Zum Glück gibt es zwei große Pausen zwischen den Akten. In diesen führt sie Interviews mit den Schauspielern, fragt sie zu ihren Rollen, zu ihrem Kunstverständnis und zu Interpretationen.

 

Wie der Rhein und die Donau fließt der Roman der Georg-Büchner-Preisträgerin über mehrere Ebenen und verzweigt sich in mehrere Arme. In dem so oft adaptierten und stets als Nationalepos stilisierten Stoff fließen die Ströme ineinander, sodass man sich als Leser zu Beginn eines Satzes noch in Worms befinden kann, am Ende desselben jedoch in der mythischen Zeit der Nibelungen.

 

Es ist eine höchst anspruchsvolle Verzahnung mehrerer Ebenen, denn neben der Ich-Erzählerin, dem Theaterstück sowie dem Mythos spielt auch der Film von Fritz Lang aus dem Jahr 1924 eine Rolle. Sprach Brecht vom epischen Theater, in dem die Grenzen zum Publikum fielen, kann man hier von einem dramatischen Roman sprechen, in dem durch Verfremdungseffekte keine Identifikation aufkommen mag.

 

Die eigentümliche Konstruktion zeugt zwar von Experimentierfreude, die ich in Romanen meist sehr schätze, mutet aber an vielen Stellen auch schwerfällig an. Eine Lesefluss kommt nicht wirklich zustande, die zahllosen Unterbrechungen und Spiegelungen wirken meist aufgesetzt. Zudem erschließt sich mir nicht der Mehrwert, den man aus der Bearbeitung dieses jahrhundertalten Stoffes ziehen soll.

 

So bleibt eine interessante Konstruktion, die aber mehr irritiert als unterhält.

 

„Die Nibelungen. Ein Stummfilm“ stand im letzten Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

 

 

 

Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm

Roman

Hardcover, 256 Seiten

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021

 

...liest gerade „Red Pill“ von Hari Kunzru

Im Südwesten Berlins liegt ein idyllischer Ort, doch er täuscht.

Denn hier tötete Heinrich von Kleist seine Freundin und danach sich selbst.

Hier tagten hochrangige Vertreter des Nationalsozialismus und planten den Holocaust.

Und hier, an den Ufern des Wannsees, findet er nun die Spuren einer Weltverschwörung.

 

Es ist die Midlife-Crisis, die an ihm nagt. Das Gefühl, dass etwas grundlegend schiefläuft, quält den namenlosen Schriftsteller. Abhilfe soll das dreimonatige Stipendium im Deuter Zentrum verschaffen, einer renommierten Forschungseinrichtung für Sozial- und Kulturwissenschaften, in der er zu Kreativität und Inspiration zurückfinden will.

 

Doch statt Abgeschiedenheit findet er Großraumbüros vor, statt Einsamkeit gemeinsame Essen und Unternehmungen. Als er sich immer mehr in sein Zimmer zurückzieht, beginnt er plötzlich Zeichen zu sehen. Besonders in der gestreamten Krimiserie „Blue Lives“ fallen ihm neben literarischen Anspielungen auch Codes der rechten Szene auf, die nur er zu bemerken scheint. Im Internet stolpert er panisch von einem Begriff zum nächsten, gräbt sich immer tiefer durch den Sumpf rechter Parolen und begibt sich dadurch auf einen Weg, der ihm keine Rückkehr gewähren wird.

 

„Red Pill“ ist ein spannender Roman über die Blindheit unserer Welt, in der die Neue Rechte sich längst formiert hat, die Gesellschaft unterwandert und aushöhlt. Sprachliche und bildliche Codes sind längst in den Mainstream eingeflossen und setzen ihr Gift frei. Die Weitreiche und Anonymität des Internets bieten Verschwörungstheoretikern und Faschisten alle Mittel, um eigene Geschichten und Weltanschauungen millionenfach unters Volk zu bringen.

 

Beschränkte sich der Roman auf diese Themen, wäre er ein wilder Ritt durch das Territorium der Neuen Rechten, durch das Internet und die Deutungshoheit über Fakes und Wirklichkeiten. Doch leider rührt Kunzru zu viel Stoff in seinem Roman ineinander. So wird eine ganze Reihe an deutschen Dichtern aufgeboten und nicht nur mit den eben genannten Themen zusammengegossen, sondern auch mit der DDR gemischt, dem Überwachungsstaat, Flüchtlingen, Depressionen, Verfolgungswahn sowie dem Spiel von Wirklichkeit und Phantasie, so dass der Mixer am Ende einen Brei ausspuckt, bei dem ich mich frage: Wonach genau soll der schmecken?

 

Hier wäre etwas weniger Fülle an Themen sicherlich besser gewesen.

 

 

 

Hari Kunzru: Red Pill

Roman, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Hardcover, 352 Seiten

Liebeskind Verlag, Hamburg 2021

 

...liest gerade „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier

Ein Auftragsmörder, der sich akribisch auf seine Opfer vorbereitet.

Ein Rapper, der im größtenteils homophoben Nigeria Männer liebt.

Ein Mädchen, das nicht mit seinem Vater allein gelassen werden will.

Und die FBI, die alle an einen geheimen Ort bringt.

Denn es gibt ein Problem – sie existieren doppelt.

 

Im März 2021 befindet sich eine Boeing 787 der Air France auf dem Weg von Paris nach New York, als sie über dem Atlantik in ein heftiges Unwetter gerät. Die Turbulenzen sind so stark, dass etliche Passagiere mit ihrem Leben abschließen. Im Cockpit bricht der Funkkontakt zur Außenwelt ab, die Instrumente spielen verrückt, doch die Panik hält nur wenige Augenblicke. Das elektromagnetische Gewitter verliert sich so schnell, wie es gekommen war.

 

Gerade als sich Erleichterung breitmachen will, steigen zwei Abfangjäger neben dem Flugzeug auf und leiten die Maschine zu einem Luftwaffenstützpunkt um. Dort zwingt man die Passagiere in Quarantäne. Unter strenger Beobachtung müssen sie im Trakt verharren, dürfen nicht hinaus, nicht telefonieren. Sie werden festgehalten, ohne Anklage, ohne Grund, bis etwas durchsickert, das unmöglich erscheint: Dasselbe Flugzeug ist bereits vor drei Monaten gelandet – mit denselben Passagieren. Jeder Einzelne von ihnen existiert also doppelt.

 

Was zu Beginn wie ein halbgarer Thriller anmutet, da man den Spuren eines Auftragsmörders folgt, entpuppt sich mit der Zeit…als halbgarer Thriller. Das ist also der Roman, von dem alle sprechen? Puh…was für eine Enttäuschung! Da hilft auch der Prix Goncourt nicht, den er 2020 erhalten hat.

 

Natürlich ist die Geschichte interessant: ein Flugzeug, das sich samt seiner Passagiere verdoppelt hat. Die Zweitgelandeten werden mit einem Ich konfrontiert, das ihnen drei Monate voraus ist, und schauen in ihre eigene Zukunft. Was würde man tun, wenn man seine Zukunft kennte? Was, wenn man einen Doppelgänger hätte? Was ist das Leben, ja was sind wir? Ist alles nur eine groß angelegte Simulation, von höheren Wesen ersponnen?

 

Philosophische Fragen werden aufgeworfen, doch sie kommen hier so beschränkt daher, so altbacken und oberflächlich, dass man sich tatsächlich fragt, wie dieser Roman solch ein Erfolg werden konnte. Schon Matrix setzte sich vor über zwanzig Jahren eingehender mit der Simulationstheorie von Nick Bostrom auseinander, als dieser Roman es tut.

 

Das größte Problem des Romans liegt allerdings in den Charakteren. Jede Erzählung knirscht, wenn sie sich zu sehr auf die Story fokussiert und Figuren als Statisten missbraucht, um einen gewünschten Effekt zu transportieren. Zwar sind die Charaktere bunt gemischt, doch bleibt nicht nur der Ton immer derselbe, sondern auch ihr Leben seltsam blass. Die Figuren, aus denen erst wahre motivierte Handlung entsteht, werden zu Pappkameraden, die die sonderbare Story tragen sollen.

 

Stellvertretend für die lahme und an vielen Stellen plumpe Unterhaltung ist eine Szene, in der sich Vertreter aller Religionen treffen, um über Wesen und Sinn des Lebens zu diskutieren, eine Szene, die ein Kind hätte schreiben können und sie wäre wahrscheinlich besser gelungen.

 

Mag sein, dass ich dem Roman wegen der enormen Erwartungshaltung, gespeist aus den unzähligen überschwänglichen Kritiken, ein wenig Unrecht tue, doch mehr als etwas zerstreuende Unterhaltung bietet er auf keinen Fall.

 

 

 

Hervé le Tellier: Die Anomalie

Roman, aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte

Hardcover, 352 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2021

 

Manchmal muss es eben auch ein Klassiker sein…und was für einer!

Mit welch Kraft und Eleganz erweckt Capote hier bitte seine Figuren zum Leben!?

 

Mit welch feinen Details lässt er sie aus den Sätzen auferstehen, sodass man meint, man wohne mit ihnen im selben Haus?!

 

Und welch schwere Melancholie, ja welch tiefer Schmerz steckt hinter der eleganten und verspielten Leichtigkeit einer Holly Golightly!?

 

Ein ganz außergewöhnliches Büchlein, ein Meisterwerk!

 

 

 

...liest gerade „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch

Noch nie hat sie die das Dorf verlassen, obwohl sie schon oft davon träumte, die Monotonie zu durchbrechen und auf Reisen zu gehen. Doch sie hasst diese Kleinstadt und will sich an ihr rächen - indem sie bleibt.

 

So streift sie durch die Stadt und erblickt eines Tages einen Fremden. Neugierig nimmt sie ihn mit zu sich und bringt ihn in einem der zehn Zimmer ihres Hauses unter. Die Matratze muss er sich selbst besorgen. Betrachtet sie den Gast anfangs noch als Experiment und lässt sich herrschaftlich bedienen, übernimmt der Fremde mehr und mehr die Macht, übernimmt Kleidung, Möbel und feiert Partys im Garten. Schließlich will sie ihn loswerden, doch wie nur soll sie es anstellen? Und will sie eigentlich wirklich, dass er geht?

 

Nüchtern und klar schreibt Koch über unerhörte Ereignisse in einem nicht näher verortbaren Ort mit namenlosen Protagonisten – ein Stil, der an Kafka erinnert. Auch inhaltlich bleibt der Roman in der Schwebe. Denn wer drängt sich hier eigentlich wem auf, wer manipuliert wen – und wer zum Teufel ist überhaupt dieser Gast?

 

Ist es ein Auswärtiger, gar ein Flüchtling, der eine neue Heimat sucht? Ist es ein Hund? Eine Metapher? Eine Allegorie? Ist es die Sehnsucht, die sich in ihr eingenistet hat und die sie schließlich forttreibt? Ist es eine verdrängte Schuld, die wieder aufstößt? Ist es eine Art Melancholie? Eine Depression? Spielt sich die Geschichte tatsächlich so ab oder entstehen die Bilder nur in ihrem Innern? Spielt sich die Geschichte überhaupt ab? Und wenn wir schon dabei sind, woher kommen wir? Wohin gehen wir?

 

Wie bei Kafka sind der Interpretationsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt, denn auf nur 176 Seiten werden sachte aber bestimmt vielerlei dichotome Themen aufgeworfen, die von Gastfreundschaft und Fremdheit bzw. Heimat und Integration über Unterwürfigkeit und Ergebenheit bis hin zu Wandel und Stillstand sowie Einsamkeit und Gesellschaft reichen.

 

Ein bemerkenswerter Roman, dem zum Ende hin jedoch die Luft ausgeht, so dass ich froh war, dass es sich nur um ein schmales Bändchen handelte.

 

Erschienen ist der Roman bei Suhrkamp, wurde ausgezeichnet mit dem Aspekte Literaturpreis 2021 und stand auf der Shortlist von Das Debüt.

 

 

 

Ariane Koch: Die Aufdrängung

Roman

Broschur mit Schutzumschlag, 179 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

 

...liest gerade „Dunkelblum“ von Eva Manesse

Hinter den dicken Mauern des Schlosses knallen die Sektkorken.

In ausschweifenden Exzessen wird gefeiert, getrunken und getanzt.

Vor den Toren jedoch, tief im Wald, da spielt sich Ungeheuerliches ab.

Eine Tat, monströs und unfassbar – und doch alltäglich.

 

Es ist ein kleiner Ort, dieses Dunkelblum, idyllisch gelegen im österreichischen Burgenland. Früher residierten Grafen hier an der Grenze zu Ungarn. Heute gibt es nur noch ihre Gruft und eine Schlossruine, Zeugen der guten, alten Zeit. Seit Generationen bewohnen alteingesessene Familien den Ort und so bleibt man auch gerne unter sich. Argwöhnisch wird deshalb der fremde, alte Mann begutachtet, der in das Dorf kommt und Fragen stellt, unangenehme Fragen, Fragen nach Gräbern, die bereits im Umland gefunden worden sind, Fragen nach dem Fest des Fürsten am Kriegsende, Fragen nach Einwohnern, die seitdem als verschollen gelten.

 

Als auch noch ein DDR-Flüchtling ins Dorf stolpert und eine junge Frau verschwindet, stehen endgültig die Geister der Vergangenheit vor der Tür, denn über dem Ort liegt ein dunkles Geheimnis, ein Ungeheuer, das seit Jahrzehnten schläft und niemals geweckt werden sollte.

 

Nicht leicht verfalle ich in Überschwang – aber mein Jahreshighlight ist bereits gefunden! Besser kann es nicht mehr werden.

 

Was für ein intensiver, atmosphärischer und stilistisch brillanter Roman!

 

Wie bei einer Ausgrabung wird mühsam Schicht für Schicht von der Geschichte abgetragen, bis man in eine Tiefe vorstößt, die einen ängstigt. Ganz unten, da schlummert eine kollektive Erinnerung an ein Verbrechen, das ungesühnt geblieben ist und sich zur kollektiven Schuld eines ganzen Ortes ausgewachsen hat.

 

Brillant sind die Verstrickungen jedes einzelnen Dorfbewohners in die Geschichte des Nationalsozialismus verwoben. Die Charaktere werden so plastisch dargestellt, so lebendig und lebensnah, durch Sprechweisen und Dialekte, durch Wünsche, Ängste und Handeln, durch Lügen, Betrügen und Erpressen, durch Verheimlichen und Totschweigen, dass sie sich in ihrer ganzen Fülle aus dem Papier erheben und als Lebewesen aus Fleisch und Blut vor einem stehen.

 

Das Thema ist natürlich kein neues, es geht um die Zeit des Nationalsozialismus, um den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sowie die Verdrängungsmechanismen einer ganzen Generation, in der sich keiner erinnern möchte, in der jeder vorgibt, nur ein kleines Rädchen gewesen zu sein, nur Befehle ausgeführt zu haben, einer Generation, in der Erinnerung erst mit dem eigenen Leid einsetzt und das Leid so vieler anderer ausgespart wird. Doch die Komposition, in der sich die einzelnen Fäden zu einem beinahe undurchsichtigen Knäuel verdichten, als auch die bildhafte und ausdruckstarke Sprache, die ironisch gebrochen und mit ihren Mitteln das große Schweigen beschreibt, machen den Roman einzigartig und lassen ihn aus seinesgleichen herausragen.

 

Auch wenn Dunkelblum eine fiktive Geschichte darstellt, beruhen die Ereignisse auf den Vorfällen in Rechnitz kurz vor Kriegsende, ein Ort, der beinahe wie kein zweiter für die Schuld einfacher Bürger steht. Ein Ort, in dem bis heute über die Gräueltaten geschwiegen wird und es immer wieder Versuche gibt, die Massengräber ausfindig zu machen.

 

„Dunkelblum“ ist ein aufreibender, wahrer und verdichteter Roman, wie ich ihn lange nicht mehr gelesen haben.

 

Und so bleibt mir nur den Aufruf: Legt alle Bücher beiseite und lest diesen Roman!

 

 

 

Eva Menasse: Dunkelblum

Roman

Hardcover, 528 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2021

 

Jahresrückblick 2021

Schon wieder winkt das Jahresende und bevor Miss Sophie ihren Butler James übers Parkett scheucht, soll einmal innegehalten und auf das vergangene Lesejahr zurückgeblickt werden.

 

Abermals bin ich in unzählige Welten hinabgestiegen, habe dutzende Leben gelebt, hunderte Erfahrungen gesammelt und tausende Male mitgelitten und gelacht. Aus den quadrillionen gelesener Romane in diesem Jahr habe ich die hervorragendsten Titel herausgepickt, 8 Titel, die mich ungemein begeisterten, die etwas in mir bewegten und die ich deshalb uneingeschränkt empfehlen möchte.

 

Deswegen hier eine kleine, aber feine Auslese dieses Jahres - natürlich wie immer nach ganz objektiven Richtlinien! Und mit Klick auf das Foto gelangt ihr zur ganzen Rezension.

 

 

 

"APEIROGON"

von Colum McCann

 

Dies ist die Geschichte einer Freundschaft, wie sie ungewöhnlicher nicht sein könnte. Die Geschichte Ramis und Bassams, der eine Isreali und Jude, der andere Palästinenser und Muslim, vereint durch einen Schicksalsschlag, der ihr beider Leben veränderte. Ungewöhnlich mögen zunächst die kurzen Kapitel wirken, die meist aus wenigen Sätzen bestehen und immer neue Erzählfäden aufnehmen. Doch mit der Zeit verbinden sich die Fäden und weben ein einzigartiges Bild von der Geschichte und Gegenwart Palästinas und Israels, einer Region, die geprägt ist durch tiefen Hass, durch Kriege und Verbechen, durch Politiker und Gruppierungen, die von der stets befeuerten Gewalt und Eskalation profitieren, durch Terrorismus und Apartheidsystem. Wer Apeirogon gelesen hat, schaut mit verändertem Blick auf den Nahen Osten, denn dieser Roman ist eine Wucht!

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"IDENTITTI"

von Mithu Sanyal

 

Was genau ist eigentlich Identität? Wird sie einem von außen zugeschrieben? Wenn ja, von wem und auf welcher Grundlage? Oder sucht man sich selbst eine Identität aus? Darf man zwischen Identitäten wählen? Darf ich sein, wer ich sein möchte oder gibt es dabei Grenzen? Höchst amüsant dreht sich dieser Debütroman um Identitäten, selbstgewählten und aufoktroyierten, um das Gefühl und den Wunsch nach Zugehörigkeit und ums Ausgestoßensein. Er handelt von Rassismus und kultureller Aneignung, vom Spagat zwischen liberalem Weltbild und Cancel Culture, von Political Correctness und ausufernder Empörung, von Sex und Gender, Rollen und Zuweisungen, von der Gesellschaft und ihrem Miteinander und das alles auf so spielend leichtem Wege, das man ungemein amüsiert und unterhalten wird, während einem der Kopf von all den Fragen schwirrt.

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"DIE UNSCHÄRFE DER WELT"

von Iris Wolff

 

Mit höchst eleganten und poetischen Sätzen lädt uns Wolff ein, auf ihrer melodischen und leichten Sprache die kurze, aber desto intensivere Geschichte einer deutsch-rumänischen Familie aus dem Banat zu durchfliegen. So leise, aber kraftvoll fügt die Erzählerin ein buntes Mosaik des letzten Jahrhunderts zusammen, von König Michael und den Wirren des Zweiten Weltkriegs, über die schreckliche Diktatur unter Ceaușescu und seiner Securitate bis hin zum Zerfall der Sowjetunion, so zart, aber ausdrucksstark erzählt sie über vier Generationen, über Wünsche, Ängste und Erinnerungen der Menschen, über Diktatur und Flucht, Heimat und Identität, dass man wahrlich mitgerissen wird. Ein bemerkenswerter Roman!

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"MR. LINCOLN & MR. THOREAU"

von Sebastian Guhr

 

Zwei Männer - zwei Kontrahenten. Der eine verlangt nach gesellschaftlichen Regeln, ficht für staatliche Gesetze und nimmt die Gemeinschaft in den Blick. Der andere flieht die Gesellschaft, lehnt den Staat ab und besinnt sich auf sich selbst. Zwei Lebensauffassungen prallen aneinander, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Denn was ist beim Lebensentwurf des Menschen höher zu bewerten? Die individuelle Freiheit oder der Gemeinschaftssinn? Steht über allem das Recht auf freie Entfaltung, auf absoluten Individualismus? Oder liegt der Zweck des Menschseins im Miteinander, in der Gemeinschaft, in einem Kollektiv, für das der Einzelne Opfer zu bringen hat? Der Roman ist für mich die Überraschung des Jahres und wirklich ein Lesehighlight, das nicht nur auf sehr kluge Weise unterhält, sondern auch die heutige Zeit spiegelt und reflektiert.

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"DAS PARADIES MEINES NACHBARN"

von Nava Ebrahimi

 

Drei Männer und eine Frage: Wer von ihnen ist Ali Najjar? Verschlungen erzählt Nava Ebrahimi über Krieg, Flucht und Ankommen in einer fremden Welt. Schonungslos wird der Krieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren dargestellt, die Schrecken und Gräueltaten, der Chemiewaffeneinsatz des Iraks, gefördert durch westliche Staaten. Rücksichtlos wird von den Kindersoldaten des Irans berichtet, die in der Schule indoktriniert wurden, als Märtyrer auf den Schlachtfeldern zu sterben und deswegen als menschliche Minenräumer herhalten mussten. Vor dem Leser breitet sich ein aufwühlendes Verwirrspiel aus, denn die Leben der drei Männer verzahnen sich zusehends, greifen ineinander und aufeinander über. Zugleich versetzt die Geschichte dem Leser einen Faustschlag in den Magen. Und doch liest man rastlos weiter und möchte nur eines wissen: Wer verdammt nochmal ist Ali Najjar?

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"ICH BLEIBE HIER"

von Marco Balzano

 

Im Kleinen ist dies die Geschichte Grauns, eines Dorfes, das dem Untergang geweiht ist. Im Großen ist es eine Erzählung über die Zerrissenheit von Einwohnern, die zwischen den Grenzen stehen, keiner Nation zugehören, kein Land ihr eigen nennen, Menschen, deren Kultur unterdrückt und ausgelöscht werden soll, die seit Jahrhunderten das Land kultivierten und nun Fremde sind, Minderheiten in Nationalstaaten, gezwungen sich anzupassen oder zu fliehen. Der nüchterne, klare und einfache Stil  stellt die Geschichte umso größer heraus, eine Geschichte, die von Unterdrückung und Widerstand handelt, von Mut, Willenskraft und Trotz, von Heimat, Verlust und Vergänglichkeit, ein beeindruckender Roman über Südtirol, dessen Geschichte die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert widerspiegelt.

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"FRANKENSTEIN IN BAGDAD"

von Ahmed Saadawi

 

Ein Monster geht um. Es ist der Tod, der auf leisen Sohlen Verbrecher jagt. Doch wer steckt hinter dem selbsternannten Rächer? Dieser klug inszenierte Roman erzählt über das Bagdad von 2005 und schenkt einen tiefen Einblick in das Alltagsleben eines von Diktatur und Krieg gebeutelten Landes. Ein Leben, das nunmehr von Angst und Misstrauen kontrolliert wird. Es ist die Geschichte über einen niemals endenen Kreislauf, in dem Morde neue Morde nach sich ziehen, Täter zu Opfer werden und Opfer zu Tätern, die Geschichte einer endlosen Gewaltspirale, in der vergossenes Blut immer wieder nach neuem Blut schreit und der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld verwischt. Mit tiefschwarzem Humor entsteht ein polyphones Bild, eine Parabel auf die Missstände der Gesellschaft,  die oft schmunzeln und im nächsten Moment erschaudernd zusammenzucken lässt.

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"DAS PERFEKTE GRAU"

von Salih Jamal

 

Was für ein poetischer, einfühlsamer und durchaus wahrer Roman!? Ein Roadtrip, der die Zerbrechlichkeit des Lebens gefühlvoll vor Augen führt. So unterschiedlich die Charaktere auch sein mögen, so vereint sie doch die Flucht. Die Flucht vor der Vergangenheit, die Flucht vor sich selbst und den inneren Dämonen, aber auch die ewige Suche nach Sinn, die Suche nach Heimat, Akzeptanz und vor allem: die Suche nach sich selbst. Genau darum kreist der Roman, in dessen Inneren schließlich die Freundschaft aufblitzt. In zarten Tönen wird die ständige Reise in diesem Leben zum Erklingen gebracht, jene Reise, an deren Ende man hofft, sich selbst zu finden und endlich diese ewige Leere im Herzen zu füllen.

 

 

 

...liest gerade "Ameisig" von Charlie Kaufman

Ein nach Bestätigung gierender Filmkritiker, der mit der Zeit gehen will.

Ein afroamerikanischer Greis, der den längsten Film aller Zeiten gedreht hat.

Ein Feuer, in dem ein einzigartiges Lebenswerk in Flammen aufgeht.

Und eine unvergleichliche, alles in den Schatten stellende Höllenfahrt quer durchs Gehirn, aus der niemand hervorkommt, wie er hineingelangt ist.

 

Der neurotische Filmkritiker B. Rosenberg ist zeit seines Lebens auf der Suche nach dem großen Durchbruch. Da der gesellschaftliche Wind gedreht hat und nun gegen alte, weiße Männer wie ihn stürmt, hat er sich nicht nur eine afroamerikanische Freundin zugelegt, mit der er stets prahlt, sondern achtet auch sehr darauf, dass man ihn korrekt anredet, nämlich so, wie er seine Artikel verfasst – genderneutral.

 

Eines Tages lernt er auf einer Reise seinen Nachbarn kennen, einen uralten Afroamerikaner, der im Laufe seines 120 Jahre alten Lebens einen Film von 3 Monaten Spiellänge gedreht hat. Rosenberg widmet sich fortan jede wache Sekunde dem Schauen des Films und ist begeistert. Genau dies scheint das Meisterwerk zu sein, das er suchte, noch unveröffentlicht und von niemandem gesehen. Sein Ruhm leuchtet bereits am Firmament.

 

Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Während der Vorführung stirbt nicht nur der alte Mann, sondern bei Rosenbergs Versuch, die Filmspulen mitzunehmen, fangen diese auch noch Feuer und verbrennen. Nichts bleibt übrig, als Rosenbergs Erinnerungen daran. Nun liegt es an ihm, den Film zu retten, indem er jede einzelne Szene seinen Erinnerungen entreißen will. Doch kann das bei solch einem langen Film gelingen? Und projiziert er eigentlich dabei den Film aus seinen Erinnerungen heraus oder wird er doch in den Film hineingezogen und verschluckt?

 

Zu diesem Roman lässt sich eigentlich nur eines sagen:

WTF?! Also wirklich und wahrhaftig WTF!?

Was für ein absoluter Wahnsinn ist dieser Roman?!

Was für ein absoluter Strudel und Bruch mit allen Erzählkonventionen vom Regisseur von „Being John Malkovich“?!

 

Denn bis hierhin kann man der Handlung noch sehr gut folgen. Sie ist unglaublich witzig und ironisch, sie sprüht vor Sprachwitz und Intellekt, vor Schlagfertigkeit und Humor. Ein völlig verunsicherter alter weißer Mann, der seine Privilegien abgeben möchte, sich weltkundig gibt und doch in jedes Fettnäpfchen tappt, ein einsamer Mensch, der nach Akzeptanz trachtet und doch allen Leuten vor den Kopf stößt. Ein ungemeiner Spaß über Vorteile und Vorurteile, über Gender, Sex, Trends, Sprache, Hauptfarbe und so vieles mehr, bis der Film verbrennt und ein undurchdringbarer Wust an Illusionen, Träumen, Erinnerungen, Scheinrealitäten, Abstraktem und Wahnsinnigem entsteht, dem niemand folgen kann. Völlig absurd – also wirklich völlig absurd drehen sich die Betrachtungen Rosenbergs und sein Handeln in einer Spirale des völligen Wahnsinns, der jede Konventionen sprengt. Hat am Ende vielleicht gar Brainio damit zu tun, dieses Fernsehen aus der Zukunft, das im Kopf stattfindet?

 

Auch wenn viele Episoden weiterhin unheimlich belustigend sind, weil es so absurd, so erfrischend und im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar ist, war die Lektüre auf Dauer, sprich auf über 800 hunderten Seiten doch manches Mal schwer zu ertragen.

 

Wer einmal etwas völlig anderes lesen möchte – und ich meine wirklich, etwas völlig anderes, dem sei der Roman ans Herz gelegt. Gewiss ist dabei nur, dass man als ein völlig anderer aus dieser Geschichte auftauchen wird.

 

„Ameisig“ ist dieses Jahr im Hanser Verlag erschienen und genial von Stephan Kleiner übersetzt worden.

 

 

Charlie Kaufman: Ameisig

Roman, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner

Hardcover, 864 Seiten

Hanser Verlag, München 2021

 

...liest gerade "Identitti" von Mithu Sanyal

Sage mir, woher du kommst, und ich sage dir, wie braun du bist.

 

Was für ein Skandal!

Die von ihren Studenten vergötterte Professorin für Postcolonial Studies ist entlarvt.

Saraswati, aus Indien stammende Person of Colour, ist nicht, was sie zu sein vorgibt.

Ihre Identität ist geklaut, ist erstunken und erlogen – denn sie ist weiß!

 

Nivedita ist voller Vorfreude auf ihren Masterstudiengang in Düsseldorf. Die sagenumwobene Saraswati wird eine ihrer Professorinnen, jene Inderin, die den ganzen universitären Betrieb mit ihren Methoden auf den Kopf stellt. Ihr Charisma, Ihre Eloquenz und Stärke beeindrucken Nivedita, die, selbst halb indisch und polnisch, endlich ein Rolemodel gefunden zu haben scheint, nach dem sie sich so lange sehnte.

 

Doch dann kommt die Wahrheit ans Tageslicht und Niveditas Welt zerbricht. Desillusioniert versucht sie Antworten zu finden und begibt sich zu ihrer einstigen Professorin, um sie zu stellen. Doch statt Antworten zu finden, prasseln nur noch mehr Fragen auf sie ein, Fragen, die ihr den Kopf verdrehen, Fragen nach Identität und Selbstbestimmung. Denn was ist eigentlich Identität? Und wer oder was bestimmt sie?

 

Über kaum einen anderen Roman wurde dieses Jahr so viel geredet und geschrieben, kaum ein anderer Roman wurde so überschwänglich gelobt und teilweise hart kritisiert wie „Identitti“. Obwohl ich solchen meist schnelllebigen Hypes skeptisch gegenüberstehe, hat mich die fabelhafte Lesung Mithu Sanyals in Freiburg doch dazu gebracht, das Buch zur Hand zu nehmen…welch ein Glück!

 

Denn der Roman ist in der Tat großartig und kreist um die Fragen unserer Zeit. Allen voran handelt er von Identitäten, selbstgewählten und aufoktroyierten, von Gruppen, zu denen der Beitritt erlaubt oder verweigert werden kann, vom Gefühl und Wunsch nach Zugehörigkeit und vom Ausgestoßensein.

 

Er handelt von Rassismus und Kulturalismus, deren Wurzeln tiefer als bis zum Kolonialismus reichen, handelt von kultureller Aneignung und zersetzenden Machtstrukturen, die immer mehr aufweichen, vom Spagat zwischen liberalem Weltbild und Denk- und Meinungsverboten, die dieses trotz allem begleiten. Er handelt von Cancel Culture im Zuge überbordender Political Correctness, von der ausufernden Empörung, die in Zeiten von Social Media, wo Hate Speech und Shitstorms toben, zur Hexenjagd verkommt, von Sex und Gender, Rollen und Zuweisungen, von der Gesellschaft und ihrem Miteinander und das alles auf so spielend leichtem Wege, das man ungemein amüsiert und unterhalten wird, während einem der Kopf von all den Fragen schwirrt.

 

„Identitti“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und hat mehrere Auszeichnungen gewonnen. Erschienen ist der Roman in Hanser Literaturverlage und verdient eine klare Leseempfehlung.

 

 

 

Mithu Sanyal: Identitti

Roman

Hardcover, 432 Seiten

Hanser Verlag, München 2021

 

...liest gerade "Mr. Lincoln & Mr. Thoreau" von Sebastian Guhr

Zwei Männer - zwei Kontrahenten.

Der eine verlangt nach gesellschaftlichen Regeln, ficht für staatliche Gesetze und nimmt die Gemeinschaft in den Blick.

Der andere flieht die Gesellschaft, lehnt den Staat ab und besinnt sich auf sich selbst.

Zwei Wege – zwei Berühmtheiten – und ein Frage.

 

Abraham Lincoln ist Ende 20, mittel- und ruhelos, als er in einer weit entfernten Kanzlei anheuert. Nachdem er sich als Arbeiter, Landvermesser und Politiker versucht hat, verbeißt er sich in Paragraphen. Planlos scheint er durchs Leben zu irren, ohne rechten Halt, bis er schließlich einer Depression verfällt. Erst der Aufsatz eines scheinbar Verrückten entfacht das Feuer, das ihn letztlich bis ins Weiße Haus voran peitschen wird.

 

Thoreau gilt in seiner Stadt schon lange als entrückt, aber als er eine Hütte im Wald baut, um dort in Einsamkeit und völliger Freiheit zu leben, gilt er als geisteskrank. Er will aus der Gesellschaft aussteigen, lehnt den Staat ab und wird schließlich von diesem verfolgt und eingekerkert. Als seine Familie ihn freikauft, lehnt er sich gegen den Obrigkeitsstaats auf und verfasst seinen berühmten Aufsatz „Über die Pflicht zum Ungehorsam“.

 

Lincoln und Thoreau, zwei Gegenwichte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Durch sie prallen zwei Lebensauffassungen aneinander, die sich diametral und unversöhnlich gegenüberstehen. Und doch eint beide die Suche nach Sinn und einem Platz im Leben.

 

Sebastian Guhr, der Gewinner des Blogbuster Preises 2018, hat mit seinem zweiten Roman einen wirklich großen Wurf gelandet, der nicht nur verborgene Seiten der beiden Berühmtheiten ins Scheinwerferlicht stellt, sondern auch Fragen zu unserer Lebensweise aufwirft. Denn was ist beim Lebensentwurf des Menschen höher zu bewerten? Die individuelle Freiheit oder der Gemeinschaftssinn? Steht über allem das Recht auf die freie Entfaltung, auf absoluten Individualismus? Oder liegt der Zweck des Menschseins im Miteinander, in der Gemeinschaft, in einem Kollektiv, für das der Einzelne Opfer zu bringen hat?

 

„Mr. Lincoln und Mr. Thoreau“ ist für mich die Überraschung des Jahres und wirklich ein Lesehighlight, das nicht nur auf sehr kluge Weise unterhält, sondern auch die heutige Zeit spiegelt und reflektiert.

 

 

 

Sebastian Guhr: Mr. Lincoln und Mr. Thoreau

Roman

Hardcover, 192 Seiten

S. Marix Verlag, Wiesbaden 2021

 

...liest gerade "Das perfekte Grau" von Salih Jamal

Tecum sunt quae fugis.

Das müssen auch Dante, Mimi, Novelle und Rufus einsehen.

Doch als sie sich öffnen, gewinnen sie mehr, als sie je zu träumen wagten.

 

Es ist Dantes zweite Saison in dem Hotel am Meer. Immer noch träumt er von dem Sprung, der ihn von der Last des Lebens befreit hätte, aber doch nicht wagte. Sieben Jahre sind seitdem vergangen, sieben Jahre, in denen er umherirrte und schließlich an den Strand dieses Hotels gespült wurde.

 

Des Lebens Wogen trugen auch Mimi, Novelle und Rufus an ebendiesen Strand, in ebendieses Hotel. Mit einem gemeinsamen Ausflug auf die nahgelegene Robbeninsel wird jedoch plötzlich ein neues Kapitel in ihrer aller Geschichten aufgeschlagen. Denn als sie zurückkehren und Polizisten erspähen, die vor dem Hotel jemanden zu suchen scheinen, begeben sie sich auf eine Reise, die ihr Leben verändern wird.

 

Mit „Das perfekte Grau“ hat Salih Jamal einen sehr poetischen, einfühlsamen und durchaus wahren Roman geschrieben, einen Roadtrip, der die Zerbrechlichkeit des Lebens gefühlvoll vor Augen führt. So unterschiedlich die Charaktere auch sein mögen, so vereint sie doch die Flucht. Die Flucht vor der Vergangenheit, die Flucht vor sich selbst und den inneren Dämonen, aber auch die ewige Suche nach Sinn, die Suche nach Heimat, Akzeptanz und vor allem: die Suche nach sich selbst.

 

Und genau darum kreist der Roman, in dessen Inneren schließlich die Freundschaft aufblitzt. In zarten Tönen wird die ständige Reise in diesem Leben zum Erklingen gebracht, jene Reise, an deren Ende man hofft, sich selbst zu finden und endlich diese ewige Leere im Herzen zu füllen. Es geht um die Lust zu fliegen und die gleichzeitige Angst zu fallen, aber auch um die Vergangenheit, jene Geschichte, die sich tief in die Seele eingeschrieben hat und die man nicht einfach wie eine Schneeflocke von sich abschütteln kann.

 

In vielen Buchblogs mit Begeisterungstürmen gefeiert, mochte ich den Roman trotz vereinzelt zäher Stellen ebenfalls sehr gern. Besonders die poetische Erzählweise sticht aus dem sonst so oft in Werkstätten geschulten Einheitsredefluss heraus.

 

„Das perfekte Grau“ ist ein wunderbarer Roman, besonders für alle, die Herrendorfs „Tschick“ lieben.

 

 

 

Salih Jamal: Das perfekte Grau

Roman

Hardcover, 240 Seiten

Septime Verlag, Wien 2021

 

...liest gerade "Das Paradies meines Nachbarn" von Nava Ebrahimi

Drei Männer, ein Name.

Der erste wohnt im Iran und lebt von den Ersparnissen seiner toten Pflegemutter.

Der zweite lebt in München und befindet sich mitten in der Midlife Crisis.

Der letzte floh als Kind vor dem Krieg und ist nun erfolgreicher Designer.

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und beanspruchen doch dieselbe Identität.

 

Ali Najjar ist ein Macher. Er hat die Schrecken des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak als Kindersoldat überlebt, ist durch vermintes Gebiet gestolpert, getrieben von der Armee, die ihn dazu antrieb, als Märtyrer zu sterben. Während um ihn herum Freunde zerfetzt wurden, entkam er nur durch Handlungsschnelle dem Giftgas Saddam Husseins und floh über die Türkei nach Deutschland.

 

Als er sich mit 14 in einem Kofferraum versteckte und sich aus Angst um sein Leben einnässte, schwur er sich, nie wieder Opfer zu sein, nie wieder Schwäche zu zeigen. Die prägenden Kriegs- und Fluchterlebnisse bilden seinen Antrieb, der ihn in Deutschland als Designer ganz nach oben brachte. Die Medien reißen sich um ihn wegen seiner Geschichte und seines Aufstiegs. Ali Najjar scheint unverwüstlich.

 

Es ist ein Brief, der plötzlich die Betonmauer sprengt, die er um sich herum gezogen hat. Ein Brief, der ihn in Aufregung und Angst versetzt. Auf einmal bestürmen ihn Schuldgefühle, seine Fassade bröckelt, bricht und reißt. Der Brief stammt von seiner Mutter, die vor einem Jahr verstorben ist und ihn nun an die wahre Geschichte seines Lebens erinnert. Eine Geschichte, die ein anderer für ihn erleben musste.

 

Verschlungen erzählt Nava Ebrahimi über Krieg, Flucht und Ankommen in einer fremden Welt. Schonungslos wird der Krieg zwischen Iran und dem Irak in den 1980er Jahren dargestellt, die Schrecken und Gräueltaten, der Chemiewaffeneinsatz des Iraks, gefördert durch westliche Staaten, die an Chemikalien und Waffen fürstlich verdienten. Rücksichtlos wird von den Kindersoldaten des Irans berichtet, die in der Schule indoktriniert wurden, als Märtyrer auf den Schlachtfeldern zu sterben und deswegen als menschliche Minenräumer herhalten mussten.

 

Die in Teheran geborene Schriftstellerin breitet vor dem Leser ein aufwühlendes Verwirrspiel aus, denn die Leben der drei Männer verzahnen sich zusehends, greifen ineinander und aufeinander über. Zugleich versetzt die Geschichte dem Leser einen Faustschlag in den Magen, der sich zusammenzieht und verkrampft. Und doch liest man rastlos weiter und möchte nur eines wissen: Wer verdammt nochmal ist Ali Najjar?

 

Nava Ebrahimi hat mit ihrem Text "Der Cousin" den diesjährigen Bachmann Preis gewonnen. "Das Paradies meines Nachbarn" erschien letztes Jahr im btb Verlag und ist für mich ein absolutes Highlight dieses Jahres!

 

 

 

Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn

Roman

Hardcover, 224 Seiten

btb Verlag, München 202o

 

 

...liest gerade "Kleine Paläste" von Andreas Moster

Es ist ein berauschendes Fest.

Carl ist wie immer der Mittelpunkt aller Gäste und neidisch richten sich die Blicke auf ihn und seine Familie, die so gut zu harmonieren scheint.

Es soll ein Neuanfang werden.

Es wird eine Katastrophe.

 

Fast 32 Jahre später sehen sie sich auf dem Begräbnis seiner Mutter wieder. Hanno hat sie nie vergessen, Susanne, seine erste Liebe. Als Kinder waren sie unzertrennlich, als Jugendliche dann der erste Kuss auf dem Fest seiner Eltern. Hanno verliebte sich unsterblich in sie, doch am nächsten Tag stachen ihm nur ausdruckslose Augen entgegen. Entmutigt verschwindet Hanno kurz darauf für beinahe 30 Jahre und kehrt erst heim, als die Mutter stirbt.

 

Sein einst so strahlender Vater Carl ist inzwischen an Alzheimer erkrankt. Seine Welt und er selbst verschwinden unter einem Schleier, der nie mehr gelüftet werden soll. Nun liegt es an Hanno, sich um ihn zu kümmern, und erstaunlicherweise kriecht Susanne aus ihrem Kinderzimmer im Nachbarhaus hervor, das sie nach dem Selbstmord des Vaters und dem Tod der Mutter immer noch bewohnt.

 

In elliptischen Bahnen nähern sich Hanno und Susanne an, rotieren um Carl, der sie wie ein Atomkern miteinander verbindet. Ihre Lebensenttäuschungen reichen weit zurück, zurück zu jenem Tag, als Hannos Familie das prunkvolle Fest gab und etwas geschah, das niemals hätte geschehen dürfen.

 

Andreas Moster hat eine verschlungene Familiengeschichte erzählt, deren Stricke klug inszeniert und miteinander verflochten sind. Mit sezierendem Blick stellt er die familiären Banden dar, denen man sich nicht entziehen kann, vor denen man nicht flüchten kann, die einen bis zum Tode binden und womöglich noch darüber hinaus halten. Familien werden als kleine Paläste dargestellt, die man unter größten Schwierigkeiten erbaut und instand hält, die nach außen strahlen und in deren Schein man sich einrichtet, die allerdings durch ein wenig Wahrheit und Aufrichtigkeit zerbersten würden.

 

Durch bildhafte Vergleiche und wiederkehrende Perspektivwechsel entfädelt sich die Geschichte vor den Augen des Lesers, der durch familiäre Abgründe und Lebenslügen gerissen wird, bis er zum Innersten gelangt, auf das er verschämt und erschrocken blickt.

 

„Kleine Paläste“ ist poetisch und melancholisch, schrecklich und zugleich zutiefst menschlich.

 

 

Vielen Dank an den Arche Verlag für das Rezensionsexemplar!

 

Andreas Moster: Kleine Paläste

Roman

Hardcover, 304 Seiten

Arche Verlag, Zürich Hamburg 2021

...liest gerade "Ich bleibe hier" von Marco Balzano

Es ist der Brief einer Mutter an die Tochter.

Ein Brief über die Schrecken des letzten Jahrhunderts, über die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten.

Ein Brief über den Zweiten Weltkrieg und den Untergang eines ganzen Dorfes.

Es ist ein Brief, der niemals ankommen wird.

 

Trina wohnt in Graun, ein idyllisches Dorf in Südtirol an der Grenze zu Österreich und der Schweiz. Das Leben ist einfach, aber unbeschwert. Doch mit dem Einmarsch von Mussolinis Schwarzhemden 1923 beginnt eine Odyssee, die im wahrsten Sinne des Wortes im Untergang endet.

 

Die deutsche Sprache wird verboten, die Deutschsprechenden unterdrückt. Immer mehr italienische Siedler strömen in die Region und übernehmen wichtige Funktionen und Ämter. Es geht ein Riss durch die Gesellschaft, der nicht mehr zu kitten ist. Viele Einwohner setzen deswegen ihre Hoffnung auf Hitler. Doch dadurch verästelt sich der Riss in der Gesellschaft nur noch mehr und sprengt neue Gräben, denn nicht alle sind so euphorisch ob des neuen Führers.

 

Es ist aber nicht nur die Weltpolitik, die das Dorf in Atem hält. Es ist auch das verhasste Projekt Mussolinis, an dem die Jahrzehnte hindurch immer weiter gearbeitet wird. Ein Staudamm soll vor den Häusern Grauns entstehen. Ein Staudamm, der Energie liefern soll. Ein Staudamm allerdings, der das Ende Grauns besiegeln würde.

 

Marco Balzano hat mit "Ich bleibe hier" einen beeindruckenden Roman über Südtirol geschrieben, dessen Geschichte die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert widerspiegelt.

 

Geschildert wird besonders die Zerrissenheit von Einwohnern, die zwischen den Grenzen stehen, keiner Nation zugehören, kein Land ihr eigen nennen, Menschen, deren Kultur unterdrückt und ausgelöscht werden soll, die seit Jahrhunderten das Land kultivierten und nun Fremde sind, Minderheiten in Nationalstaaten, gezwungen sich anzupassen oder zu fliehen.

 

Der nüchterne, klare und einfache Stil des Briefes stellt die Geschichte umso größer heraus, eine Geschichte, die von Unterdrückung und Widerstand handelt, von Mut, Willenskraft und Trotz, von Heimat, Verlust und Vergänglichkeit, die letztendlich alles mit sich reißt.

 

Graun, das Dorf am Dreiländereck existierte wirklich und ist nunmehr Touristenattraktion. Zu Füßen des wiederauferbauten Grauns liegt das alte Dorf mitten in einem Stausee, aus dem nur noch der Kirchturm herausragt, als Mahnung der Nachwelt, als Belustigung von Touristen.

 

Mit seinem Roman hat Balzano der Stadt, der Region und damit den einstigen Minderheiten in den Nationalstaaten ein Denkmal gesetzt.

 

 

 

Marco Balzano: Ich bleibe hier

Roman, aus dem Italienischen von Maja Pflug

Hardcover, 288 Seiten

Diogenes Verlag, Zürich 2020

...liest gerade "Unterleuten" von Juli Zeh.

Unterleuten, ein Dorf in Brandenburg, fern ab von der großen Politik und jeglichem Medieninteresse. Ein Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, in dem Stress, Hektik und Konflikte wie Fremdwörter aus Großstädten anmuten. Ein Dorf, das unberührte Natur bietet und gar junge Leute aus Berlin anzieht, die auf dem Land endlich die Ruhe zu finden hoffen, die die lärmende Stadt ihnen nicht mehr bieten kann.

Unterleuten, ein Idyll, in dem es unter der pittoresken Fassade gärt und schließlich zum Äußersten kommt.

 

Als der Bau eines Windparks im Raum steht, bröckelt die Fassade und unter den Rissen schimmert der wahre Charakter des Dorfes hervor. Dieses pflegt nämlich seine ganz eigenen Gesetze. Die Bewohner sind durch gegenseitige Gefälligkeiten miteinander verbandelt, so dass ein undurchschaubares Geflecht von Beziehungen das Dorf durchzieht, bestehend aus Schuld und Scham, zersetzt durch Klatsch und Tratsch. Komplotte werden geschmiedet, falsche Spiele gespielt, arglistige Fährten gelegt und innere Angelegenheiten ohne die Polizei geregelt. Und so ist es kein Wunder, dass die Seilschaften innerhalb des Dorfes als wichtigstes Standbein gelten. Als der Streit um den Windpark schließlich eskaliert, werden verborgene Leichen zutage gefördert, die das Dorf umwälzen.

 

Nachdem alle den Roman bereits gelesen haben, habe auch ich ihn mir endlich zur Brust genommen. Und was soll man noch dazu sagen?

 

"Unterleuten" ist der wohl bekannteste und erfolgreichste Roman Juli Zehs. Letztes Jahr konnte man die Verfilmung bestaunen, dieses Jahr erschien bereits mit "Über Menschen" ein ähnlich gestrickter inoffizieller Nachfolger.

 

Die Geschehnisse rund um das fiktive Dorf sind unterhaltsam erzählt. Einzelschicksale werden ineinander verflochten, Begebenheiten nach und nach miteinander verzahnt und Eigeninteressen gegeneinander ausgespielt. Durchleuchtet wird das Dorfleben, in dem jeder Einwohner sein Fett wegbekommt. Alteingesessene, die sich gegen alles Neue zur Wehr setzen, die vordergründig freundlich erscheinen und im Keller ihre Leichen stapeln, genauso wie Dazugezogene, die das Landleben nicht kennen, völlig blauäugig und naiv von der Stadt aufs Dorf ziehen und eine Idylle suchen, die nur als Utopie großstädtischer Ruhesuchender besteht.

 

Es ist aber auch die Geschichte Ostdeutschlands, dessen Firmen und Industrie, dessen Brach- und Landflächen nach der Wiedervereinigung aufgekauft wurden und somit Wendegewinner hervorbrachten, von denen die meisten aus dem Westen stammten.

 

Auch wenn ich das Ende übertrieben fand und sich der Epilog für mich gar nicht in die Erzählstruktur einfügte, empfand ich die Lektüre als sehr gute Unterhaltung, eine anschauliche und belustigende Darstellung von Menschen, die mit- und gegeneinander handeln, angetrieben durch unterschiedliche Eigenmotivationen und Ansichten. Nicht äußerst gehaltvoll, aber äußerst amüsant und unterhaltsam.

 

 

 

Juli Zeh: Unterleuten

Roman

Hardcover, 642 Seiten

Luchterhand Literaturverlag, München 2016

...liest gerade "2666" von Roberto Bolaño

Vier Gemanisten auf der Suche nach einem Schriftsteller.

Ein Journalist auf der Suche nach Freiheit und Liebe.

Mehrere Kommissare auf der Suche nach einem Massenmörder.

Und mittendrin der geheimnisvolle Schriftsteller Benno von Archimboldi, bei dem sich alle Wege zu kreuzen scheinen.

 

Hans Reiter, besser bekannt als Benno von Archimboldi, ist verschollen. Vier Germanisten aus Frankreich, Spanien, Italien und England begeben sich auf die Suche nach dem mysteriösen deutschen Schriftsteller, der mittlerweile sogar für den Nobelpreis gehandelt wird. Ihre Reise führt sie bis nach Mexiko, wo sie in Santa Teresa von einer Reihe von Frauenmorden erfahren.

 

Der amerikanische Journalist Quincy Williams fliegt ebenfalls nach Mexiko, um über einen Boxkampf in ebenjener Stadt zu berichten. Vor Ort lernt er die junge Rosa kennen, in die er sich verliebt. Nach einer durchzechten Nacht mit Gestalten aus der mexikanischen Halbwelt müssen sie jedoch fliehen. Sind sie vielleicht auf die Spur eines Massenmörders gestoßen?

 

Mehrere Kommissare und Polizisten gehen den endlosen Morden rund um die Stadt Santa Teresa nach. Es herrscht ein Klima der Gewalt und Angst vor. Oftmals entpuppen sich die Ehemänner als kaltblütige Mörder, bei vielen anderen Verbrechen erscheint jedoch ein Muster, das auf einen Massenmörder hinweist, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Ein Deutscher wird schließlich verhaftet und für die Morde schudig gesprochen. Doch was hat dieser Klaus Haas mit Benno von Archimboldi zu tun?

 

Wem diese hier nur kurz angedeuteten Verknüpfungen jetzt schon argwöhnisch und abstrus erscheinen, dem sei versichert: Die Geschichte ist in Wirklichkeit noch viel abstruser und in ihrer Gesamtheit kaum zu fassen.

 

Der große Roman des zu jung verstorbenen Roberto Bolaño ist ausufernd. Schon allein mit seinen knapp 1200 Seiten ist es ein Opus magnum. Mit viel Witz, Erzähllust und Fabulierwahn entwirft der chilenische Schriftsteller hier eine Geschichte, in der alles mit allem zusammenhägt, in der Ereignisse und Situationen sich gegenseitig bedingen und alles miteinander verflochten scheint. Die fünf Bücher des Romans, die nach dem letzten Willen Bolaños eigentlich einzeln erscheinen sollten, hängen allerdings nur lose miteinander zusammen und so sehen wir frei nach Brecht am Ende betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.

 

Fand ich den Anfang um die Germanisten noch großartig, besonders den feinsinnigen Witz, mit dem die Beziehung der Germanisten untereinander und das Universitätsleben im Allgemeinen beschrieben wird, und entflammte mein Herz geradezu vom Sujet, das vor allem um (deutsche) Literaturgeschichte kreist, flaute das Leseerlebnis bei der weiteren Lektüre jedoch rasch ab. Besonders der vierte Teil, der zugleich den ausuferndsten darstellt, eine Aneinanderreihung dutzender Frauenmorde oft im Stile trockener Polizeiberichte, wurde irgendwann so zäh und langweilig wie eine Vorlesung über den Büroalltag im öffentlichen Dienst.

 

Der so hochgelobte und gefeierte Roman von Bolaño konnte mich deswegen nur schwer begeistern. Allein der Beginn und das Ende vermochten mich mitzureißen, hunderte Seiten dazwischen wurden teilweise zu einer Qual. Auch wenn mit den Frauenmorden auf die Mordserie von Ciudad Juárez Anfang der 90er Jahre angespielt wird und dadurch ein realer Hintergrund existiert, bleibt für mich jedoch eine der größten Fragen, warum dieses eines der großen Werke der Weltliteratur sein soll.

 

"2666" erschien bereits 2004 im Original und 2009 als deutsche Übersetzung.

 

 

 

Roberto Bolaño: 2666

Roman, aus dem Spanischen von Christian Hansen

Taschenbuch, 1200 Seiten

Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011

...liest gerade "Apeirogon" von Colum McCann

Auf den ersten Blick trennen sie Welten.

Rami ist Israeli, Jude und Jerusalemer.

Bassam ist Palästinenser, Muslim, Araber.

Und doch sind sie Freunde, unmögliche Freunde.

Denn sie vereint ein Schicksalsschlag, der ihr Leben verändert.

 

Smadar ist ein junges Mädchen, beinahe vierzehn, eine ausgezeichnete Schülerin, Schwimmerin und Tänzerin, die Klavier und Jazz liebt. 1997 spaziert sie mit Freundinnen durch die Straßen im Zentrum Jerusalems, hört Musik und will Schulbücher kaufen. Da sprengen sich plötzlich drei Selbstmordattentäter neben ihr in die Luft und reißen Smadar in den Tod.

 

Auch Abir ist ein junges Mädchen, gerade einmal zehn. 2007 verlässt sie in der Pause das Schulgelände, um wenige Straßen weiter Süßigkeiten zu kaufen. Als sie aus dem Geschäft tritt, fällt ein gezielter Schuss. Ein Gummigeschoss trifft sie am Kopf, abgefeuert durch einen israelischen Soldaten. Wenig später verstirbt sie im Krankenhaus.

 

Das erste Gefühl der Väter ist Rache. Hass schäumt auf, Vergeltungsdrang, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch würde das etwas ändern? Würde es den Schmerz lindern? Die Töchter gar zurückbringen?

 

Rami sucht nach Antworten und tritt argwöhnisch der Organisation "Parents Circle" bei, einem palästinensisch-israelischen Forum für Hinterbliebene. Als er jedoch in das Gesicht einer Palästinenserin blickt, ändert sich sein Leben mit einem Schlag. Denn er erkennt, dass Israelis und Palästinenser derselbe Schmerz über den Verlust ihrer Kinder eint, dieselben quälenden Fragen, dieselbe Sinnlosigkeit dieses ewigen Krieges.

 

Auch Bassam hat seinen Hass abgelegt und möchte etwas verändern. Trotz immerwährender Schikane und Vertreibung, trotz Folter und Haftstrafe, die er durch die Israelis durchleben musste, öffnete ihm ein Film über den Holocaust die Augen. Nun will auch er versöhnen. Zusammen ziehen die ungleichen Freunde durch das Land und erzählen eindrücklich von ihren Kindern, gelenkt von der Hoffnung, mit ihren Geschichten zu einer besseren Zukunft beizutragen, zu einer Aussöhnung zwischen den Geschwistern des Nahen Ostens.

 

Apeirogon ist eine Wucht! Ungewöhnlich mögen zunächst die kurzen Kapitel wirken, die meist aus wenigen Sätzen bestehen und immer neue Erzählfäden aufnehmen. Doch mit der Zeit verbinden sich die Fäden und weben ein einzigartiges Bild von der Geschichte und Gegenwart Palästinas und Israels.

 

Eindrücklich liest man über den gegenseitigen Hass, über Kriege und Verbrechen. Über Politiker und Gruppierungen, die von der stets befeuerten Gewalt und Eskalation profitieren.

 

Kritisch wird aber vor allem das Apartheidssystem Israels dargestellt, das selbst Rami und seine Frau kritisieren und sich damit den Zorn konservativer Juden einhandeln.

 

Eindringlich sind daher die Beschreibungen eines besetzten Landes, das durch illegalen Siedlungsbau immer weiter von der Landkarte verschwindet, eindringlich sind die Beschreibungen von willkürlichen Schikanen gegenüber den Palästinensern, von Armut, den unüberwindbaren Mauern eines Freiluftgefängnisses, den ständigen Checkpoints und willkürlichen Kontrollen, ja dem brutalen Vorgehen israelischer Soldaten selbst gegen Kinder.

 

Die Geschichte Israels ist ohne die Shoa und den Holocaust nicht zu verstehen. Die Geschichte Palästinas allerdings auch nicht ohne die Nakba und die völkerrechtswidrige Besatzung. Dieser Tage überschlagen sich erneut die Ereignisse im Nahen Osten und es sterben wieder Menschen auf beiden Seiten, Kinder wie Smadar und Abir.

Im Roman gibt es dazu einen eindringlichen Appell, sowohl von Bassam als auch von Rami, ein Appell, der als erster Schritt zu einem möglichen Frieden verstanden wird. Ein Schritt, der längst überfällig ist:

 

"Beendet die Besatzung!"

 

 

 

Colum McCann: Apeirogon

Roman, aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Hardcover, 608 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2020

...liest gerade "Frankenstein in Bagdad" von Ahmed Saadawi

Ein Monster geht um.

Es ist der Tod, der auf leisen Sohlen Verbrecher jagt.

Doch wer steckt hinter dem selbsternannten Rächer?

Das neu gegründete Amt für Beobachtung und Beurteilung nimmt die Ermittlungen auf - mit Hellsehern und Astrologen.

 

Im Bagdader Viertel Batawin kennt man sich. Und doch misstrauen sich die meisten Einwohner, denn zwei Jahre nach dem Einmarsch der US Streittruppen herrscht Bürgerkrieg. Selbstmordanschläge überschatten die Gegend, reißen Menschen in den Tod und Gebäude in den Abgrund. Angst und Misstrauen sind zum prägenden Gefühl einer ganzen Stadt geworden. Doch mittendrin ereignen sich plötzlich seltsame Vorfälle. Einst skrupellose Menschen verschwinden und werden tot aufgefunden.

 

Der Trödelhändler Hadi erzählt eine Geschichte, die aufhorchen lässt, eine Geschichte über aufgelesene Leichenteile, die er zu einem vollständigen Körper zusammengesetzt haben will. Und wie Gott will, sei dieser Körper nun verschwunden. Ist sein Monster also tatsächlich lebendig geworden? Ist es wirklich verantwortlich für die neuste Mordserie? Oder treibt jemand anderes hinter dem Deckmantel des Mythos sein Unwesen?

 

In einem klug inszenierten und stark selbstreferentiellen Roman wird über das Bagdad von 2005 erzählt. Selbstmordanschläge gehören nach dem Einmarsch der US Truppen ebenso zum Alltag wie die Abneigung gegen die Amerikaner, die niemandem über ihr Vorgehen Rechenschaft ablegen müssen. Der aufflammende Bürgerkrieg vertieft die Gräben zwischen Religionen, Ethnien und Kulturen und spielt sich vor den Toren der neu zu ordnenden Politik ab, denn die Macht im Land wird neu verteilt, neue Ämter entstehen, neue Posten werden geschaffen und neue Zuständigkeiten vergeben. Und das weckt Begehrlichkeiten.

 

Die Erzählung schenkt einen tiefen Einblick in das Alltagsleben eines von Diktatur und Krieg gebeutelten Landes, das immer schon verschiedene Religionen, Ethnien und Kulturen beheimatete. Ein Leben, das nunmehr von Angst und Misstrauen kontrolliert wird. Es ist die Geschichte über einen niemals endenen Kreislauf, in dem Morde neue Morde nach sich ziehen, Täter zu Opfer werden und Opfer zu Tätern, es ist die Geschichte einer endlosen Gewaltspirale, in der vergossenes Blut immer wieder nach neuem Blut schreit und der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld verwischt.

 

Saadawis Roman hält der Bagdader Gesellschaft einen ebenso satirischen wie erschreckenden Spiegel vor, denn mit schwarzem Humor entsteht ein polyphones Bild des Iraks, geradezu eine Parabel auf die Missstände der Gesellschaft, eine Parabel, die oft schmunzeln und im nächsten Moment erschaudernd zusammenzucken lässt.

 

2014 mit dem International Prize for Arabic Fiction ausgezeichnet und 2018 für den Man Booker International Prize nominiert, erschien die deutsche Übersetzung 2019 im Assoziation A Verlag und ist absolut lesenswert.

 

 

 

Ahmed Saadawi: Frankenstein in Bagdad

Roman

Hardcover, 296 Seiten

Assoziation A, Berlin 2019

...liest gerade "Die Unschärfe der Welt" von Iris Wolff

Ein junges Ehepaar, das in ein abgelegenes Dorf zieht.

Zwei Fremde, die ein Geheimnis bergen.

Und eine Geschichte, die poetisch durch die Jahrzehnte fliegt.

 

Hannes, der gerne Fußball und Gitarre spielt, hat eine Pastorenstelle angenommen. Allerdings liegt das Dorf im Banat, einer Region zwischen Serbien, Rumänien und Ungarn, in die es nur wenige Menschen verschlägt. Zusammen mit seiner schwangeren Frau zieht er in das abgelegene Dorf. Die beiden Eheleute leben bescheiden, sind gutmütig und gastfreundlich, und führen in den engen Grenzen der Diktatur Ceaușescus ein gutes Leben.

 

Eines Tage erscheinen jedoch zwei fremde Männer, zwei Wanderer, denen sie Beherbergung gewähren. Es sind zwei nette junge Männer, höflich und interessiert. Doch sie tragen ein Geheimnis, das in der Diktatur Ceaușescus nur schwer zu ertragen ist und das die junge Familie auf die Probe stellt.

 

Diese Situation bildet den Auftakt einer deutsch-rumänischen Familiegeschichte, die über vier Generationen sowohl nach vorne als auch zurück erzählt wird. Im Mittelpunkt steht das Banat, eine multiethnische Region, in der früher vorwiegend Deutschstämmige siedelten und sich schon bald die Frage nach Heimat und Identität stellt: "Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?"

 

Aus sieben unterschiedlichen Perspektiven fügt sich während der Lektüre ein buntes Mosaik des letzten Jahrhunderts zusammen. Von König Michael und den Wirren des Zweiten Weltkriegs, über die schreckliche Diktatur unter Ceaușescu und seiner Securitate bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. Jegliche Protagonisten haben wie die Zeit, in der sie leben, Brüche erfahren, jeder wurde auf seine Weise durch die Umstände geprägt. Doch alle eint das eine Gefühl, das ihnen im Herzen brennt: eine Sehnsucht, die sich auf etwas richtet, was unerreichbar erscheint.

 

„Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen“.

Mit solch poetischen Sätzen lädt uns Wolff ein, auf ihrer melodischen und leichten Sprache die kurze, aber desto intensivere Geschichte zu durchfliegen. So leise, aber kraftvoll schreibt Wolff über vier Generationen einer Familie, über ihre Wünsche, Ängste und Erinnerungen, über Diktatur und Flucht, dass man wahrlich mitgerissen wird.

 

Ein bemerkenswerter Roman!

 

 

 

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Roman

Hardcover, 216 Seiten

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020

Jahresrückblick 2020 - Teil 2

Und hier also noch Teil 2 des Jahresrückblicks: die Backlist Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe und die mich in ihren Bann gezogen haben. Mit Klick auf das Foto werdet ihr zur ganzen Besprechung weitergeleitet.

 

 

 

"DIE WOHLGESINNTEN"

von Jonathan Littell

 

Ein Roman über die grausamste Epoche des letzten Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg, die zahlosen und bestialischen Kriegsverbechen, den Russlandfeldzug und den Holocaust. Doch der Erzähler ist kein Opfer, der nur knapp dem Tod entronnen ist, niemand, der die Shoa überlebt hat oder heldenhaft gegen die Nazis kämpfte, nein - dies ist ein Täterroman, der keineswegs leicht zu verdauen ist, der schwer im Magen liegt wie wohl nur wenige andere Romane, der aufwühlt und wütend macht, der Unfassbares erzählt, gegen das sich alles im Innern sträubt, und der doch vielleicht so nah an der Wahrheit ist wie keine andere Geschichte oder Geschichtsschreibung. Eine Erzählung, die wichtig ist und sehr tief in menschliche Abgründe führt.

Ein unfassbarer, ein bedeutsamer, ja ein Jahrhundertroman!

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"MELANCHOLIE DES WIDERSTANDS"

von László Krasznahorkai

 

In seitenlangen Sätzen und absatzlosen Kapiteln wird hier die drohende Apokalypse in einem ungarischen Dorf geschildert. Doch wenn man sich der eigenwilligen Form hingibt, erhält man eine Geschichte, die an Tief- und Scharfsinn, Intellektualität, Komik und Melancholie ihres gleichen sucht. Es ist geradezu ein Sog, in den man gerät, wenn man in die apokalyptische Welt abtaucht, beschworen durch eine bestechende Präzision der Worte und einer einmaligen Fabulierlust. Die in sich verschachtelten Sätze, die stockenden und springenden Gedankengang simulieren, dazu die Perspektivwechsel entfachen einen Lesewahn, dem man sich nicht entziehen kann.

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"HUNGER"

von Knut Hamsun

 

Die Geschichte eines verarmten (Überlebens-)Künstlers, die die gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwirft und mitten hinein in die Frage zielt: Was ist Kunst und was ist Dilettantismus? Die Darstellung von Hunger gelingt hier so überzeugend, plastisch und ausdrucksvoll, dass man während der Lektüre selbst mithungert und das wilde Knurren im Magen nicht unterdrücken kann. Durch die damalige neue Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms spürt man geradezu in jeder Faser die Zerrissenheit zwischen Scham und Stolz, zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, zwischen Verdruss und Hoffnung, die den Protagonisten zersetzt und immer weiter an den Rand der Gesellschaft drängt.

Ein atemberaubender Roman!

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"KASSANDRA"

von Christa Wolf

 

Kassandra steht kurz vor der Hinrichtung in Mykene und erinnert sich an den trojanischen Krieg und ihre Gefährten. Allerdings stehen hier nicht mehr die Taten der Götter im Vordergrund, sondern die Begierden und Machenschaften der Menschen. Jegliche Taten werden rückblickend psychologisiert und so geht es nicht mehr um den Kampf der Götter, sondern um Politikgeschacher, List und Heuchlei. Es ist eine zutiefst menschliche Erzählung, in der Götter keinen Platz mehr finden, sondern der Krieg aus der Sicht einer Frau erzählt wird, die auf Seiten der Verlierer steht. Und so ist auch der Kriegsgrund wahrlich ein anderer als stets angenommen. Die Sprache ist dabei gewöhnungsbedürftig, imitiert sie doch mit ihren gestelzten Sätzen den Rhythmus der Ilias und Odyssee, doch wie hier die Mythologie vermenschlicht und umgedichtet wird, ist einfach grandios!

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"SCHANDE"

von J. M. COETZEE

 

Schonungslos beschreibt Coetzee die Missstände in Südafrika nach dem offiziellen Ende der Apartheid, beschreibt die Entwicklung des Landes, das sich nun andere Opfer sucht und doch beim gleichen Schema von Herr und Knecht bleibt, beschreibt den Hass, der sich zwischen den Menschen eingebrannt hat und nach Blut dürstet, und beschreibt letztlich einen Generationenkonflikt rund um das Erbe der Apartheid. Zudem spiegeln sich in den großen Themen, die der Roman beleuchtet - das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Schwarz und Weiß, Vater und Tochter, Täter und Opfer - Ungnade und Schande (Originaltitel: "Disgrace") gegenseitig wider und skizzieren am Ende den Beginn von etwas Neuem.

Ein beklemmender Roman in einem beinahe lapidaren, lakonischen, auf jeden Fall sehr gradlinigen Stil. Lesenswert, aber beunruhigend und verstörend.

 

 

 

Teil 1 verpasst? Keine Sorge, hier geht es zum ersten Teil meines Jahresrückblicks 2020.

 

 

 

Jahresrückblick 2020 - Teil 1

Was für ein Jahr!

 

Das wird sich wohl ein jeder denken. Und damit man immerhin noch etwas unter den imaginären Weihnachtsbaum mit den virtuell dazu geschalteten Liebsten legen kann, gibt es jetzt schon meinen Jahresrückblick. Die herausragendsten Titel aus ungefähr 753 Büchern, durch deren Welten zu streifen ich dieses Jahr unerwartet viel Zeit hatte.

 

Im ersten Teil stelle ich die 5 lesenswertesten Titel vor, die jüngeren Datums sind, das heißt Titel, die in diesem Jahr oder kurz zuvor erschienen sind, 5 Titel, die mich begeistert haben und die ich uneingeschränkt weiterempfehlen möchte.

 

Also Vorhang auf, Spotlight an, hier folgt die Kür - natürlich wie immer nach ganz objektiven Richtlinien ! Und mit Klick auf das Foto gelangt ihr zur ganzen Rezension.

 

 

 

"ALLE AUßER MIR"

von Francesca Melandri

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen weiten Bogen von der Machtergreifung Mussolinis und dem Faschismus über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise. Ein herausragender, mitreißender Roman, mit dem Blick in die tiefen Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates.

Mein absolutes Highlight in diesem Jahr!

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"FÜR IMMER DIE ALPEN"

von Benjamin Quaderer

 

Wahrscheinlich das erstaunlichste Debüt, das ich jemals gelesen habe. Ein Hochstaplerroman, beinahe ein Schelmenroman, der mit allerlei literarischen Tricks aufwartet. So bietet sich dem Leser während der Lektüre ein Sammelsurium an literarischen Einfällen, die die Literatur in ihrer ganzen Fülle neben stringend erzählten Welten zu bieten hat. Der Roman ist witzig, schräg, verrückt, großartig und größenwahnsinnig. Er ist mutig und verspielt und von einer besonderen Leichtigkeit des Erzählens durchzogen. Ein Roman über Liechtenstein und seine Machenschaften. Ein Roman über die Literatur und ihre Möglichkeiten.

Ein Roman über das Erzählen und dessen Sinn. Ein großartiger Roman!

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"DAS FLÜSSIGE LAND"

von Raphaela Edelbauer

 

Ein Debütroman wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns. Ausgefeilte Sätze und eine abstruse Szenerie, irgendwo zwischen "Alice im Wunderland" und "Der Prozess". Dazu wirft er Fragen nach Zeit und Raum auf, nach Erinnerung und Verdrängung, nach Geschichte und Gegenwart, nach Schuld und Sühne. Vielschichtig und tiefgründig erzählt, bietet die Geschichte einen großen Interpretationsspielraum, der auf vielerlei Wegen psychologisch begangen werden kann.

Beinahe kafkaesk, immer jedoch wunderbar!

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"SOLENOID"

von Mircea Cartarescu

 

Hier wird nichts weniger versucht, als sich das Universum durch Sprache anzueignen. Essayistische Abhandlungen über das Leben und die Zeit, über die Milliarden Möglichkeiten jeden Augenblicks, über die Literatur und ihre Schattenseiten, über Bücher und ihre Macht, dazu ausführliche Biografien von Wissenschaftlern der Mathematik, Pathologie und Naturkunde, ebenso wie Gedankenexperimente, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen und nur auf ein Ziel ausgerichtet sind: die Bestimmung der vierten Dimension. Träumerisch wird das Leben des namenlosen Protagonisten erzählt, immer bedrochlich, beängstigend, erschreckend, immer surreal.

Ein absolut größenwahnsinniges, im wörtlichsten Sinne unfassbares, aber geniales Werk!

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"BRÜDER"

von Jackie Thomae

 

Im Roman wird nicht nur eine Familiengeschichte aufgeworfen, deren Wege verschlungen durch die Jahrzehnte irren, es ist vielmehr die Geschichte der Trennung, Annäherung und Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die sich in den unterschiedlichen Brüdern widerspiegelt. Es ist ein Roman über die Suche nach dem Sinn in einem Leben, in dem stets etwas fehlt, ein Leben, das nicht komplett erscheint. Mit Scharfsinn, Witz, Humor und Feingefühl wird die Geschichte der ungleichen Brüder erzählt, in der der alltägliche Rassismus mitschwingt, den beide wegen ihrer Hautfarbe erdulden müssen, aber auch die Feinheiten des alltäglichen Lebens, das Geflecht, in dem man sich verirren kann, stechen imposant heraus.

 

 

 

Schaut euch auch den zweiten Teil des Jahresrückblicks an, die Backlisttitel, unter denen ich wahre Perlen gefunden habe!

 

 

 

... liest gerade "Herzfaden" von Thomas Hettche

Das kleine Mädchen flieht vor dem Vater, damit er ihre Tränen nicht sieht. Mitten im Theater findet sie eine verborgene Ecke und einen Aufgang. Als sie diesem folgt, erwarten sie auf dem Dachboden die zum Leben erwachten Marionetten der Augsburger Puppenkiste. Doch nicht nur sie, sondern auch die Geschichte Hatüs und der BRD sowie der linkisch grinsende Kasperl, der Schlimmes birgt.

 

Hatü, mit bürgerlichem Namen Hannelore Oehmchen, erscheint aus dem Reich der Toten und erzählt dem Mädchen die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, der sie sich mit ganzem Herzen und Leben gewidmet hat. Schon im Zweiten Weltkrieg hat ihr Vater Walter Oehmchen, einst ein berühmter Schaupieler, ein Marionettentheater gegründet. An seiner Seite waren stets seine Frau Rose und seine beiden Töchter. Hatü erzählt von den Erfahrungen des Kriegs, des Faschismus und Antisemtismus, von Bombardierungen, Flucht und Tod und wie diese Schrecken ihr Theater prägten.

 

Nach dem Krieg eröffnete die Familie ein Theater, das sich rasch großer Beliebtheit erfreute. Zusammen schnitzten sie die Figuren, die sie vor den Zuschauern zum Leben erweckten. Irgendwann fiel ihr erneut der Kasperl in die Hände, jene Figur, die sie während des Krieges als erstes erschaffen hatte. Doch hier stockt ihr Erzählfluss. Ein Schatten legt sich über sie und taucht die Szenerie in trübes Licht. Hatü hütet ein Geheimnis, ein Geheimnis, das sich um den grimmig grinsenden Kasperl rankt, einem Außenseiter zwischen den Puppen. Und so liegt es schließlich an dem kleinen Mädchen, das Geheimnis zu lüften. Ängstlich, aber mit Hilfe anderer Marionetten, stellt sie sich dem Kaspar, der mit einem Schicksal aufwartet, das sich tief in die Magengrube wühlt.

 

Der Roman wartet mit zwei Erzählsträngen auf, einer Rahmen- und einer Binnenerzählung. Märchenhaft ist der Ton in der Rahmenerzählung, in der das kleine Mädchen wie Alice im Wunderland durch einen Fuchsbau auf den geheimen Dachboden des Theaters gelangt und auf Puppengröße schrumpt. Farblich voneinander abgesetzt stehen die Texte sich gegeneinander über und fließen doch zusammen.

 

Denn dies ist die Geschichte von Walter Öhmchen und seiner Tochter Hannelore. Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, die so viele Generationen an Kindern verzaubert hat. Und so treten auch alle bekannten Marionetten auf, wie z.B. das Ürmli, Jim Knopf und König Kalle Wirsch. Aber die Geschichte ist noch so viel mehr, denn sie ist auch die Geschichte Deutschlands zu seiner dunkelsten Zeit. Die Geschichte des (Über)Lebens im zerstörerischen Krieg, in dem das Gift des Nationalsozialismus bis in die Kinder sickerte, sowie in den finstren Nachkriegsjahren, in denen man aus dem Alten wieder Neues erschaffen musste.

 

Ein märchenhafter Roman mit ernstem Hintergrund, der dieser Tage aktueller ist denn je.

 

 

 

Thomas Hettche: Herzfaden

Roman

Hardcover, 288 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2020

...liest gerade "Milchmann" von Anna Burns

Eine junge Frau wird beschimpft und mit einer Pistole bedroht. Gerüchte haben die Runde gemacht, Gerüchte, die töten können.

Zur selben Zeit wird der Milchmann von einem staatlichen Mordkommando getötet. Es herrscht Krieg, ein Krieg, der heute längst vergessen ist, ein Krieg jedoch, der jederzeit wieder aufflammen kann.

 

Die Grenze des Bürgerkrieges zieht sich mitten durch die Städte, teilt Straßen in Feinde und Freunde, die einander gegenüber wohnen. Paramilitärs beherrschen ganze Ortschaften, patroullieren durch Geschäfte und Bars und wechseln sich dabei immer wieder mit dem staatlichen Militär ab, das genauso brutal vorgeht wie die vermeintlichen Terroristen. Ein falsches Wort, ein falsches Symbol, eine falsche Bekundung kann hier den Tod bedeuten.

 

Die namenlose Protagonistin lebt in einer kleinen Stadt, in der klassische Geschlechterrollen dominieren. Frauen werden unterdrückt, belächelt und ausgeschlossen, Männer bestimmen Poltik, Wirtschaft und den Krieg. Der Krieg, der sich besonders an verschiedenen Konfessionen entzündet hat, sich aber auch um Selbstbestimmung gegenüber einer als aufgezwungenen Staatsmacht präsentiert.

 

Es sind die 70er Jahre und wir befinden uns mitten in den blutigsten Jahren des nordirischen Bürgerkrieges. Ständige Angst herrscht vor. Verfolgungswahn und Paranoia zersetzen die Gesellschaft, denn niemand kann sicher sein, wer Freund und Feind ist, derweil beinahe täglich Autobomben explodieren, Menschen verraten, diffamiert, entführt und exekutiert werden. Das ganze Leben spielt sich nur aus einem Knäuel von Gerüchten, Tratsch, Verleumdungen und Lügen ab. Hier zählt nur eines: nicht auffallen.

 

Doch als sich eines Tages der Milchmann für die erst 18jährige Schülerin interessiert, nimmt das Unheil seinen Lauf. Der ominöse Mann stalkt sie, fährt ihr hinterher, geht ihr nach und belästigt sie. Dabei ist der Milchmann nicht irgendwer, er ist einer der ranghöchsten Rebellen, angesehen und einflussreich. Und so entstehen Gerüchte, die neben vielem anderen Tratsch die Runde machen. Plötzlich fällt ein Scheinwerferlicht auf die Protagonistin, das sie nicht mehr los wird und das sie ungewollt mitten auf die Bretter dieses Krieges katapultiert.

 

Klug inszeniert bietet der Roman tiefe Einblicke in den Alltag des Krieges, der beinahe schon vergessen scheint, aber durch den Brexit und die unsicheren zukünftigen Grenzbeziehungen wieder zu eskalieren droht. Ein Riss geht durch die Gesellschaft, geht selbst durch Familien, die sich immer mehr entzweien, ein Riss, der nicht mehr zu kitten ist. Verlorenes Vertrauen und ständige Angst ums Leben spiegeln die Realität der Menschen wider. Durch Gerede und Gerüchte entsteht eine Welt, die lediglich aus Lug und Trug besteht, doch so leicht entzündbar ist wie ein Fass Dynamit, denn jedes Gerede, jede Verdächtigung zieht Konsequenzen nach sich - tödliche Konsequenzen.

 

Es sind die Erinnerungen der gealterten Protagonistin, die diese Erzählung ausmachen und wie ein Strick geformt sind, der sich immer weiter zuzieht. Man verfällt leichthin dem humorvollen Stil, der oft mit viel Biss und Ironie aufwartet, bis einem angesichts der geschilderten Zustände das Lachen im Munde erstirbt. Ein hervorragender Roman über den Nordirlandkonflikt, den die Autorin selbst miterlebt hat, ausgezeichnet mit dem an Booker Prize 2018.

 

 

 

Anna Burns: Milchmann

Roman, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Hardcover, 452 Seiten

Tropen Verlag, Stuttgart 2020

... liest gerade "Der letzte Satz" von Robert Seethaler

Gustav Mahler befindet sich auf seiner letzten großen Reise. Er schippert über den Atlantik Richtung Heimat und erinnert sich seines Lebens. Es wird ein Bilanzziehen, ein Abschiednehmen, denn es ist 1911 und kurze Zeit später wird er tot sein.

 

Drei Jahre zuvor war Gustav Mahler nach Amerika gezogen. Dort ist er zu Weltruhm gelangt. Schon vorher war er der unumstrittene Star unter den Komponisten und Dirigenten seiner Zeit. Nun sitzt er auf dem Bord eines Dampfers, der ihn zurück nach Europa bringt. Alt und gebrechlich, krank und von Schüttelfrost und Fieber gebrochen, erinnert er sich seines Lebens, das er führen durfte und das er einzig und allein der Musik verschrieben hat.

 

Alma, seine Frau und seiner Zeit die schönste Frau Wiens, musste darunter leiden. Denn wirklich glücklich war er nur, wenn er den Klängen der Inspiration lauschte. Rund um die Uhr verschwor er sich der Musik, so dass seine Frau an seiner Seite nur ein halbgelebtes Leben hatte und Mahler dennoch eifersüchtig war, als sie sich in eine Affäre stürzte. Er erinnert sich an die Zeit in Wien, an die Arbeit, an den Schmerz und auch an den Antisemitismus, den er erlebte, aber auch an seine Kinder und an den Schicksalsschlag, der sein Leben veränderte, denn als seine Tochter Maria an der Diptherie starb, starb auch etwas in ihm. Letztlich stürzte er sich aber wieder in die Arbeit und unermüdlich komponiert er seine neunte Symphonie, die letzte, die er schreiben wird.

 

In vielen kurzen Episoden wird hier das Leben Mahlers rekonstruiert, und das, wie ich finde, ziemlich dürftig. Die 126 großzügig beschriebenen Seiten für 20 Euro sind schon fast eine Frechheit, denn die Lektüre verfliegt schließlich so schnell wie eine halbe Bahnfahrt von Freiburg nach Köln. Die Sprache ist zwar klar, teilweise jedoch sehr karg. In Nebensätze werden Details über das Leben des Komponisten gequetscht, als wollte man mit dem Wissen über Mahler ein wenig kokettieren und wusste nicht, wohin mit dem Stoff. Auch wird fast nichts über die Musik geschrieben, immerhin der Lebensinhalt dieses Mannes, nur so viel, dass man über sie nicht sprechen könne.

 

Der Roman schmückt ein wenig Autobiographisches aus, wirft kurzzeitig die großen Themen des Lebens auf, um sie dann unter Plattitüden zu begraben, was anscheinend reicht, um auf die Longlist des Deutschen Buchpreises zu gelangen. Für mich nicht verständlich, denn der letzte Satz verklingt ohne jeglichen Nachhall, nichtssagend und leer, und ist nicht mehr als eine äußerst kurze Ablenkung und für mich eine ziemlich große Enttäuschung.

 

 

 

Robert Seethaler: Der letzte Satz

Roman

Hardcover, 128 Seiten

Hanser Verlag, München 2020

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... liest gerade "Die Sommer" von Ronya Othmann

Jeden Sommer fliegt Leyla mit ihren Eltern in den Norden Syriens zu der Familie ihres Vaters.

Seit hunderten von Jahren trägt diese Region nahe der Grenze zur Türkei einen Namen, den man dort jedoch nicht aussprechen darf, einen Namen, der nur mit vorgehaltener Hand genannt wird, einen Namen, den es offiziell nicht gibt und auf keiner Karte existiert.

Es ist ein Name, der immer wieder ausgelöscht werden sollte und dennoch weiterlebt - Kurdistan.

 

Leyla ist Halbjesidin. Vor vielen Jahren verließ der Vater das Land, hatte die wahllosen Verschleppungen, die ständige Angst und die Repressalien unter der strengen Diktatur satt. Heimlich flüchtete er über die Türkei bis nach Deutschland, wollte dem Leben in der Diktatur entkommen, in der er als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde, als minderwertiger Mensch, dem der Pass abgenommen und der Zugang zu Bildung, Studium und guter Arbeit verwehrt wurde, ein Staatenloser, der ständig Angst vor dem brutalen Geheimdienst haben musste, vor Entführung, Folter und Mord.

 

Doch auch in Deutschland wurde der wissbegierige junge Mann von Ämtern und Behörden schickaniert. Trotzdem schlug er sich durch, zog in ein Häuschen nahe München, dessen Garten er jenem seiner Heimat nachempfand, und gründete mit seiner deutschen Frau eine eigene Familie. Und so wächst Leyla nun zwischen zwei Welten auf, verbringt das Jahr in dem deutschen Dorf, führt ein mehr oder weniger gewöhnliches Leben, trifft Freunde und geht in die Schule. In den Sommerferien lebt sie jedoch bei der Familie in Syrien und lernt dort nach und nach die jesidische Kultur kennen, ihre Traditionen, ihre Sitten und Gebräuche, lernt die Menschen und das Land schätzen und lieben. Auch diese Welt wird ein Teil von ihr und so schmerzt es sie, als sie die Besuche 2011 einstellen müssen.

 

Als die Revolution in Syrien ausbricht und die verhasste Diktatur zu fallen scheint, sind zunächst alle elektrisiert. Doch als der Krieg immer brutaler wird und die Welt zum Zuschauen verdammt ist, als Assads Fassbomben ganze Städte in Schutt und Asche reißen, als gezielt Krankenhäuser und Schulen angegriffen werden, als der sogenannte IS aufzieht und zahlreiche Massaker verübt, steht plötzlich ihre Familie und damit ihr ganzes Volk vor der Auslöschung. Leyla verliert immer mehr den Halt im Leben, fühlt sich nicht mehr zugehörig und kann die schrecklichen Eindrücke nicht mehr verarbeiten, die sie im Fernsehen und am Handy mitverfolgt. Schließlich fasst sie einen Entschluss, der sich als so radikal erweist, dass sich ihr Leben von Grund auf ändern wird.

 

Dies ist die eindrückliche Geschichte der Kurden im Allgemeinen und der Jesiden im Besonderen. Es ist die Geschichte eines Volkes, das kein Land besitzt, das auf vier anderen Staaten verteilt lebt, wo es unterdrückt, verfolgt und misshandelt wird. Kurdistan ist ein Landstrich, der seit Generationen umkämpft und deshalb tief gezeichnet ist von Krieg, Vertreibung und Massakern, von unterschiedlichen Ethnien und Religionen, von Kolonialismus und Imperialismus, aber auch von Zusammenhalt, Familienwesen und dem Drang nach Freiheit. Stets hängt die Angst vor dem nächsten Genozid wie ein Fallbeil über den Köpfen der Menschen. Die blutgetränkten Geschichten ihrer Vorfahren haben sich in die DNA der Kurden eingefressen und werden über die Gene an die nächste Generation weitergegeben, die dem Klagelied des ewigen Leids wieder eine neue Strophe hinzufügen kann.

 

Dies ist die Geschichte von einem zerrissenen Teil der Welt, dessen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg willkürlich auf dem Schachbrett gezogen worden sind und die damit schon den Keim späterer Eskalationen von Beginn an in sich bargen.

 

Dies ist auch die Geschichte von der inneren Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen, von einem Leben zwischen zwei Welten, zwei Ländern und Sprachen, das für alle Kinder von Migranten die tägliche Realität darstellt.

Dies ist aber auch eine Geschichte über das Erinnern, über Kultur und Traditionen, die Generationen miteinander verbinden und die durch Erzählen und Tradieren vor dem Auslöschen bewahrt werden sollen. Es ist eine Geschichte über Flüchtlinge und ihr Leid, über den langen und beschwerlichen Weg in eine für uns als selbstverständlich hingenommene Freiheit und Sicherheit.

 

Und zuletzt ist dies auch die Geschichte über Widerstand und Aufbegehren, über kaum auszuhaltende Ohnmacht, die entweder zu Desinteresse und Resignation führt oder zu Wut und Hass.

 

Ronya Othmann, selbst Halbjesidin, hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Im ersten Teil wird aus den Erinnerungen Leylas an die Sommer ihrer Kindheit ein Bild modelliert, das im zweiten Teil immer stärker bedroht und angegriffen wird. Eindrücklich sind die Geschichten über Flucht, Vertreibung, Krieg und Auslöschung, aber auch die sanften Töne über Zusammenhalt, Traditionen und Kultur. Wenn ich auch die Sprache an manchen Stellen doch etwas zu karg finde, ist es ein beklemmender und schonungsloser Roman, der mit großer Tragik offenbart, was sich seit Jahren vor aller Augen abspielt.

 

Eine unbedingte Leseempfehlung!

 

 

 

Ronya Othmann: Die Sommer

Roman

Hardcover, 288 Seiten

Hanser Verlag, München 2020

...liest gerade "Zeit der Wildschweine" von Kai Wieland

 Leon und Janko könnten unterschiedlicher nicht sein, doch sie verbindet dieselbe Leidenschaft.

 Zusammen begeben sie sich für eine Reportage auf die Reise zu den lost places der französischen Atlantikküste.

 Allerdings führt sie die Unternehmung nicht nur zu den verlassenen Orten, sondern auch immer weiter zu sich selbst.

 

Leon ist Reisejournalist. Für Reportagen bereist er die Welt und erkundet Orte, deren Charme sich aus ihrer Verlassenheit speist. Zurück in Deutschland verbringt er die meiste Zeit alleine in seiner Wohnung. Obwohl er ein freies, ungezwungenes Leben führt, wirkt er nicht zufrieden, geschweige denn glücklich. Er weiß nicht recht, was er in seinem Leben anstellen soll und so drückt er sich vor Verbindlichkeiten, sieht in jeglicher Beständigkeit nur Erschlaffung, verbringt schon mal ganze Tage im Bett und zieht dann wieder hinaus in die Welt, um sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken. Als er mit dem Vater sein Appartment gegen das Haus seiner Kindheit tauschen soll, ploppen schemenhaft Erinnerungen in ihm auf, die wie ein Schatten auf ihm zu liegen scheinen. Und dann ändert sich plötzlich sein Leben, als Janko vor ihm steht.

 

Janko scheint all das zu sein, was er nicht ist. Dieser Fotograf ist exzentrisch, tättowiert und ungehobelt, ein Exzentriker, der nicht gerne über sich selbst redet. Es trennt sie mehr als sie eint, doch eines verbindet sie: die Liebe zu Filmen, deren Zitate Jankos Körper schmücken.

 

Als Leon nach Frankreich fahren soll, um für einen Reiseführer die lost places der atlantischen Küste zu dokumentieren, nimmt er Janko als Fotografen mit. Auf dem Roadtrip begegnen sie in verlassenen Städten eigenwilligen Menschen, von der Gesellschaft Verstoßenen oder vor der Gesellschaft Geflüchteten, wie sie selbst welche sind. Während Janko dem Bild hinterher jagt, das ihn berühmt machen soll, stolpert Leon in ein Filmset, dessen Kulissen die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion aufzuheben scheinen. Und plötzlich stellt sich immer mehr die Frage: Was geschieht hier eigentlich wirklich? Und wohin ist Janko plötzlich verschwunden? Und wer ist eigentlich dieser Janko? Was genau hat er mit Leon zu tun? Verbindet sie gar ein Geheimnis, das sie teilen?

 

"Die Zeit der Wildschweine" ist eine Hommage an den Film. In zwei verschiedenen Erzählsträngen wird eine Geschichte entblättert, die vor Zitaten und Anspielungen auf die Filme von David Lean, David Lynch, David Fincher oder den Journalisten Hunter S. Thompson nur so strotzen. Im Zentrum steht dabei stets die Frage nach der Selbstverwirklichung. Denn was ist eigentlich Selbstverwirklichung? Und wie weit muss man gehen, um sie zu erlangen? Kann man sie eigentlich erlangen? Und was hat das übrigens alles mit Fight Club zu tun, dem Kultfilm von 1999?

 

Der Roman ist melancholisch, tiefsinnig und bietet viel Stoff für Filmfans. Allein mich konnte er nicht wirklich mitreißen. Das mag vor allem daran liegen, dass mir viele Anspielungen entgangen sind, ich wohl auch nicht alle Filme kenne, deren Szenen hier eingearbeitet sind, Fight Club einmal ausgenommen. Und so fand ich den Roman leider eher etwas dröge und zäh und auf die Dauer etwas langatmig. Wer sich mit der Filmgeschichte auskennt, wird bei der Lektüre wahrscheinlich sein Vergnügen haben, bei mir hielt es sich allerdings in Maßen.

 

 

 

Kai Wieland: Zeit der Wildschweine

Roman

Hardcover, 271 Seiten

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020

...liest gerade "Orlando" von Virgina Woolf

Es ist das 16. Jahrhundert unter Elisabeth I.

Ein junger Adliger flieht nach einer unerfüllten Liebe vom Hof und begibt sich auf eine Reise, die ihn nicht nur durch Raum und Zeit trägt, sondern auch die Geschlechtergrenze einreißen lässt. Schließlich wacht er nicht nur im 20. Jahrhundert auf, sondern ist auch - eine Frau.

 

Orlando, Liebhaber Elisabeth I., verbringt seine Zeit mit zahlreichen Affären und an seinem Schreibtisch, an dem er ein bedeutendes Gedicht verfassen will. Gerne wandelt er alleine umher und treibt sich beim niedrigen Volk herum. Dreimal ist er verlobt und löst die Versprechung ein ums andere Mal wieder auf, bis er Sascha kennenlernt. Die Russin erobert sein Herz im Sturm, denn sie spricht nicht viel. Ein Geheimnis scheint sie zu umgeben. Als sie gemeinsam aus der Enge des Adels fliehen wollen, erscheint sie jedoch nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Wütend und traurig blickt Orlando nur noch dem russischen Schiff hinterher, auf dem er seine Liebste vermutet, und ist geschlagen.

 

Desillusioniert begibt er sich auf Reisen, fährt aufs Land und bis nach Konstantinopel, feiert mit auserlesenen Gesellschaften und zieht mit fahrendem Volk umher. Er durchstreift die Jahrhunderte, schlüpft in verschiedene Rollen und wechselt schließlich das Geschlecht so selbstverständlich, als zöge er sich neue Kleider an.

 

Auf der Reise durch Raum und Zeit erscheint Orlando stets unruhig und auf der Suche, bis er/sie letztlich einsieht, dass jede Generation sich und ihre Umwelt stets aufs Neue definieren muss, dass Mode und Ideen, Kultur und Erfolg, Rollenbilder und Klischees einem ständigen Wechsel unterliegen. Er/Sie durchschaut, dass zu allen Zeiten und an allen Orten stets auf Neue eruiert wird, was Liebe und Freundschaft bedeuten, was Anstand und Freiheit sind, was einen wahrhaften Mann ausmacht und wie eine Frau zu sein haben soll. Und so dreht sich alles um die Frage nach der Identität. Denn was macht einen Menschen wirklich aus? Und wieviel trägt die Zeit und das Umfeld zu dem bei, was und wie man ist?

 

Als Biografie getarnt, in der der Biograf selbst zu Worte kommt und bei fehlenden Dokumenten hinsichtlich des Lebenslaufes zu spekulieren beginnt, spielt der Text mit dem Genre, ironisiert und durchbricht es. Woolfs sprachmächtige Prosa lässt großartige Bilder und Vergleiche entstehen. Selbst Fotos und Gemälde liegen dem Text mit einem Augenzwinkern bei, einem Text, der die Rolle der Frau in der Gesellschaft, in Kultur und Politik ständig hinterfragt und dabei ironisch und witzig die aktuelle Debatte bezüglich Emanzipation und Transgender vorwegnimmt.

 

"Orlando" war mein erster Roman von Virgina Woolf, ein durchaus unterhaltsamer, aber manches Mal auch anstregender Text, der zum Ende hin zunehmend abstruser wird und letztlich die Frage aufwirft: Wer ist nun eigentlich dieser Orlando?

 

Erschienen ist der Roman bereits 1928, auf Deutsch lag er ein Jahr später vor.

 

 

 

Virgina Woolf: Orlando

Roman, aus dem Englischen von Melanie Walz

Taschenbuch, 302 Seiten

Insel Verlag, Berlin 2012

...liest gerade "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell

Was soll man zu diesem Roman noch sagen? Welche Worte soll man über dieses Buch noch verlieren?

 

Jahrelang lag es auf meinem Tisch, hat mich angestarrt und mit seinen über 1300 Seiten abgeschreckt. Nun habe ich es auch endlich gelesen - und ich bin sprachlos.

 

Tief bin ich in den Sog der menschlichen Abgründe geraten, habe mich darin verloren, habe versucht dagegen anzukämpfen, mich dagegen aufzulehnen und bin doch sehr schnell dem Plauderton des SS-Offiziers verfallen, einem älteren Mann, der nun seine Memoiren schreibt, während er unbehelligt seinen Lebensabend in Frankreich genießt.

 

Natürlich schreibt er über die grausamste Epoche des letzten Jahrhunderts, schreibt über den Zweiten Weltkrieg, über die zahlosen und bestialischen Kriegsverbechen, die begangen wurden, schreibt über den Russlandfeldzug und den Holocaust, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen, schreibt über die Feinheiten der alles verschlingenden Maschine namens Vernichtungsfeldzug. Doch er schreibt nicht als ein Opfer, der nur knapp dem Tod entronnen ist, schreibt nicht als jemand, der die Shoa überlebt hat, schreibt nicht als einer, der heldenhaft gegen die Nazis kämpfte, gegen sie operierte, nein - er schreibt als einer der Täter, als Handlanger und Unterstützer, als jemand, der Karriere machte, indem er das millionenfache Morden plante und half, es umzusetzen. Ein Täter, der wenig Reue zeigt und versucht, sich und die Deutschen reinzuwaschen.

 

So stellt er bereits zu Beginn die Schuldfrage. Denn wer ist Schuld, wenn sich die Täter genauso wenig wie die Opfer ihre Rolle aussuchen durften? Wenn alle nur als ein Rädchen im großen Uhrwerk der Politik fungierten? Wer trägt Schuld in einem System, in dem alles ineinandergreift? Alle oder niemand? Und so werden die Deutschen nicht als Bestien dargestellt, sondern als Menschen, als fühlende und rationale Wesen, von denen viele nicht töten wollten, von denen viele Psychosen und Depressionen, Nervenzusammenbrüche und Selbstmordgefühle plagten angesichts des Grauens, das sie erschufen. Doch sie gehorchten und so, schreibt der ehemalige Offizier an den Leser gerichtet, würde jeder in solch einer Gesellschaft zum Täter werden.

 

Es ist eine Geschichte, die so schwer zu verdauen ist wie wohl keine andere. Die Banalität des Bösen kommt hier so offen zum Vorschein wie nirgends sonst, denn jeder Mörder, jeder Täter war auch nur ein Mensch, ein Mensch mit Gefühlen, Träumen, Wünschen, Ängsten. Es waren keine Monster, die den Krieg begangen und millionfach töteten. Und so geschieht das Ungeheuerliche im Roman, denn Täter und Opfer werden gleichgestellt. Die einen können so wenig für ihre Rolle wie die anderen. Auf höchst menschliche Weise zeichnet er den Feldzug samt Holocaust nach, bei denen er involviert war und durch dessen Planung er Karriere machte. Er schreibt über Massenexekutionen in der Ukraine und im Kaukasus, über Babi Jar und Partisanenmorde, schreibt über die Schrecken in Stalingrad und über Auschwitz. Und er schreibt, wie alles auf die Deutschen zurückkkommt, wie jegliche Ordnung zerbricht, wie jeder jeden tötet und selbst Kinder zu Mördern werden, wie ganz Europa ausgelöscht wird durch die wahnhaften Ideen des NS, wie selbst im April '45 immer noch an den Endsieg geglaubt wird und Fahnenflüchtige exekutiert werden, wie absolutes, heute unvorstellbares Chaos herrscht, wo sich jeder der nächste ist und selbst Freundschaften im Angesicht des Todes nichts mehr zählen.

 

Mit unheimlichem Fachwissen über die Ideologien, über den genauen Ablauf des Zweiten Weltkriegs, über all die unterschiedlichen Organisationen und ihre Zuständigkeiten hat Littell hier einen Täterroman geschrieben, der in seiner Detailtreue und Anschaulichkeit verblüfft. Denn klar ist auch, so der alte Offizier, hätten sie den Zweiten Weltkrieg gewonnen, wären die Deutschen nicht als Verbrecher angesehen worden, sondern stünden lediglich in einer Riege mit anderen Kolonialisten wie der USA, die ihre indigene Bevölkerung auslöschte, oder Belgien, das im Kongo wütete und millionenfachen Tod brachte, ganz zu schweigen von Großbritannien und Frankreich.

 

Trotz oder gerade wegen der Schilderungen so vieler Gräuel ist es eine zutiefst menschliche Erzählung, denn alles, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist und später dämonisiert wurde, haben Menschen begangen, haben Menschen anderen Menschen angetan. Das vermeintlich Böse schlummert also im Menschen, es gehört zu ihm, es ist menschlich.

 

"Nach dem Krieg wurde viel geredet, sie versuchten zu erklären, was da an Unmenschlichem geschehen war. Aber das Unmenschliche - ich bitte um Entschuldigung - das gibt es nicht. Es gibt nur das Menschliche, immer nur das Menschliche."

 

Ein Opus magnum, dessen Titel auf den antiken Mythos der Euminiden anspielt, also auf die Erinnyen, die antiken Rachegöttinnen, die zu den Wohlgesinnten wurden, nachdem sie ihre Macht verloren hatten. Ein Roman, der keineswegs leicht zu verdauen ist, der schwer im Magen liegt wie wohl nur wenige andere Romane, der aufwühlt und wütend macht, der Unfassbares erzählt, gegen das sich alles im Innern sträubt, und der doch vielleicht so nah an der Wahrheit ist wie keine andere Geschichte oder Geschichtsschreibung. Eine Erzählung, die wichtig ist, die tief, sehr tief in menschliche Abgründe führt, die ich sonst noch nie so gelesen habe.

 

Ein wirklich bedeutsamer Roman, ein Jahrhundertroman!

 

Der Roman erschien bereits 2006 und als Übersetzung von Hainer Kober 2008 im Berlin Verlag.

 

 

 

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Roman, aus dem Französischen von Hainer Kober

Taschenbuch, 1392 Seiten

Berlin Verlag, Berlin 2008

...liest gerade "Alle, außer mir" von Francesca Melandri

Die Straßen sind gesperrt, der Verkehr zu Umleitungen gezwungen. Gaddafi braust in weißen Limousinen durch die Stadt und wird herrschaftlich empfangen. Doch es ist nicht Tripolis, durch das er chauffiert wird, es ist das Rom Berlusconis, der einem alten Freund die Ehre erweist.

 

Ilaria findet die Inszenierung schrecklich. Als Linksliberale ist ihr Berlusconi und dessen Politik, die den Rechtspopulismus seit den 90er Jahren wieder salonfähig gemacht hat, tief verhasst. Sie hält dagegen an hohen ethischen und moralischen Ansprüchen fest, wenn auch ihr Selbstbild durch die Liason mit dem Staatssekretär Berlusconis, ihrer alten Jugendliebe, tiefe Risse bekommt, die sie zu ignorieren versucht.

 

Durch den Stau quält sie sich zu ihrer Wohnung, einem Geschenk des nun dementen Vaters. Neben ihr wohnt der Halbbruder. Erst mit 16 Jahren ist sie ihrem Vater auf die Schliche gekommen. Für die junge Tochter war das Doppelleben ihres Vaters ein Schock, der ihr Weltbild zerstörte.

 

Als Ilaria endlich zu Hause angekommen ist und das Treppenhaus hinaufsteigt, steht plötzlich ein Afrikaner vor ihrer Tür. Als Flüchtling abgestempelt, versucht sie ihm zu helfen, doch als dieser junge Mann ihr erzählt, dass er ihr Neffe sei, stockt sie. Und tatsächlich: Er trägt denselben Namen wie ihr Vater. Hatte ihr Vater also noch ein Kind? Ein Kind gar in Afrika? Ilaria geht der Spur nach und begibt sich auf eine langwierige Suche, bei der sie viel mehr entdeckt als sie befürchtet hatte. Über Italien, über ihre Familie und über sich selbst.

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen überaus weiten Bogen, um eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die bis in unsere heutige Zeit reicht, angefangen mit der Machtergreifung Mussolinis und der Zeit des Faschismus, die auch im heutigen Italien noch kleingeredet und teilweise verehrt wird. Fortgeführt über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien, dem heutigen Eritrea und Äthiopien, wo Italien eine brutale Diktatur errichtete und selbst noch nach der eigenen Schande jahrezehntelang eine der brutalsten Diktaturen der Welt unterstützte. Bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise, in der Menschen aus Eritrea, Äthiopien und Libyen, einem damals weiteren italienisch besetzten Land, unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Italien fliehen und dort stranden, abgelehnt, entrechtet und diskriminiert.

 

Schuld und Verdrängung spielen eine große Rolle, in der Familie wie in der Gesellschaft, tragische Schicksale, Lügen und Doppelleben, versteckt unter dem dolce vita Italiens, herrlich gespiegelt durch den Emfpang des libyschen Machthabers durch Berlusconi, deren Freundschaft die lange rechte und faschistische Tradition fortführt.

 

Obwohl ich in diesem Jahr sehr viel gelesen habe, ist "Alle, außer mir" für mich bislang ein Anwärter auf den Roman des Jahres. Herausragend, mitreißend, mit dem Blick in tiefe Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates, der sonst für das unbeschwerte Leben steht, der aber seine Vergangenheit nie aufgearbeitet hat und in vielen Teilen immer noch Mussolini verehrt und seinen grausamen Kolonialismus als Nichtigkeit abtut.

 

Ein überwältigender Roman in einer sprachmächtigen Prosa und daher eine absolute Leseempfehlung!

 

 

 

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Roman, aus dem Italienischen von Esther Hansen

Hardcover, 608 Seiten

Wagenbach Verlag, Berlin 2018

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...liest gerade "Alle, außer mir" von Francesca Melandri

Die Straßen sind gesperrt, der Verkehr zu Umleitungen gezwungen. Gaddafi braust in weißen Limousinen durch die Stadt und wird herrschaftlich empfangen. Doch es ist nicht Tripolis, durch das er chauffiert wird, es ist das Rom Berlusconis, der einem alten Freund die Ehre erweist.

 

Ilaria findet die Inszenierung schrecklich. Als Linksliberale ist ihr Berlusconi und dessen Politik, die den Rechtspopulismus seit den 90er Jahren wieder salonfähig gemacht hat, tief verhasst. Sie hält dagegen an hohen ethischen und moralischen Ansprüchen fest, wenn auch ihr Selbstbild durch die Liason mit dem Staatssekretär Berlusconis, ihrer alten Jugendliebe, tiefe Risse bekommt, die sie zu ignorieren versucht.

 

Durch den Stau quält sie sich zu ihrer Wohnung, einem Geschenk des nun dementen Vaters. Neben ihr wohnt der Halbbruder. Erst mit 16 Jahren ist sie ihrem Vater auf die Schliche gekommen. Für die junge Tochter war das Doppelleben ihres Vaters ein Schock, der ihr Weltbild zerstörte.

 

Als Ilaria endlich zu Hause angekommen ist und das Treppenhaus hinaufsteigt, steht plötzlich ein Afrikaner vor ihrer Tür. Als Flüchtling abgestempelt, versucht sie ihm zu helfen, doch als dieser junge Mann ihr erzählt, dass er ihr Neffe sei, stockt sie. Und tatsächlich: Er trägt denselben Namen wie ihr Vater. Hatte ihr Vater also noch ein Kind? Ein Kind gar in Afrika? Ilaria geht der Spur nach und begibt sich auf eine langwierige Suche, bei der sie viel mehr entdeckt als sie befürchtet hatte. Über Italien, über ihre Familie und über sich selbst.

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen überaus weiten Bogen, um eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die bis in unsere heutige Zeit reicht, angefangen mit der Machtergreifung Mussolinis und der Zeit des Faschismus, die auch im heutigen Italien noch kleingeredet und teilweise verehrt wird. Fortgeführt über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien, dem heutigen Eritrea und Äthiopien, wo Italien eine brutale Diktatur errichtete und selbst noch nach der eigenen Schande jahrezehntelang eine der brutalsten Diktaturen der Welt unterstützte. Bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise, in der Menschen aus Eritrea, Äthiopien und Libyen, einem damals weiteren italienisch besetzten Land, unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Italien fliehen und dort stranden, abgelehnt, entrechtet und diskriminiert.

 

Schuld und Verdrängung spielen eine große Rolle, in der Familie wie in der Gesellschaft, tragische Schicksale, Lügen und Doppelleben, versteckt unter dem dolce vita Italiens, herrlich gespiegelt durch den Emfpang des libyschen Machthabers durch Berlusconi, deren Freundschaft die lange rechte und faschistische Tradition fortführt.

 

Obwohl ich in diesem Jahr sehr viel gelesen habe, ist "Alle, außer mir" für mich bislang ein Anwärter auf den Roman des Jahres. Herausragend, mitreißend, mit dem Blick in tiefe Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates, der sonst für das unbeschwerte Leben steht, der aber seine Vergangenheit nie aufgearbeitet hat und in vielen Teilen immer noch Mussolini verehrt und seinen grausamen Kolonialismus als Nichtigkeit abtut.

 

Ein überwältigender Roman in einer sprachmächtigen Prosa und daher eine absolute Leseempfehlung!

 

 

 

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Roman, aus dem Italienischen von Esther Hansen

Hardcover, 608 Seiten

Wagenbach Verlag, Berlin 2018

...liest gerade "Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy" von Laurence Sterne

Mal wieder Zeit für einen echten Klassiker!

Gibt es einen (post)moderneren Roman als diesen?

Hier steckt schon alles drin, was in der (Post)Moderne auf die Spitze getrieben wird: Leseranrede und übersprungene Passagen, willkürliche Absätze und Kapitel, Textlücken und Unterbrechungen, Einschübe und Fußnoten, herausgerissene Kapitel und geschwärzte Seiten, Übersetzungen und synoptische Gegenüberstellung, Symbole und Zeichnungen, Verwirrung um Erzählzeit und erzählte Zeit, Selbstreflexionen und besonders Abschweifungen über Abschweifungen und noch so vieles mehr.

Es fehlt eine chronologische und stringente Erzählung mit Haupt- und Nebenfiguren, die zwischen einem sinnvollen Anfang und einem Ende, auf das alles hinausläuft, eingebettet ist. Vielmehr liegt ein Flickenteppich an Erzählsträngen vor, die immer weiter auschweifen und abschweifen, nie wirklich zurückfinden, sondern sich irgendwann verlieren. Der Roman spielt mit der Literatur, experimentiert mit Fiktionalität, Fiktivität und Faktualität, wirft Ideen und Assoziationen auf und verwirrt und verschachtelt sich. Er ironisiert und reflektiert sich und dabei irritiert und erheitert er ungemein.

Laurence Sterne, ein damals unbekannter anglo-irischer Geistlicher, hat mit seinem Roman, der in 9 Bänden zwischen 1759 und 1767 erschien, ein Meisterwerk erschaffen, eine Referenz für alle späteren Romane, die mit ihrer eigenen Entstehung und Künstlichkeit spielen.

"Tristram Shandy" ist einer der herausragendsten Romane der Weltliteratur, witzig und unterhaltsam, zugleich unerreicht.

 

 

 

...liest gerade "Je tiefer das Wasser" von Katya Apekina

Edith und Mae sind Schwestern.
Nachdem sich ihre Mutter das Leben nehmen wollte, wohnen sie bei ihrem Vater in New York.
Doch der ist nicht nur ein berühmter Schriftsteller, er ist ein Fremder, der Menschen für seine Romane missbraucht.

 

Die sechzehnjährige Edith fand ihre Mutter, als diese bereits blauangelaufen über den Küchenfliesen baumelte. Gedankenschnell rettete sie ihr das Leben. Seitdem wird die Mutter in einer Heilanstalt therapiert und Edith und ihre Schwester mussten zu ihrem Vater nach New York ziehen. Der Mutter zugeneigt hegt sie Wut und Hass gegen den diesen Mann, denn schließlich war er es doch, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat und nun verantwortlich für das Drama ist, das die Familie zerrüttet.

 

Die zwei Jahre jüngere Mae grollt hingegen der Mutter. Der berühmte Vater eröffnet ihr nun ein neues Leben, zerrt sie raus aus dem Würgegriff dieser Frau, deren Depressionen und Psychosen sie qualvoll miterlebte. Und so nähert sie sich ihm immer weiter an, schaut zu ihm auf, vergöttert ihn und schlüpft nach und nach durch ihre frappierende Ähnlichkeit in die Rolle der jungen Mutter, die den Vater vor vielen Jahren zu Meisterwerken inspirierte. Als sich Mae immer mehr zu der Muse ihres Vaters aufschwingt, beflügelt diesen erneut die Inspiration und er beginnt nach einer langen Blockade wieder zu schreiben. Doch um welchen Preis?

 

Dies ist die Geschichte einer toxischen Verbindung, die Geschichte einer Familie, die aneinander zerbricht und unter deren Trümmer die Kinder am meisten leiden. Es ist eine Geschichte über Kunst und Wirklichkeit, deren Grenzen ausgelotet, überschritten und verwischt werden. Es ist eine Geschichte über die Schattenseiten der Literatur, über die Ausbeutung von Lebensgeschichten und Persönlichkeiten, eine Geschichte, die unwiderruflich die Frage aufwirft, wie weit Literatur eigentlich gehen darf. Es ist aber auch eine Geschichte über die Stärke der Literatur, über den Antrieb zur Kunst, über die Heilung und Verarbeitung, die ihr inneliegt.

 

Anhand vieler unterschiedlicher Stimmen wird die anfangs so eindeutige Geschichte der Familie nach und nach entblättert, so dass man immer tiefer ins Wasser vordringt, bis man durch den Sumpf watet, der sich undurchsichtig auf dem Grund verbirgt. Die Polyphonie der Stimmen lässt eine Vielzahl an Meinungen erklingen, die sich teilweise widersprechen. Durch Briefe, Tagbucheinträge, Telefonate, Interviews, Personalakten und Rezensionen entsteht ein Mosaik an Realitäten, das der/die Leser/in selbst zusammenfügen muss. Und so bleibt ihr/ihm auch das abschließende Urteil dieser Geschichte überlassen, denn wer benutzt und missbraucht hier eigentlich wen. Und wofür?

 

Der Roman ist vielschichtig, belastend, verstörend, intensiv und zugleich verblüffend, kurz: absolut lesenswert!

 

 

 

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

Hardcover, 396 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

...liest gerade "Das steinerne Floß" von José Saramago

Ein zarter Riss in der Erde, der nicht mehr verheilt.
Ein riesiger Stein, der über die Wasserfläche hüpft.
Stumme Hunde, die bellen, und Stare, die zu Hunderten Menschen verfolgen.

 

Es sind seltsame Dinge, die geschehen. Vorboten eines Ereignisses, das unglaublich erscheint. Denn plötzlich, ohne Vorwarnung, brechen die Pyrenäen auseinander. Zuerst zeichnen sich nur Risse ab, doch schnell weiten sie sich. Die Regierungen Spaniens und Frankreichs versuchen, die tiefen Spalten zu kitten und mit Beton zu füllen, doch vergebens. Die iberische Halbinsel bricht vom Rest Europas ab und driftet fort.

 

Der nunmehr als Insel zu bezeichnende Flecken Erde nimmt Kurs auf die Azoren. Panik bricht aus, Menschen verlassen überstürzt die Insel, Evakuierungen finden statt. EU und NATO sind alarmiert, Reporter aller Länder berichten, die Schlagzeilen überschlagen sich. Mitten in diesem Chaos treffen sich eine Handvoll Menschen, denen Magisches widerfahren zu sein scheint. Zusammen begeben sie sich auf eine Reise durch das Land, um zu verstehen, was vor sich geht - mit ihnen als auch mit ihrer Heimat.

 

Erschienen 1986, im Jahr der EU-Beitritte Spaniens und Portugals, beschwört der Roman ein Gefühl herauf, trotz der neuen Mitgliedschaft in den auserlesenen Kreis nicht wirklich dazuzugehören, im Gegenteil, abgelehnt und nicht wertgeschätzt zu werden. Nachdem die Diktaturen in Spanien und Portugal endeten, prangt immer noch eine große, anscheinend unüberwindbare Kluft zwischen der iberischen Halbinsel und dem Rest Europas. Im Roman ist es dann auch die EU, die schnell die Motivation verliert, den Bewohnern der Insel zu helfen. Allein die USA treten als Heilsbringer auf, denn sie sind es, die den im Stich gelassenen Ländern Hilfe anbieten. Ebendiese war es auch, die die tatsächliche Annäherung Spaniens an den Rest Europas und die EU vorangetrieben hat und so kann man den Roman durchaus als Gleichnis auf reale politische und gesellschaftliche Zusammenhänge lesen.

 

Beinahe mythisch wird hier der Bruch Spaniens und Portugals vom Rest Europas erzählt. Magisch muten die Vorgänge an, die geschehen, dabei ist der Ton jedoch nicht belehrend, sondern ironisch und unterhaltsam. Die Erzählung suggeriert einen mündlichen Vortrag, in dem sich der Erzähler manches Mal unterbricht und feststellt, dass man die Geschichte auch anders erzählen könne. Geprägt sind seine Ausführungen jedoch durch Schachtelsätze und so wird sein Vortrag durch viele kleine Nebensätzen zersetzt, die die Lektüre schnell anstrengend werden lassen und den Genuss der Geschichte deutlich schmälern.

 

"Das steinerne Floß" erschien erstmals in deutscher Übersetzung 1990 im Rowohlt Verlag. Acht Jahre später wurde José Saramago der Literaturnobelpreis verliehen.

 

 

 

José Saramago: Das steinerne Floß

Roman, aus dem Portugiesischen von Andreas Klotsch

Taschenbuch, 400 Seiten

Atlantik Verlag, Hamburg 2015

...liest gerade "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek

Sie ist Klavierlehrerin, er ist ihr Schüler.
Nach und nach kommen sie sich näher, doch etwas steht zwischen ihnen, etwas, was nicht überwunden werden kann: Es ist ihre Mutter und all das, was sie in ihrer Tochter angerichtet hat.

 

Bereits als Kind wurde Erika Kohut von ihrer Mutter dazu ausersehen, eine Berühmtheit zu werden. Und so drillte sie das Kind dazu, Pianistin zu werden. Doch der große Erfolg blieb aus und so gibt sie zwar hin und wieder öffentliche Konzerte, verdient ihr Geld jedoch als Klavierlehrerin.

 

Viel schlimmer als die Erfolgslosigeit wiegt jedoch etwas anderes. Denn aus der emotionalen Kontrolle ihrer Mutter konnte sich Erika niemals lösen, auch nicht mit 36 Jahren. Immer noch lebt sie mit ihrer Mutter auf engstem Raum zusammen und hat dadurch eine fatale und abnormale Beziehung zu ihr entwickelt. Es ist eine Hassliebe, die Erika an die Mutter bindet. Sie ist eingeschnürt in Zwänge, aus denen sie nicht hinausfindet und die unterdrückte Gefühle evozieren, die sich gegen sie selbst richten. Als ihr eines Tages ein junger Schüler Avancen macht, überfordert sie das. Nur schüchtern lässt sie sich auf seine Annäherungsversuche ein. Doch dann bricht in ihr durch, was sich seit Jahren in ihr angestaut hat.

 

Mein erstes Buch von der Autorin und ich bin schockiert.
Schockiert, dass ich noch nie in den Genuss der sprachmächtigen Prosa Jelineks gekommen bin. Wunderbare Bilder geben sich die Hand und fließen ineinander über, ausgefeilte Assoziationen und Metaphern wechseln sich ab. Und auch wenn genau das die Lektüre anstrengend macht, so ist es doch ein Lesevergügen!

 

Wortgewaltig leuchtet der Roman die Geschichte einer misslichen Verbindung zwischen Bestrafung und Lust, zwischen Demütigung und Aufbegehren aus. Seit Kindesbeinen dressiert und kontrolliert entwickelt die Tochter ein abnormales Verhältnis zur Lust, das im Verlangen nach Bestrafung und Züchtigung mündet, in Sadomasochismus und Zerstörung. Dazu reflektiert der Roman kritisch Gesellschaft und Bürgertum, Rollenbilder und ihre Zuweisungen, jedoch nicht plakativ, sondern stets sarkastisch und amüsant, wenn auch zutiefst bedenklich.

 

 

 

Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin

Roman

Taschenbuch, 336 Seiten

rororo, Hamburg 1986 (1. Auflage)

...liest gerade "Schande" von J.M. Coetzee

Ein Literaturprofessor, der seine Studentin verführt.
Eine Anklage, die ihn die Stellung kostet.
Und ein Gewaltverbechen, das sein Leben verändern wird.

 

David Lurie lebt in Kapstadt. Tagsüber mimt er den Professor für Kommunikationswissenschaften, eine Arbeit, der er nur halbherzig nachgeht, da ihm nicht nur die faulen Studenten zuwider sind, sondern sein eigentlicher Fokus vielmehr auf der Literatur liegt. Abends und nachts vergnügt er sich mit Prostituierten, stellt ihnen nach, wenn sie nicht mehr an den berüchtigten Orten erscheinen, und belästigt sie. Eines Tages beginnt er eine Affäre mit einer Studentin. Halb gewollt, halb gezwungen gibt sie sich ihm hin. Durch Freund und Eltern kommt es zu einer Anzeige, die schnell Kollegen und Studenten gegen ihn aufbringt. Da er keinerlei Reue zeigt, obwohl er sich in allen Anklagepunkten schuldig bekennt, verliert er schließlich seinen Job.

 

Um Abstand zu gewinnen, fährt er aufs Land zu seiner Tochter. Sie lebt allein, nachdem sie sich von ihrer Freundin getrennt hat, und betreibt eine Farm. Nur Petrus, ein Angestellter des Hofes, lebt in nächster Nähe, ein wortkarger Mann, dem David aufgrund seiner Hautfarbe von Anfang an misstraut. Scheint der Aufenthalt anfangs noch idyllisch, gerät David plötzlich in eine Gewaltspirale, die sein Weltbild erschüttert und das Verhältnis zu seiner Tochter in die Knie zwingt. Verzweifelt steht er vor ihr und versteht sie nicht mehr, denn nach einem brutalen Überfall trifft sie immer mehr Entscheidungen, die er nicht nachvollziehen kann, und ordnet sich schließlich ihren Peinigern unter.

 

Schonungslos beschreibt Coetzee die immer noch anhaltenden und nun neueinsetzenden Missstände in Südafrika nach dem offiziellen Ende der Apartheid, beschreibt die Entwicklung des Landes, das sich nun andere Opfer sucht und doch beim gleichen Schema von Herr und Knecht bleibt, beschreibt den Hass, der sich zwischen den Menschen eingebrannt hat und nach Blut dürstet, und beschreibt letztlich einen Generationenkonflikt rund um das Erbe der Apartheid. Zudem spiegeln sich in den großen Themen, die der Roman beleuchtet - das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Schwarz und Weiß, Vater und Tochter, Täter und Opfer - Ungnade und Schande (Originaltitel: "Disgrace") gegenseitig wider und skizzieren am Ende den Beginn von etwas Neuem, den Anfang einer neuen Epoche.

 

Ein beklemmender Roman vom Nobelpreisträger Coetzee, schwer verdaulich und ärgerlich, doch packend und interessant, geschrieben in einem beinahe lapidaren, lakonischen, auf jeden Fall sehr gradlinigen Stil, ausgezeichnet gar mit dem Booker Preis 1999. Lesenswert, aber beunruhigend und verstörend.

 

 

 

J. M. Coetzee, Schande

Roman, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

Taschenbuch, 288 Seiten

Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2001

...liest gerade "Für immer die Alpen" von Benjamin Quaderer

Johann Kaiser ist untergetaucht.
Im Zeugenschutzprogramm blickt er auf sein Leben zurück und dabei wird ihm eines klar: Wenn die Falschen ihn finden, ist seine Geschichte vorbei, bevor er sie zu Ende erzählt hat.

 

Johann Kaiser schreibt seine Memoiren. Er erzählt von seiner Kindheit in Liechtenstein, diesem kleinen Staat zwischen der Schweiz und Österreich, wo jeder jeden kennt, er erzählt vom frühen Verlust seiner Mutter, den er nicht wahrhaben will und auf deren Suche er sich Zeit seines Lebens befindet, und er erzählt von dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der ihn mit solch Gleichgültigkeit behandelt, als wäre er nicht sein Sohn. Er erzählt von den Waisenhäusern, in denen er sein Dasein fristen musste, obwohl er bereits als Kind hoch veranlagt, wenn nicht sogar genial war.

 

Eines Tags findet er eine große Fürsprecherin, die ihn aus der Kälte der Heime herausholt. Es ist keine geringere als die Fürstin von Liechtenstein, die ihm eine angemessene Erziehung und ein sorgenfreieres Leben beschert. Allerdings wird genau diese Verzahnung mit dem Herrscherhaus die Grundsteinlegung für ebenjenes zwiespältige Verhältnis zur Heimat, das ihm zum Verhängnis wird.

 

Als die Fürstin stirbt, sucht er nach Halt in einer Welt, die ihm keinen Halt schenkt und irrt umher. Er versucht sein Umfeld zu bezirzen, prahlt, gibt sich als reicher Erbe aus, kauft Häuser und Yachten, bis er auf die Falschen stößt, die ihn nach Argentinien entführen, gefangenhalten und misshandeln. Nach seinem Martyrium will er Gerechtigkeit, die der Staat Liechtenstein ihm jedoch größtenteils verwehrt. Und als wäre es ein Wink des Schicksals, fallen ihm plötzlich die Steuersünderdatein Liechtensteins in die Hände, mit denen er seinem Wunsch nach Gerechtigkeit Nachdruck verleihen kann.

 

"Für immer die Alpen" ist wahrscheinlich das erstaunlichste Debüt, das ich jemals gelesen habe. Es ist die Lebensbeichte Johann Kaisers, der in der Verbannung lebt, einsam und verlassen, und nur weiter leben kann, solange er erzählt und so lange seine Geschichte weiter erzählt wird. Erzählt wird aber auch mit viel Fachwissen über den tatsächlichen Fall von Heinrich Kieber, dessen Lebensgeschichte den Grundstock der Erzählung bildet.

Es ist ein Hochstaplerroman, beinahe ein Schelmenroman, der mit allerlei literarischen Tricks spielt. So gibt es geschwärzte Passagen, Unmengen an Fußnoten, die mal mehr, mal weniger Sinn ergeben, EMails, doppelte Geschichten, synoptische Gegenüberstellungen, Auszüge aus Sachbüchern und vieles mehr. Dem Leser bietet sich während der Lektüre ein Sammelsurium an literarischen Einfällen, die die Literatur in ihrer ganzen Fülle neben stringend erzählten Welten zu bieten hat.

 

Der Roman ist witzig, schräg, verrückt, großartig und größenwahnsinnig. Er ist mutig und verspielt und von einer besonderen Leichtigkeit des Erzählens durchzogen. Ein Roman über Liechtenstein und seine Machenschaften. Ein Roman über die Literatur und ihre Möglichkeiten. Ein Roman über das Erzählen und dessen Sinn.

Vielleicht wiederholen sich manche Spielchen zu oft, vielleicht sind manche Stellen nicht ganz ausgefeilt, und trotzdem ist es für mich einer der großartigsten und ambitioniertesten Romane dieses Jahres!

 

 

 

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen

Roman

Hardcover, 592 Seiten

Luchterhand Verlag, München 2020

Auf der Suche nach der verlorenen Gelassenheit

Heute aus der kleinen Bibliothek der Weltweisheit: Seneca.

Was kann man gegen diese Unruhe und Unrast, gegen diese Unzufriedenheit und Unausgeglichenheit im Leben machen?

Seneca stellte vor beinahe 2000 Jahren schon etliche Tipps auf, die in heutigen Lebensratgebern immer wieder als neuzeitliche Erkenntnis gepriesen und stets aufs Neue aufgelegt werden.

Er rät dazu, seine Begabung zu finden und daran festzuhalten, ohne Druck seinen Talenten nachzugehen, auf naheliegende und erreichbare Ziele hinzuarbeiten, sich aber auch Ruhepausen und Abwechslung hinzugeben. Zudem sollte man richtige Freunde wählen und negative Personen meiden. Ebenso ist es von Vorteil, wenig zu besitzen, Genügsamkeit zu lernen, im Hier und Jetzt zu leben und Vergänglichkeit und Tod zu akzeptieren. Man sollte Mut zu Veränderung aufbringen, da sich ohnehin alles stets im Wandel befindet. Und man sollte besser über die Dinge lachen als über sie zu jammern. Letzlich ist es besonders wichtig, Kraft und Freude aus sich selbst zu ziehen und sich nicht hinter einer Maske zu verstecken.

"Lernen wir, die Enthaltsamkeit zu steigern, der Genußsucht Schranken zu setzen, das Streben nach Anerkennung zu mäßigen, den Jähzorn zu dämpfen, die Armut gelassen zu betrachten, die Genügsamkeit in Ehren zu halten, auch wenn sich so mancher ihrer schämen wird, den natürlichen Bedürfnissen durch leicht zu beschaffende Mittel Befriedigung zu verschaffen, ungezügelte Hoffnungen und Einstellungen, die ständig auf Künftiges ausgerichtet ist, gleichsam in Fesseln zu halten und es dahin zu bringen, daß wir Reichtum mehr von uns selbst als vom Schicksal erwarten."

Vielleicht sollte man öfter in die klassischen Schriften der Philosophie eintauchen, um in die Erkenntnisse des Lebens einzublicken, die heute noch genauso aktuell sind wie damals.

 

 

 

...liest gerade "Hunger" von Knut Hamsun

Mal wieder Zeit für einen echten Klassiker!

 

Einfach ein atemberaubender Roman! Die Darstellung von Hunger gelingt hier so überzeugend, plastisch und ausdrucksvoll, dass man während der Lektüre selbst mithungert und das wilde Knurren im Magen nicht unterdrücken kann. Durch die damalige neue Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms spürt man geradezu in jeder Faser die Zerrissenheit zwischen Scham und Stolz, zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, zwischen Verdruss und Hoffnung, die den Protagonisten zersetzt und immer weiter an den Rand der Gesellschaft drängt.

 

Es ist die Geschichte eines verarmten (Überlebens-)Künstlers, die die gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwirft und mitten hinein in die Frage zielt: Was ist Kunst und was ist Dilettantismus? Braucht Kunst einen besonderen Nährboden, um zu entstehen? Entsteht sie erst durch Ablehnung, durch Armut und Existenznöte? Erfährt man Inspiration erst durch Leid und Verdruss? Oder sind das nur schwachsinnige Gedankengänge eines obdachlosen Dilettanten?

 

Besonders spannend ist die Fragestellung hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Romans, denn Knut Hamsun litt selbst an Hunger, während er die Geschichte schrieb, die ihm ab 1890 zu seinem weltweiten Ruhm verhalf.

 

Ein herausragender Roman, witzig und zugleich erschreckend!

 

 

 

Knut Hamsun: Hunger

Roman, aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel

Taschenbuch, 160 Seiten

Ullstein Verlag, Berlin 2017

Zum Gedenken an Paul Thomas Mann

Der Zauberer. Der Stilist. Der Ironist. Der Schriftsteller des Großbürgertums. Der raunende Beschwörer des Imperfekts. Der Nobelpreisträger. Der Exilant. Der Mythologe. Der Kämpfer gegen das Dritte Reich...

 

PAUL THOMAS MANN

 

Heute wird der 145. Geburtstag des Schriftstellers begangen, einer der größten und bedeutsamsten des letzten Jahrhunderts. In einer bewegten und von tiefen Umwälzungen beeinflussten Lebenszeit, die vom alten Kaiserreich über den 1. Weltkrieg, die Weimarer Republik und den 2. Weltkrieg bis in die Anfänge des Kalten Krieges reichte, lebte er ein durchaus bewegtes Leben, geprägt durch Großbürgertum, Zerrissenheit zwischen Künstlertum und Bürgerlichkeit, Verwerfungen mit seinem Bruder Heinrich angesichts seiner eigenen Treue für das Kaiserreich, Arrangement mit der ersten deutschen Demokratie, Flucht und Vertreibung durch die Barberei des Nationalsozialismus, Verlust der Heimat und Leben im Exil, Kampf gegen das Dritte Reich sowie geprägt durch eine große, zwischen Genie und Wahnsinn wankenden Familie, deren schmerzhaftester Höhepunkt sicherlich der Freitod des Sohnes Klaus darstellte.

 

Biographien, Filme, Dokumentationen gibt es zuhauf über Thomas Mann im Speziellen, als auch über die ganze Familie. In all den Annäherungen an den Mythos Thomas Mann, in all den Spekulationen über Homosexualität, Familienbande und politische Einstellungen bleibt seine literarische Leistung jedoch unvergessen, darunter besonders seine beiden Romane "Buddenbrooks", mit dessen Geschichte über den Verfall einer Kaufmannsfamilie er die Epoche des literarischen Realismus beschloss und für den er schließlich Jahre später den Nobelpreis erhielt, als auch "Der Zauberberg", dieses philosophische und politische Großwerk im Stile eines opulenten und ausschweifenden Bildungsromans. Unerwähnt bleiben darf natürlich auch nicht seine Novelle "Der Tod in Venedig", in der er seine Lieblingsthemen vereinte: Künstlerproblematik, Mythologie, Dekadenz und Tod.

 

Vor beinahe 10 Jahren schrieb ich meine Magisterarbeit allerdings über ein Spätwerk Thomas Manns. "Doktor Faustus" greift nicht nur den Faustmythos auf, den Pakt mit dem Teufel, um in Verzicht auf menschliche Wärme und Nähe unmenschliche Kreativität zu erlangen, sondern ist ebenso ein Epochen-, Gesellschafts-, Künstler- und vor allem Musikroman. Scharfsinnig, stilistisch brillant und ironisch gebrochen wird hier das Leben von Adrian Leverkühn erzählt, der - angelehnt an Nietzsche - an der Syphilis erkrankt und sein Leben der Kunst widmet.

 

Auch 145 Jahre nach seiner Geburt sowie 65 Jahre nach seinem Tod sind die Werke Thomas Manns immer noch eine literarische Reise wert, die ich nur jederfrau und jedermann empfehlen kann.

 

 

 

...liest gerade "Der Report der Magd" von Margaret Atwood

Der Präsident wurde erschossen - und mit ihm gleich der ganze Kongress.
Folgerichtig wird der Notstand ausgerufen und die Verfassung aufgehoben.
Nur wenige demonstrieren gegen die immer drastischeren Verfügungen und nur wenige lehnen sich auf, als schließlich auch die Rechte der Frauen beschnitten werden.
Und plötzlich ist die da - die Diktatur.

 

Desfred (im Original: Offred) ist 33 Jahre alt. Sie arbeitet als Magd bei einem Kommandaten. Da die Geburtenzahlen schon seit langem zurückgehen, vermutlich durch die erhöhte Radioaktivität in der Atmosphäre, besteht ihre einzige Aufgabe darin, Kinder zu bekommen. Und so soll sie dem Kommandaten einen Spross schenken. Beim zeremoniellen Akt legt sich die Ehefrau des Kommandanten hinter die Magd und hält sie fest, so dass jene symbolisch geschwängert wird und die Magd nur als Vermittlerin gilt, die das Kind des Ehepaares austragen soll.

 

Mädge gibt es viele in dieser schönen neuen Welt und sie alle führen ein karges Leben. Nach der Indoktrination durch sogenannte Tanten, die Vertrauenspersonen und (Um)Erzieherinnen in einem sind, sollen die jungen Frauen von Haus zu Haus geschickt werden und ihren Vorstehern Nachkömmlinge schenken. Beziehungen zu anderen Menschen sind ihnen verboten, überall lauern Wächter und Augen, die Gesetzesübertretungen ahnden. Als Abschreckungen dienen nicht nur die Kolonien, in denen die Verbannten unter lebensunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, sondern auch öffentliche Hinrichtungen.

 

Desfred lebt in einem diktatorischen Patriarchat, wenn auch nicht alle Männer über gleiche Rechte verfügen. Erinnerungen bestürmen sie manches Mal, Erinnerungen an das alte Leben, das Leben mit ihrer Mutter, mit ihrem Freund, mit ihrem Kind. Seit ihrem Fluchtversuch vor ein paar Jahren weiß sie nicht, wie es ihnen ergeht oder ob sie überhaupt noch leben. In ihrer ausweglosen Situation denkt sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Doch dann bietet sich plötzlich unverhofft eine Gelegenheit, dem Albtraum zu entkommen. Fragt sich nur, ob sie die Chance nutzen wird.

 

Bereits 1985 erschienen, wird "Der Report der Magd" gerne mit "1984" von Orwell und "Brave New World" von Huxley in einem Atemzug genannt. Haben mich die ersten beiden Romane vor Jahren noch fasziniert, hat mich die Geschichte um Desfred nicht recht packen und berühren können. Womöglich ist es der Tasache geschuldet, dass ich Dystopien immer weniger abgewinnen kann, da sie einem immer gleichen Schema folgen. Die Charaktere waren mir auf jeden Fall zu blass, die Geschichte, besonders hinsichtlich des Gesellschaftsmodells, um das sich hier ja alles dreht, zu dürftig. Allerdings hat mich das Ende (hervorragend!) mit dem Roman versöhnt und die bohrenden Fragen nach Erzählhaltung und Absicht des Reportstils beruhigt.

 

Auch wenn ich nicht so begeistert bin, wie der große Rest der Leserschaft, ist der Roman nichtsdestotrotz eine gelungene Dystopie, die besonders durch den Fokus auf ein diktatorisches Patriarchat und damit auf die Unterdrückung der Frau leider nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat.

 

 

 

Margaret Atwood: Der Report der Magd

Roman

Taschenbuch, 416 Seiten

Piper Verlag, München 2017

...liest gerade "Allegro Pastell" von Leif Randt

Das ist die Geschichte von Tanja und Jerome, zweier Kinder der 80er Jahre.
Sie ist Autorin eines vielbeachteten Romans. Er ist Webdesigner.
Zusammen sind sie ein Paar, ein Paar, das sich liebt, ein Paar, das sich verliert.

 

Tanja lebt im hippen Berlin, fliegt zu Lesungen, geht auf Partys, nimmt hin und wieder Drogen, wenn auch nicht mehr so exzessiv wie früher einmal. Geleitet von hohen Idealen, verstößt sie nur allzu oft gegen sie, doch diesen Widerspruch findet sie normal.

 

Jerome hingegen lebt in Maintal, im alten Haus seiner Eltern, das er gekauft hat. Er liebt Ordnung und Struktur. Auch er geht noch auf Partys, doch auch sein Drogenkonsum hat mit den Jahren abgenommen. Tanja und Jerome führen eine Fernbeziehung, offen und liberal, in der jeder machen kann, was er möchte, eine Beziehung, in der die Grenzen nicht wirklich abgesteckt sind. Sie geben sich Raum, weil sie sich lieben und so läuft alles gut, bis irgendwann alles aus dem Ruder läuft.

 

Auf den ersten Blick ist es eine Liebesgeschichte, wie sie banaler nicht sein könnte. Und doch steckt viel mehr in diesem kurzen Roman, der gerade seine Runden durch sämtliche Blogs und Feuilletons dreht. Denn diese Erzählung versucht sich als Geschichte einer ganzen Generation aufzuspielen. Auch wenn natürlich keine stringente Homogenität innerhalb einer Generation vorherrscht, verbindet doch viele Menschen derselben Generation ein Gefühl oder ein Zustand, der sie und/oder ihr Umfeld geprägt hat.

 

Und so stehen hier die Kinder der 80er im Mittelpunkt, die sogenannte Generation Y ("Why"). In dieser gängigen Zuschreibung liegen bereits die Eigenschaften dieser Generation, die der Erzähler wunderbar und zugleich äußerst nervig nachzeichnet. Jedes Wort, jede Aktion, jede Bewegung wird hinterfragt, wird bis zur Unendlichkeit überdacht, analysiert, verglichen, bewertet und berechnet. Daraus entsteht eine Angewohnheit, die Angewohnheit, sich nicht richtig festlegen zu können, denn alles kann man auch von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Man schwankt hin und her, möchte sich alles offen halten, denn man will nicht auf Genaueres festgelegt werden. Man kann sich nicht entschließen, denn immer wühlt der Gedanke im Kopf herum, dass noch eine bessere Chance im Leben kommen könne. Alles ist Allegro (italienisch: fröhlich, ausgelassen; oder in der Musik: schnell) und Pastell (zart, blass) zugleich.

 

Hier muss ich wirklich einmal gestehen: Die Lobeshymnen sind absolut berechtigt. Vielleicht berührt mich der Roman auch so sehr, weil er genau meine Generation nachzeichnet und ich mich selbst und andere nur zu gut in vielen Denkmustern wiedererkenne. Der Ton ist lässig und witzig, die Geschichte hingegen melancholisch und nervig aufgrund der Verhaltensweisen und Entscheidungen, die die Protagonisten treffen. Aber der Roman ist vor allem eines: absolut lesenswert!

 

Am Ende stellt sich mir eigentlich nur die Frage: Wer ist dieser Leif Randt? Warum habe ich noch nie etwas von ihm gehört?

 

 

 

Leif Randt: Allegro Pastell

Roman

Hardcover, 288 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2020

...liest gerade "Der Mann mit der Ledertasche" von Charles Bukowski

Vom Aushilfsbriefträger und Alkoholiker zum Romancier.

 

Henry Chinaski schlägt sich durchs Leben. Wechselnde Jobs, wechselnde Freundinnen, wechselndes Glück. Er lebt von der Hand in den Mund. Abends trinkt er sich beinahe bis zur Bewusstlosigkeit.

 

Dann beginnt er als Aushilfsbriefträger. In der Post wird er von den Vorgesetzten schickaniert, muss immer die schwierigsten und dreckigsten Routen übernehmen. Harter Arbeitsalltag und wenig Abwechslung kennzeichnen sein Leben. Mal steigt er aus, verdient Geld bei Pferderennen, mal heiratet er, doch immer wieder kehrt er zurück zur Post, der er nicht zu entkommen scheint und die ihn auffrisst. Eines Tages setzt er sich dann an seinen Tisch und schreibt sein Leben auf.

 

Zugegebenermaßen ist dies mein erster Roman von Bukowski. Geschildert wird das harte Leben des einfachen Mannes im so glorreichen Amerika, eines Menschen zweiter Klasse, der einer stumpfsinnigen Arbeit nachgehen muss und den Vorgesetzten ausgeliefert ist. In solch einem System zählt der Einzelne wenig, dafür herrschen Rassismus, Unterdrückung und Willkür vor.

 

"Der Mann mit der Ledertasche" ist zu einem modernen Klassiker geworden, witzig und erschreckend zugleich. Der Ton ist derb, grob, vulgär und flappsig. Und dennoch mangelt es nicht auch an feinfühligen Szenen, die hin und wieder mal aufleuchten. Was "Faserland" für die Bohème, ist dieser Roman für die Unterschicht - das Spiegelbild einer erniedrigten Gesellschaft, die sich durchschlagen muss.

 

Eine sehr kurzweilige Erzählung, die Lust auf mehr Bukowski macht.

 

 

 

Charles Bukowski: Der Mann mit der Ledertasche

Roman

Taschenbuch, 208 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2004 (Erstausgabe 1971)

...liest gerade "Solenoid" von Mircea Cărtărescu

Sind es Träume? Sind es Halluzinationen?
Vielleicht Erinnerungen? Oder gar Psychosen?
Eine phantasmagorische Traumwelt bricht mit Gewalt in seinen Wachzustand ein. Die Wirklichkeit scheint zu fließen, unerklärliche Dinge ereignen sich. Das Leben will ihm etwas sagen, will ihn auf etwas stoßen, will ihm etwas zeigen.
Nur was?

 

Als Kind litt er an Tuberkulose, war rachitisch, schwächlich und blässlich. Als Außenseiter fand er Leben und Freude nur in der Literatur. Seitdem er seine Hoffnungen zu Grabe tragen musste, selbst Schriftsteller zu werden, irrt er durchs Leben, verdingt sich als Lehrer, indem er stumpfsinnige Kinder unterrichtet, und verirrt sich durch die Vororte Bukarests.

 

Sein Rückzugsort vor der prosaischen, verwirrenden Welt ist sein Haus, unter dem es wummert und brummt, denn in der Erde liegt ein Solenoid begraben. Vor dem Einschlafen schaut er sich Stücke seiner Vergangenheit an, die er in der Schublade seines Nachttisches sammelt, befremdliche Stücke eines früheren Lebens: Teile seiner Nabelschnur, die Zöpfe seiner Kindheit, die Reste seiner Milchzähne.

 

Seit den Träumen seiner Kindheit beherrscht ihn eine Unruhe, eine Unruhe hinsichtlich des Nichts, das hinter allem lauert. Er ist überspannt, neurotisch und sammelt die Teile seines früheren Ichs, als müsste er sich seiner selbst vergewissern. Nun schreibt er einen Bericht über die Anomalien, die sein Leben kennzeichnen, denn überall sieht er Zeichen und Hinweise. Es stellt sich allein die Frage: Wie soll er sie deuten?

 

Was für ein großartiges, geniales, wahnsinniges, grenzensprengendes Werk!

 

Mircea Cărtărescu versucht nichts weniger, als sich das Universum durch Sprache anzueignen. Essayistische Abhandlungen über das Leben und die Zeit, über die Milliarden Möglichkeiten jeden Augenblicks, über die Literatur und ihre Schattenseiten, über Bücher und ihre Macht, dazu ausführliche Biografien von Wissenschaftlern der Mathematik, Pathologie und Naturkunde, ebenso wie Gedankenexperimente, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen und nur auf ein Ziel ausgerichtet sind: die Bestimmung der vierten Dimension.

 

Bei der Lektüre wird einem schwindelig. Fiktion und Realität gehen Hand in Hand und schließlich ineinander auf. Träumerisch wird das Leben des namenlosen Protagonisten erzählt, immer bedrochlich, beängstigend, erschreckend, immer surreal. Man muss sich auf die 900 Seiten Wahnsinn einlassen, die durchaus Längen aufweisen, aber lohnen, denn man taucht daraus als ein anderer hervor.

 

Ein absolut größenwahnsinniges, im wörtlichsten Sinne unfassbares, aber geniales Werk, das ich wirklich nur empfehlen kann!

 

 

 

Mircea Cărtărescu: Solenoid

Roman

Hardcover, 912 Seiten

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019

...liest gerade "Herbst" von Ali Smith

Das Paar könnte gegensätzlicher nicht sein.
Sie - ein junges Mädchen, aufgeweckt, oft allein gelassen.
Er - Rentner, gebildet und kunstinteressiert.
Doch zwischen ihnen entspinnt sich eine Freundschaft, die ein Leben lang halten wird.

Als Elisabeth vom Zustand ihres Freundes hört, bricht sie ihre Zelte in London ab, wo sie als Kunsthistorikerin an der Universität arbeitet, und quartiert sich bei der Mutter ein. Sie will ihrem alten Freund nahe sein und besucht ihn im Krankenhaus, wo der mittlerweile 101jährige Daniel Gluck vor sich hin phantasiert. An seinem Bett liest sie ihm vor und blickt auf die einmalige Freundschaft zurück, die sie immer noch verbindet.

Als Elisabeth ein Kind war, passte der schon damals uralte Nachbar zeitweise auf sie auf. Zu zweit gingen sie spazieren und unterhielten sich angeregt. Dabei öffnete Daniel ihr nicht nur die Welt der Bücher, sondern auch die Augen für die Kunst und die Wunder des Lebens.

Nun irrt Elisabeth durch ihre Heimatstadt, die genauso zerrissen scheint wie der Rest des Landes. Denn nicht nur der alte Freund siecht dahin, sondern auch das Großbritannien der Gegenwart, in dem Abgrenzung, Hass auf Fremde und Wut auf Eliten ansteigen. Es ist 2016 - die Abstimmung über den Brexit ist erst wenige Wochen alt. Und Elisabeth schaut skeptisch in die Zukunft.

Ali Smith schreibt eine Tetralogie über das gegenwärtige Großbritannien. "Herbst" ist dabei der erste Band der Reihe, der im Original schon 2016 erschienen ist. Eine Besonderheit liegt in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Schreibakt und der Veröffentlichung der Bücher. Denn so bewahren die Romane ihre hohe Aktualität. Momentan arbeitet Ali Smith am vierten und letzten Band: "Sommer". Ob es darin um das Corona Virus geht, wird bald zu sehen sein.

In Anlehnung an Pauline Boty, die erste und wohl einzige Künstlerin der britischen Pop-Art, entsteht die Erzählung in "Herbst" wie eine Collage, in der sich aus einzelnen Stücken das Bild ergibt. Die Kritiken überschlagen sich mit Lob über die feinfühlige Poesie der Sprache und betiteln den Roman als DEN Brexitroman.

Ich frage mich derweil allerdings, ob ich denselben Roman gelesen habe, denn mich hat er weder berührt noch bewegt. Die Collagenhaftigkeit finde ich hier eher nervig, die Verbindung zwischen der alten Freundschaft und dem Brexit langweilig, die Sprache - womöglich auch wegen der Übersetzung - keineswegs so poetisch. Viele Themen werden aufgeworfen, aber nur gestreift. Und am Ende weiß ich nichts damit anzufangen. So bleibt ein gepriesener Roman, der keinerlei Nachklang in mir findet.

 

 

 

Ail Smith: Herbst

Roman

Hardcover, 272 Seiten

Luchterhand Literaturverlag, München 2019

...liest gerade "Lincoln im Bardo" von George Saunders

Wieder und wieder wollte er auf seinem neuen Pony reiten. Die Eltern ließen ihn gewähren, obwohl es regnete und spürbar abkühlte.
Dann erkrankt das Kind und stirbt. Der Tod reißt den Vater aus dem Leben und verändert ihn grundlegend - ein Krisenmoment der amerikanischen Geschichte, denn der Vater ist nicht irgendjemand, der Vater ist Abraham Lincoln.

 

An dem Tag, an dem sein Sohn stirbt, lädt Lincoln zu einem seiner prunkvollen Staatsbankette in sein Anwesen. Die Gäste staunen ob der Kostspieligkeiten, die ihnen geboten werden. Prächtige Gerichte und Getränke werden aufgetischt, exotische Blumen und mehrstufige Lüster zieren die Räumlichkeiten. Atemberaubende Düfte umwehen die Anwesenden. Tanz und Musik werden gegeben, obwohl Krieg herrscht, ein Krieg, in dem Tausende sterben. Und obwohl Willie, der junge Sohn der Lincolns, in seinem Bett liegt und vom Fieber dahin gerafft wird.

 

Als das Kind schließlich den Tod findet und begraben wird, kann Lincoln den Verlust des Lieblingssohnes nicht verkraften. Nachts schleicht er auf den Friedhof, öffnet den Sarg, um seinen geliebten Sohn noch einmal in den Arm zu nehmen. Er hadert, mit sich selbst, mit dem Leben, will nicht loslassen, will es nicht wahrhaben.

 

Und plötzlich geschieht etwas mit ihm. Denn ist der Sohn tatsächlich schon im Jenseits? Ist er schon entschwunden? Oder irrt er noch umher, in einer Zwischenwelt, irgendwo zwischen Hier und Da?

 

George Saunders hat eine einfühlsame Geschichte geschrieben, die zutiefst berührt, eine Geschichte über ein doppeltes Loslassen, ein Loslassen von den Toten, aber auch ein Loslassen vom Leben. Das herausstechendste Merkmal ist dabei jedoch die Form, die keinen einheitlichen Erzähler aufweist, sondern sich in zwei Handlungsstränge aufteilt. Die Geschichte um den verzweifelten Vater wird aus Ausschnitten aus Briefen, Büchern, Memoiren, Berichten, Essays, Tagebüchern, Zeitungen u.a. rekonstruiert, die stimmgewaltig nicht nur die damalige Zeit heraufbeschwören, sondern sich auch teilweise widersprechen. Im Bardo, im Zwischenzustand des Geistes, in den Willie eingetreten ist, treten dagegen eine Vielzahl an Geistern aus vielen vorangegangenen Jahrzehnten auf, die munter miteinander plappern und die doch alle dasselbe eint: Sie hängen noch am Leben und können nicht gehen. Sie können nicht loslassen.

 

"Lincoln im Bardo" ist ein Geisterroman, der durch die Themen Trauer und Tod bewegt und zugleich mit Witz und Scharfsinn, mit Komik und schwarzem Humor aufwartet. Es ist ein Pamphlet für das Leben, der durch seine Einzigartigkeit besticht. Ein sehr lesenswerter Roman!

 

 

 

George Saunders: Lincoln im Bardo

Roman

Taschenbuch, 448 Seiten

btb-Verlag, München 2019

...liest gerade "Das flüssige Land" von Raphaela Edelbauer

Ein pittoreskes Dorf, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist.
Eine seltsame Gesellschaft, in der unerklärliche Dinge geschehen.
Und ein Loch, das sich immer weiter unter das Dorf frisst und es zu verschlingen droht.

 

Ruths Eltern sind verstorben. Ihr letzter Wille: Sie wollen in ihrer Heimat begraben werden. Und so macht sich die Physikerin auf, Groß-Einland zu finden, ein Dorf, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist und das niemand zu kennen scheint, ein Dorf, zu dem keine Wege führen und zu dem sie erst über viele Umwege findet. Ein Dorf, das sie verblüfft und erstaunt. Ein Dorf, das sie einnehmen wird.

 

Pittoresk schmiegt es sich in die Landschaft Österreichs, ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint. Die Gesellschaft mutet seltsam an, regiert von einer Gräfin, die in einem Schloss auf einem Hügel thront. Als sie einander kennenlernen, ist Ruth überrascht, dass die Gräfin vieles über sie und ihre Eltern weiß. Obwohl sie Abneigungen gegen die Gräfin hegt, nimmt sie ihr Arbeitsangebot an. Pünktlich zur Kunstaktion, zu der Touristen aus der ganzen Welt angelockt werden sollen, soll sie einen Stoff entwickeln, der das Dorf zu stützen vermag. Denn unter dem Dorf gähnt ein weit ausufernder Hohlraum, der immer weiter um sich greift. Das Dorf sackt ab, die Häuser biegen sich und zerfallen. Das Loch frisst das Dorf auf. Doch so dringend es auch wäre, etwas dagegen zu unternehmen, schließen die Einwohner die Augen vor dem Zerfall und arrangieren sich mit den Unannehnlichkeiten, mit den Rissen und Absackungen, mit den Einstürzen und letztlich auch mit den Toten.

 

Während Ruth immer tiefere Wurzeln in die Gesellschaft schlägt, schreibt sie weiter an ihrer Habilitation über das Verhältnis von Zeit und Raum, in der sie aufzeigen will, dass die Zeit nicht existiert, dass alles nur Metapher ist und Vergangenheit und Zukunft nur aus der Gegenwart aufgestellte Projektionen sind, deren Räume sich durch Erinnerungen stets ändern. Den Rest des Tages arbeitet sie für die Gräfin, forscht nach einem Mittel und stellt eigene Nachforschungen an. Wollte sie anfangs nur ein paar Tage bleiben, werden es am Ende Jahre sein, Jahre, in denen sie sich immer tiefer in das Dorf gräbt, das ein Geheimnis zu bergen scheint. Denn was liegt in dem Loch verborgen, das nun ans Tageslicht drängt?

 

Ein Debütroman wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns. Ausgefeilte Sätze und eine abstruse Szenerie, irgendwo zwischen "Alice im Wunderland" und "Der Prozess". Dazu wirft er Fragen nach Zeit und Raum auf, nach Erinnerung und Verdrängung, nach Geschichte und Gegenwart, nach Schuld und Sühne. Vielschichtig und tiefgründig erzählt, bietet die Geschichte einen großen Interpretationsspielraum, der auf vielerlei Wegen psychologisch begangen werden kann.

 

Ein großartiger Roman, der zurecht auf der Shortlist des letztjährigen Deutschen Buchpreises stand.

 

 

 

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land

Roman

Hardcover, 350 Seiten

Klett-Cotta, Stuttgart 2019

...liest gerade "Das Gewicht der Worte" von Pascal Mercier

Der Schrecken: eine Art Schlaganfall.
Die Diagnose: nur noch wenige Monate zu leben.
Die Folge: mit dem Leben abschließen.
Die Überraschung: eine neue Chance.

 

Simon Leyland ist fasziniert von Sprachen, von Wörtern und den Lebenswirklichkeiten, die sie erbauen. Schon als Kind, da er bei seinem Onkel eine alte Karte des Mittelmeers bestaunte, hegte er den Wunsch, alle Sprachen der mediterranen Länder zu erlernen. Tief eingebunden in intellektuelle Zirkel führt er neben seinen Übersetzungsarbeiten den Verlag seiner Frau weiter, die vor Jahren verstorben ist. In Briefen schreibt er ihr weiterhin, um sie nicht gänzlich zu verlieren.

 

Plötzlich bricht er zusammen und erhält eine Diagnose, die sein Leben in Scherben schlägt: Hirntumor, inoperabel. Nur noch wenige Monate werden ihm in Aussicht gestellt, bis der Krebs ihn zersetzt hat. Schockiert zieht er sich zurück, verkauft schweren Herzens den Verlag und versucht mit dem Leben abzuschließen. Im Angesicht des Todes quälen ihn Fragen, ob er eigentlich das Leben geführt habe, das er erträumt hatte, ob er die Zeit wirklich genutzt habe, die ihm gegeben worden war. Seine Kinder und eine Vielzahl an Bekannten begleiten ihn in diesen schweren Tagen, die seine letzten sein sollen.

 

Doch dann eröffnet man ihm, dass es eine Verwechslung gab. Statt eines Hirntumors leidet er lediglich an Migräne. Nach elendigen 77 Tagen steht Leyland plötzlich wie neugeboren da und stellt sich nur noch eine Frage: Was nun anfangen mit der unerhofften zweiten Chance im Leben?

 

Pascal Merciers Romane werden von seinen Fans geliebt und gefeiert, von Kritikern jedoch meist argwöhnisch beäugt. Dieser Roman macht da keine Ausnahme, auch bei mir nicht.

 

Das Thema lässt das Herz jeden Literaturliebhabers höher schlagen. Denn im Mittelpunkt steht die Faszination für Wörter, für die Feinheiten der Sprachen, es geht um Literatur und deren Übersetzungsmöglichkeiten, um das Fühlen und Denken in verschiedenen Sprachen, deren Strukturen eine andere Aneignung der Welt und Wirklichkeit nach sich ziehen. Es geht aber auch um Erinnerungen, vergessenen, und um die drängendsten aller Fragen: Was ist wirklich wichtig im Leben? Was verleiht Sinn? Und nutze ich eigentlich diese einmalige Zeit?

 

So inspirierend die Gedankengänge manchmal wirken, so profan sind sie natürlich auch. Jeder stellt sich diese Fragen wohl öfters in seinem Leben. Zudem geschieht nichts Aufregendes, nichts Überraschendes, es entsteht keinerlei Reibung. Die Geschichte plätschert ein wenig vor sich hin. In den Briefen an seine Frau, die Leyland immer weiter führt, werden alle Geschehnisse des Romans nochmals erzählt. Eine langwierige Wiederholung, derer es wirklich nicht bedurfte. Zudem gleichen sich die Figuren in vielerlei Hinsichten, ausnahmslos sind sie gebildet, kosmopolitisch, sensibel und sinnlich. Stets vertreten sie die gleiche Meinung und lassen sich leicht für die gleichen Dinge faszinieren. Die Menge an Personal, die aufgeboten wird - Verleger, Schriftsteller, Übersetzer, Künstler, Leser - ist in gewisser Weise austauschbar.

 

Gespalten lässt mich der Roman somit zurück, der einen zwar durch die Seiten fliegen lässt, aber nichts Außergewöhnliches birgt. Es ist eine sehr klassisch erzählte Geschichte mit einigen berührenden und kitzelnden Gedankengängen, die aber angesichts von Gleicheit, Langatmigkeit und Wiederholungen ein wenig in ihrem Potential verstocken.

 

 

 

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Roman

Hardcover, 576 Seiten

Hanser Verlag, München 2020

...liest gerade "Melancholie des Widerstands" von László Krasznahorkai

Seltsame Vorfälle ereignen sich in der kleinen Stadt.

Zuerst beginnt die seit Jahrzehnten verstummte Kirchenuhr zu ticken.
Dann schwankt der gewaltige städtische Wasserturm ohne Grund.
Und obwohl es klirrend kalt ist - viel zu kalt für die Jahreszeit - fällt kein Schnee.
Als wären die Geschehnisse nicht erschreckend genug, zieht plötzlich ein Zirkus in die Stadt ein.
Und mit ihm dunkle Gestalten, die nur eines im Sinn haben - blinde Zerstörungswut.
 
Eine kleine Stadt in Südostungarn. Die Bewohner sind unruhig. Sie merken, dass sich etwas zusammenbraut. Das beängstigende Gefühl befällt sie, dass etwas passieren wird, etwas Einmaliges, etwas Umwälzendes. Die Anzeichen häufen sich, denn außergewöhliche Dinge geschehen. Die Stadt verfällt und geht zugrunde. Müll und Unrat wachsen auf den Bürgersteigen an. Straßenlaternen funktionieren nicht mehr. Waren werden nicht mehr geliefert. Ämter arbeiten nicht mehr. Es fehlt an Medikamenten, an Kohle zum Heizen, der Verkehr ist eingestellt. Die Welt, so wie sie war, scheint unterzugehen.
 
Nur eine Frau lehnt sich gegen den Verfall auf. Frau Eszter plant eine Kampagne, um Ordnung und Sauberkeit in die Stadt zurückzubringen. Doch dazu muss sie ihren Mann gewinnen, ihren Mann, der als Koryphäe in der Stadt gilt, als zurückgezogener Intellektueller, dessen Wort Gewicht hat. Derselbe Mann, der sie aus dem Haus geworfen hat, um endlich in Ruhe und Weltabgewandtheit seine Tage im Bett zu verbringen. Aber Frau Eszter hat einen Plan. Sie will Valuska, einen romantischen Träumer und den einzigen Vertrauten ihres Mannes, in ihr Vorhaben einbeziehen.
 
Doch dann erscheint auf einmal ein ominöser Zirkus in der Stadt, ein Zirkus, der einen riesigen Wal als Attraktion mit sich führt. Doch nicht nur das. Wie eine Welle überschwemmt eine gespenstische Menge die Stadt. Dunkle Gestalten, die dem Zirkus folgen und wie Zombies umherwanken. In einem der Schausteller wollen sie ihren neuen Führer erkannt haben, den Herzog. Und so ist es, als würde die Apokalypse in die Stadt Einzug halten. Denn plötzlich beginnt der Umsturz - und er ist nicht mehr aufzuhalten.
 
Vor einem Jahr las ich den aktuellen Roman von Krasznahorkai, "Baron Wenckheims Rückkehr", und war begeistert. "Melancholie des Widerstands" erschien bereits 1989. Aber schon hier sind alle Zutaten des erzählerischen Genies Krasznahorkais versammelt, denn auch diese Erzählung ist großartig und lässt mich immer mehr daran glauben, dass Krasznahorkai einer der ganz großen und bedeutsamen Romanciers unserer Tage ist.
 
Natürlich muss man sich auf die seitenlangen Sätze und absatzlosen Kapitel einstellen, doch wenn man sich der eigenwilligen Form hingibt, erhält man eine Geschichte, die an Tief- und Scharfsinn, Intellektualität, Komik und Melancholie ihres gleichen sucht. Es ist geradezu ein Sog, in den man gerät, wenn man in die apokalyptische Welt abtaucht, beschworen durch eine bestechende Präzision der Worte und einer einmaligen Fabulierlust. Die in sich verschachtelten Sätze, die stockenden und springenden Gedankengang simulieren, dazu die Perspektivwechsel entfachen einen Lesewahn, dem man sich nicht entziehen kann.
 
Die beschriebene Apokalypse, die letztlich etwas Neues hervorbringt, könnte man u.a. als Allegorie auf den Zerfall des Kommunismus, auf den Aufstieg des Faschismus oder die Durchdringung des Kapitalismus lesen, man könnte den Roman religiös oder gesellschafts- bzw. sozialkritisch deuten. Der Interpretationsmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.
 
Eigentlich lässt sich nur eines sagen: Wer noch nie etwas von Krasznahorkai gelesen hat, sollte es unbedingt nachholen. Ich bin ihm spätestens jetzt verfallen.

László Krazsnahorkai: Melancholie des Widerstands

Roman, aus dem Ungarischen von Hans Skiecki

Taschenbuch, 464 Seiten

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2011

...liest gerade "Metropol" von Eugen Ruge

Ein Gespenst geht um in der UdSSR - das Gepenst des Stalinismus.
Es kommt im Gewand der Angst daher. Denn Menschen verschwinden, werden diskreditiert, verhaftet, verurteilt - hingerichtet.
Es sind Dutzende. Hunderte. Tausende.
Und jeder kann der Nächste sein.

 

Charlotte und Wilhelm sind überzeugte Kommunisten. Sie fliehen vor dem Nationalsozialismus und siedeln in die UdSSR über, in das Land ihrer Träume. Dort herrscht Stalin, an dessen Lehren und Wirken sie unbeirrt glauben. Schon in Deutschland arbeitete das Paar für die Kommunistische Internationale, die Weltorganisation der kommunistischen Parteien.

 

Doch dann beginnt der Terror. Die Verhaftungswelle Stalins überschwemmt die Abteilung für Internationale Verbindungen, in der sie arbeiten. Zunehmend geraten die Mitarbeiter ins Fadenkreuz, werden verhaftet und bei Schauprozessen vorgeführt. Als auch noch Bekannte von Charlotte und Werner verurteilt werden, zweifeln sie selbst an ihrem Urteilsvermögen und können nicht fassen, dass sie mit Verrätern befreundet waren. Durch ihre Bekanntschaften machen sie sich allerdings verdächtig und so schnürt sich die Schlinge immer weiter zu. Überall lauern plötzlich Verrat, Angst und Denunziation.

 

Bald schon werden sie gezwungen, ins Hotel Metropol umziehen, ein Ort, an den Menschen geschickt werden, denen der unwiderrufliche Makel des Verrats anhaftet. Immer wieder ziehen neue Kollegen in das Hotel ein, und immer wieder verschwinden alte von einem auf den anderen Tag. Glauben Charlotte und Werner anfangs weiterhin an die Theorien des Kommunismus und damit an die erbarmungslosen Säuberungsaktionen des Regimes, schleichen sich mit der Zeit Zweifel ein. Als sie schließlich aufwachen, ist es jedoch zu spät und sie blicken erschrocken dem entgegen, was ihnen selbst blühen könnte.

 

Anhand von Originaldokumenten rekonstruiert Eugen Ruge mit dieser Erzählung das Leben seiner Großmutter, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR lebte und agierte. Neben amtlichen Mitteilungen und Bescheiden sowie Akteneinträgen finden sich Briefe, die wie zur Verifizierung des Geschriebenen in Kopie beigefügt sind. Im Epilog beschreibt der Autor sogar seine Herangehensweise an den Stoff und erklärt, was Dichtung und Wahrheit sei. Die Geschichte stellt also einen Roman dar, der zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelt ist, einen Tatsachenroman, der einerseits das Grauen der stalinistischen Verfolgungen deutlich macht, sich andererseits als eine Annäherung an des Autors Großmutter erweist.

 

In der Literaturkritik wurde der Roman hochgelobt und gefeiert. Auch ich finde ihn durchaus lesenswert. Dennoch kann ich nicht ganz in die Begeisterungsstürme einfallen. Dafür lässt mir die Geschichte zu wenig Raum für Eigeninterpretationen. Lücken, die die eigene Imagination in Gang setzen, kommen nicht vor, vielmehr wird die Angst und Verzweilfung stets aufs Neue nüchtern geschildert, so dass der Effekt irgendwann verpufft.

 

Unweigerlich musste ich bei der Lektüre an "Der Lärm der Zeit" von Julian Barnes denken, da auch dort die stalinistischen Säuberungsaktionen den Hintergrund der Geschichte bilden. Die alltägliche Angst, abgeholt, verurteilt und hingerichtet zu werden, wird hier viel atmosphärischer, da subtiler erzählt. Und so kommen auch Ohnmacht und Verzweiflung meiner Meinunug nach feinfühliger und ergreifender zur Geltung.

 

Dennoch bleibt Eugen Ruges Roman natürlich ein spannender Pageturner, dessen Lektüre sich lohnt.

 

 

 

Eugen Ruge: Metropol

Roman

Hardcover, 432 Seiten

Rowohlt Verlag, Hamburg 2019

...liest gerade "Das Totenschiff" von B. Traven

Gale verbringt die letzte Nacht vor Anker in den Kneipen Antwerpens. Als er morgens zum Hafen zurückkehrt, hat das Schiff, auf dem er als Seemann arbeitet, ohne ihn abgelegt.


An Bord befindet sich jedoch sein Ausweis, seine Seemannskarte. Zunächst unbekümmert, merkt er schon bald, dass er mit der Karte plötzlich seine Identität verloren hat.
Und mit seiner Identität sein Leben.

 

Es beginnt eine Odyssee. Der amerikanische Seefahrer kann sich nicht mehr ausweisen und irrt fortan als Staatenloser von Land zu Land. Selbst in der Botschaft kann ihm nicht geholfen werden, da er keinen Nachweis seiner US-Bürgerschaft erbringen kann. Auf seinem Streifzug durch die Ländern Europas wird er immer wieder von der Polizei verhaftet und ausgewiesen. Nichts scheint wichtiger in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als einen Pass zu besitzen. Und so gibt ihm niemand mehr Arbeit, niemand heuert ihn an, im Gegenteil, er wird vertrieben.

 

In Spanien wird ihm dann doch angeboten, wieder auf einem Schiff zu arbeiten. Die Mannschaft sieht erbärmlich aus, der Kahn ist in katastrophalem Zustand, der Anwerber zwielichtig. Dennoch heuert er an. Es ist seine einzige Chance. Und so landet er auf einem Totenschiff, das dazu verdammt ist, so lange über die Meere zu fahren, bis es sinkt und der Besitzer die Versicherungssumme einstreichen kann. So wird auch nicht nach Ausweisen gefragt, da man den Tod der Mannschaft billigend in Kauf nimmt. Auf dem Schiff verrichtet er lebensgefährliche Arbeiten. Und trotz des Untergangs, dem er entgegenblickt, trotz der Hoffnungslosigkeit, die ihn umgibt, verliert er nie seinen Mut, nie seinen Lebenswillen. Nie seinen Humor. Selbst dann nicht, als das Schiff kentert und es sinkt.

 

Erzählt wird die Geschichte von dem Seefahrer selbst. In seiner groben und harten Seemannssprache, die dennoch von einer Art Bauernschläue zeugt, zeichnet er seine Irrfahrt in einem bissigen, sarkastischen und ironisch gebrochenen Ton nach. So erinnert die Erzählung beinahe an einen Schelmenroman, in dem der Held allerlei Prüfungen zu bestehen hat, Abenteuer, in die er unverschuldet hineinstolpert. In manchen Situationen ergeben sich geradezu Slapstickeinlagen à la Charlie Chaplin, die beim Leser die Tränen fließen lassen.

 

Zwischen den Zeilen finden sich jedoch revolutionäre, vom Geiste des Kommunismus beeinflusste Anklänge. Da wird die moderne Technisierung, die den Menschen zur Maschine degradiert, genauso kritisiert wie der Kapitalismus, dem jedes Mittel recht ist, sein Geld zu vermehren. Kritisiert wird ebenso die Staaterei, die Menschen nach Nationalitäten trennt, genauso wie die Idee der Nation, in der Dokumente wichtiger sind als der Mensch. Denn nur mit solch einem Nachweis bezeugt man, dass man geboren wurde, dass man der Menschenrasse angehört, dass man zu den Lebenden zählt und eben nicht zu den Toten.

 

"Das Totenschiff" ist ein hochamüsanter und dennoch politischer Roman. Mit seiner Thematik der Staatenlosigkeit, der Nation und Migraton als auch mit seiner Kapitalismuskritik schlägt er Brücken bis in unsere Zeit. Schon 1926 erschienen, wurde er in 30 Sprachen übersetzt und sogar mit Mario Adorf verfilmt. Zu dieser Berühmtheit hat wohl auch das Mysterium um den Schriftsteller B. Traven beigetragen, denn immer noch ist nicht gänzlich geklärt, wer sich hinter dem Pseudonym von einst verbirgt.

 

 

 

B. Traven: Das Totenschiff

Roman

Taschenbuch, 320 Seiten

Diogenes Verlag, Zürich 2015

...liest gerade "Brüder" von Jackie Thomae

Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Der eine ein Hallodri, der in den Tag hineinlebt und das macht, was er für richtig hält, ohne Rücksicht auf die Menschen in seiner Umgebung.
Der andere ein Stararchitekt, der den alltäglichen Anforderungen und Verpflichtungen bis zur Selbstaufgabe nachkommt.
Sie kennen sich nicht, doch sie verbindet mehr als die Hautfarbe, die sie kennzeichnet.
Sie haben denselben Vater.

 

Mick führt ein Leben, das zum Scheitern verurteilt ist. Er ist ein Hippster, bevor sich die Bezeichung überhaupt im trendigen Berlin durchsetzt. Er lebt in den Tag hinein, feiert tagelang, hat zahlreiche Affären und betrügt so seine Frau, die duldsam zuschaut. Doch dann gerät sein Leben ins Wanken. Als der Club, den er mit Freunden führt, wegen Steuernachzahlungen schließen muss und ihn schließlich auch noch seine Frau verlässt, stürzt alles um ihn herum ein und er wagt den Sprung in ein neues Leben.

 

Gabriel ist das Gegenteil. Er führt ein konservatives Leben, ist verheiratet und hat einen Sohn. Pflichtbewusstsein lässt ihn bis zum Umfallen arbeiten. Er lebt für seine Agentur und findet wenig Zeit für andere Dinge. Und so bemerkt er auch nicht, dass seine Frau ihn betrügt. Am Ende bricht auch er unter der Last des Lebens zusammen und erleidet einen Burnout.

 

Als beide schließlich eine EMail vom verschollenen und unbekannten Vater erhalten, scheint das fehlende Puzzleteil ihres Lebens gefunden - oder doch nicht?

 

Eines vorab: Der Roman ist herausragend. Es wird nicht nur eine Familiengeschichte aufgeworfen, deren Wege verschlungen durch die Jahrzehnte irren, es ist vielmehr die Geschichte der Trennung, Annäherung und Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die sich in den unterschiedlichen Männern widerspiegelt. Es ist ein Roman über die Suche nach dem Sinn in einem Leben, in dem stets etwas fehlt, ein Leben, das nicht komplett erscheint.

 

Mit Scharfsinn, Witz und Humor wird die Geschichte der ungleichen Brüder erzählt. Dabei werden die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse sowie das Lebensgefühl der 80er, 90er und 2000er auf famose Weise heraufbeschworen. Dazwischen, in leisen Tönen, surrt der alltägliche Rassismus mit, den beide wegen ihrer Hautfarbe erdulden müssen, aber auch die Feinheiten des alltäglichen Lebens, das Geflecht, in dem man sich verirren kann, stechen imposant heraus. Der Roman setzt all dies feinfühlig, witzig und unterhaltsam in einer gelungenen Komposition um. Ein Roman, der meiner Meinung nach den Buchpreis allemal verdient gehabt hätte.

 

 

 

Jackie Thomae: Brüder

Roman

Hardcover, 432 Seiten

Hanser Berlin, Berlin 2019

...liest gerade "Der Tod ist ein mühseliges Geschäft" von Khaled Khalifa

Bubbul, Hussein und Fatima sitzen im Minibus. Sie sind Geschwister, aber sie haben sich nichts zu sagen. Ihre Familienbande ist schon seit langem zerrissen. Doch nun fahren sie quer durch Syrien. Der Gestank ist kaum auszuhalten und nimmt von Minute zu Minute zu.
Denn hinten liegt der Vater und verwest. Er ist tot.

 

Bevor der Vater starb, nahm Bulbul ihm seinen letzten Willen ab: Er will in Anabîja, seinem Heimatdorf, begraben werden. Das Problem ist nur, es ist Krieg. Und so trommelt der Sohn seine Geschwister zusammen und gemeinsam machen sie sich auf die nur wenige hundert Kilometer lange Reise.

 

Doch für die kurze Strecke brauchen sie mehrere Tage. Immer wieder werden sie an Checkpoints angehalten, mal von Kämpfern der Freien Syrischen Armee, mal von regimetreuen Truppen, mal von furchteinflößenden Islamisten. Sie fahren durch ein völlig zerstörtes Land, das überall das Grauen des Krieges aufweist. Leichen pflastern den Weg, Massengräber gibt es in jedem Dorf, zerbombte Städte und Landstriche ziehen an ihnen vorbei, Gegenden, wo nichts mehr sprießt. Ihr Nachname öffnet ihnen in einigen Orten Türen, in anderen riskieren sie mit ihm ihr Leben.

 

Ihr Vater ist in jenen Tagen eines anormalen Todes gestorben, denn er ist eines natürlichen Todes gestorben. Ganz im Gegensatz zu den anderen Toten, die jede Familie zu betrauern hat. Denn der Tod lauert auf jeden, durch Bombardierungen oder in Folterkellern, durch Heckenschützen oder in Gefechten, durch Entführungen und Morde. Der Tod ist allgegenwärtig.

 

Der Roman ist erschütternd. In seiner ganzen Härte und Brutalität stellt er das Leben in Syrien dar, wo an kein Leben mehr gedacht werden kann. In Rückblicken werden die Geschichten der Protagonisten erzählt, ihr Leben in der Diktatur, ihr Aufbegehren oder Stillhalten, ihre Liebschaften und Familienzwiste, Träume und Enttäuschungen, eben jene Wege, die sie zu genau diesem Punkt führten, an dem sie den toten Vater durch ein Land fahren, das nicht mehr wiederzuerkennen ist.

 

Bereits 2016 erschienen (2018 in deutscher Übersetzung) wühlt der Roman auf und wirft den Blick auf ein vom Krieg gebeuteltes Land, das Spielball innerer und äußerer Machtkämpfe ist, in dem jedoch immer noch Menschen leben, die sich an das Letzte klammern, was ihnen in all dem Schrecken geblieben ist: Hoffnung.

 

 

 

Khaled Khalifa: Der Tod ist ein mühseliges Geschäft

Roman, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich

Hardcover, 224 Seiten

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018

...liest gerade "Miroloi" von Karen Köhler

Eine abgelegene Insel im Meer, fern ab vom Rest der Welt.


Ein archaisches Dorf, das an festen Traditionen und Ritualen festhält.


Eine patriarchalische Gemeinschaft, in der viel gearbeitet, getrunken und geschlagen wird.


Und ein junges Mädchen, das nicht dazugehört.

 

 

Als Kind fand der Vorsteher des Gebetshauses das namenlose Mädchen auf der Treppe und nahm sie auf. Nun ist sie sechzehn und singt einen Totengesang auf ihr Dorf, ein abgelegenes Dorf, in dem Männer bestimmen und Frauen zu gehorchen haben, ein Dorf, in dem häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe nicht selten sind. Die Regeln des Zusammenlebens schreibt der Ältestenrat vor, bestehend aus 13 Männern, und so dürfen Frauen nicht lesen und schreiben lernen. Wer gegen die zahreichen Regeln verstößt, wird an den Schandpfahl gebunden, an dem ihm/ihr der Angstmann manche Knochen bricht. Oder er/sie wird gleich gesteinigt. Es ist das Leben einer Sekte, die dem Fundamentalismus von Islamisten, ultraorthodoxen Juden und strenggläubigen Evangelikalen in nichts nachsteht - und so heißt auch das heilige Buch Khorabel.

 

Und doch wird das Mädchen, das im Dorf als Außenseiterin behandelt wird, bald von ihrem Finder unterrichtet. Durch das Erlernen von Buchstaben öffnet sich dem Mädchen plötzlich eine völlig neue Welt. Mit dem Verstehen der Schrift bestürmen sie neue Gedanken, Zweifel brennen sich in ihr ein, sie hinterfragt die Gegebenheiten und sehnt sich auf die andere Seite des Meeres.

 

Des Menschen größter Antrieb, die Neugier, veranlasst sie dazu, Fragen zu stellen, unbequeme Fragen, doch sie findet keine Antworten. Als Unglücksbotin verschrien, gedemütigt, ausgegrenzt und geschlagen, entzündet sich in ihr eine Wut. Wut auf die Verhältnisse, Wut auf das Patriarchat, Wut auf die eng gesetzten Grenzen des Dorfes. Als sie sich schließlich verliebt und auch noch ihr Beschützer stirbt, wird ihre Wut zu einem Feuer aufgepeitscht, das das ganze Dorf verbrennen wird.

 

Nun habe ich es also auch endlich gelesen und was wurde nicht alles über diesen Roman geschrieben?

 

In den Feuilletons zerrissen - komischwerweise von meist männlichen Kritikern -, musste der Roman als Brennholz für eine Diskussion herhalten, in der es um nichts weniger ging, als um die Literatur an sich, um ihren Begriff und ihre Kritik. Und so ging ich voreingenommen an die Lektüre - und siehe da, es ist nur ein Text, gar nicht der Zerstörer der Literatur, und zudem hat er mich außerordentlich überrascht.

 

Der Roman hat Ecken und Kanten, dem stimme ich zu, aber wecken nicht gerade Unvollkommenheiten das Interesse? Ist es nicht die Reibung an dem Wie und Was der Erzählung, die einen Roman im Gedächtnis verankert?

Was hat die Literaturkritik nicht alles an Geschützen aufgefahren, um diesen Text zu verumglimpfen?

 

Der Roman sei zu unrealistisch und nicht zu verorten? -
Ich wusste gar nicht, dass dies notwendige Kriterien einer fiktiven Erzählung sind.

 

Er sei zu unglaubhaft? -
Da hat wohl jemand das Prinzip der Wahrscheinlichkeit nicht verstanden und gleich mit Glaubwürdigkeit verwechselt.

 

Zu patriarchalisch? -
In den Elfenbeintürmen von Feuilletonisten mag man es vielleicht anders sehen, ein Blick auf unsere Welt genügt allerdings, um zu erkennen, dass wir auch heute noch größtenteils in einem Patriarchat leben.

 

Zu viele Fragen bleiben am Ende zurück? -
Ja wunderbar, ein Text, über dem man auch nach der Lektüre noch nachdenken muss.

 

Die Sprache sei zu naiv? -
Welcher Sprachstil wird denn von einer unterdrückten, ausgeschlossenen, angefeindeten, der Bildung ferngehaltenen 16-Jährigen, die gerade lesen und schreiben lernt, genau erwartet? Schillerische Verse?

 

Und es gebe keinen Erzählanlass? -
Soetwas Verrücktes habe ich noch nie gehört. Woraus genau speist sich denn der Erzählanlass einer Geschichte und wer entscheidet darüber, ob er notwendig sei oder nicht?

 

Bei "Miroloi" handelt sich um einen Coming-of-Age Roman, eine Geschichte über Emanzipation und Selbstbestimmung, eine Erzählung über Neugier als Trieb, über den Tellerrand zu blicken und Gegebenheiten zu hinterfragen, ein Manifest über den Drang nach Freiheit.

 

Mitnichten hat der Roman den Literaturbegriff ins Wanken gebracht, viel eher zeigt die hitzige Debatte, wie Kritik in heutiger Zeit ausarten kann, selbst in den Feuilletons, die womöglich so energisch keifen und beißen, um den Platz auf dem Thron der Literaturkritik mit allen Mitteln zu verteidigen. Bald schon wird deswegen die nächste Sau durchs Dorf gejagt. Das ist gewiss.

 

Diese Sau fand ich allerdings großartig!

 

 

 

Karen Köhler: Miroloi

Roman

Hardcover, 464 Seiten

Carl Hanser Verlag, München 2019

Jahresrückblick 2019

Mein Jahresrückblick - traditionell im Januar.

 

Welche Titel haben mich im letzten Jahr begeistert und welche Titel würde ich uneingeschränkt weiterempfehlen?

 

Hier sind die 5 lesenswertesten Romane des vergangenen Jahres - natürlich aus rein objektiver Sicht :

 

 

 

"BRUDER UND SCHWESTER LENOBEL"
von Michael Köhlmeier

 

Hier geht es um die großen Themen der Psychoanalyse und Philosophie, die Frage nach dem Sein, dem Sinn, dem Leben, dem Ich zwischen Über-Ich und Es und vielem mehr. Ein einzigartiger Roman - mitreißend, klar, poetisch und höchst intellektuell.
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"BARON WENCKHEIMS RÜCKKEHR"
von László Krasznahorkai

 

Anstrengend und gewöhnungsbedürftig - aber wenn man sich auf die kapitellangen Sätze einlässt, breitet sich ein weitschweifiges Gesellschaftspanorama aus, vorangetrieben durch ein einzigartiges Geflecht verschiedenster Schicksale und Perspektivwechsel. Ein stimmgewaltiges Werk, verrückt, durchgeknallt und absolut einmalig!
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"MAX, MISCHA UND DIE TET-OFFENSIVE"
von Johan Harstad

 

Nichts weniger als ein Abriss der letzten 50 Jahre. Eine Vielzahl an Themen werden aufgeworfen, durcheinander gewirbelt, reflektiert und gespiegelt, sodass sich das Lebensgefühl der Generation Pop herauskristallisiert. Intelligent, scharfsinnig, unterhaltsam, witzig, melancholisch und vor allem eins - berauschend.
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"WINTERBIENEN"
von Norbert Scheuer

 

Zwei Völker, die auf den ersten Blick nichts gemein haben: jenes der Bienen und das der Deutschen. Doch es ächzt und knarzt, es entstehen Reibung und Spannung, die sich nicht auflösen lassen. Doch muss Literatur immer bis ins kleinste Deitail aufgehen? Ich finde nicht und sehe genau darin die Besonderheit dieses Romans.
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"DORT DORT"
von Tommy Orange

 

Die Geschichte der Native Americans. Die Geschichte ihrer Ausrottung, Verfolgung, Umsiedlung und Assimilierung. Ein Roman, der die Ahnen der indigenen Bevölkerung in Szene setzt, heimatlose Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, ausgeschlossen, in Armut und Kriminalität, gezeichnet von Alkohol- und Drogenmissbrauch. Aufwühlend, mitreißend, bewegend - und ein Ende, das schockiert.

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Zu diesen gesellen sich ältere Titel, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe und uneingeschränkt empfehle:

 

"DIE FRAU IN DEN DÜNEN"
von Kobo Abe

 

"VERSCHWÖRUNG GEGEN AMERIKA"
von Philip Roth

 

"AMÉRICA"
von T.C.Boyle

 

 

Damit endet das Lesejahr 2019 und ich freue mich darauf, auch in diesem Jahr in viele interessante, unterhaltsame, ausgefallene, verworrene, spannende, erschütternde, poetische und verrückte Geschichten eintauchen zu dürfen.

 

 

 

...liest gerade "Schutzzone" von Nora Bossong

In Genf werden Reden gehalten, langatmige Vorträge, denen man nicht mehr folgen kann.


In Genf finden Verhandlungen statt, zähe Gespräche, die hin und her wiegen, um zu keinem Ergebnis zu kommen.


In Genf werden Deals eingeflochten und kurz darauf wieder aufgelöst, es wird gezögert und taktiert, bei Schnittchen und Wein, in edlen Anzügen und luxuriösem Ambiente.


Denn in Genf residiert die UNO.

 

Mira hat ein Talent: Sie bringt die Menschen zum Reden. Und so arbeitet sie in der Wahrheitskommission und besucht Länder, in denen Massaker und Kriege wüteten. Sie trifft Schwerstverbrecher und interviewt die Hinterbliebenen von Genoziden, um somit aus den einzelnen Fäden der Wirklichkeit eine Geschichte zu spinnen, die sie in Berichten festhält. Diese Berichte werden weitergeleitet, werden in sterilen Büros zu Tabellen und Statistiken verarbeitet, die letztlich in Akten verschwinden, vor denen die Welt die Augen verschließt.

 

Als sie in Genf Milan wiedersieht, den Sohn einer Familie, in der sie als Kind zu Zeiten der Trennung ihrer Eltern lebte, bricht einiges in ihr auf. Hat sie nicht Zeit ihres Lebens auf ihn gewartet? Ist ihre letzte Beziehung nicht sogar an ihm zerbrochen? Die Desillusionierung ihrer Arbeit und die Infragestellung der ganzen UNO schweißt die beiden zusammen. Immer weiter nähern sie sich an, doch irgendwann muss sie einsehen: Bei Milan versagt ihr Talent.

 

"Schutzzone" ist ein Roman über die Arbeit der UNO, über Expats und ihre Annehmlichkeiten in Krisengebieten, über die Gräuel der Menschheit und die Unmöglichkeit der Bearbeitung solcher Verbrechen in weit entfernten Büros. Es ist ein Roman über den sinnlosen Auftrag der UNO, die hehre Ziele verfolgt und dennoch nichts ausrichten kann, denn die Massaker, Kriege und Genozide finden immer weiter statt und Verhandlungen verkommen aus rein taktischen Gründen zur Farce.

 

Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, lässt mich aber etwas zwiegespalten zurück. Sprachlich bewegt er sich auf hohem Niveau. Er ist handwerklich sehr gut konstruiert und dennoch irgendwie farblos, ein gut erlernter Sprachstil, der aber wenig Eigenart besitzt. Zudem trieft die Hoffnungslosigkeit und Desillusion durch jeden Satz hindurch. Was anfangs durchaus erschreckend ist, nervt spätestens ab der Hälfte. Auch die Liebesgeschichte, die sich entwickelt, greift tief in die Klischeekiste - Ehemann und Vater eines Kindes in Midlife Crisis beginnt eine Affäre mit jüngeren Frau.

 

Und dennoch ist es kein schlechter Roman. Er ist durchaus gut zu lesen und interessant, hat mich aber einfach aus dargelegten Gründen nicht vollends überzeugen können.

 

 

 

Nora Bossong: Schutzzone

Roman

Hardcover, 332 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019

...liest gerade "Dort Dort" von Tommy Orange

Das Powwow steht vor der Tür. Es ist das traditionelle Festival der indigenen Bevölkerung Amerikas. Ein Fest der Freude und Ausgelassenheit. Ein Fest der Traditionen und des Gedenkens. Ein Fest des Tanzes und der Musik.
Es wird ein Fest des Todes.

 

Dene möchte das Projekt seines Onkels fortführen und in einem Dokumentarfilm die Spuren der Native Amercians in den heutigen Städten nachzeichnen. Bewaffnet mit einer Kamera begibt er sich auf die Suche nach den letzten Nachfahren der indigenen Bevölkerung.

 

Er findet unter anderem Orvil. Orvil lebt mit seinen zwei kleineren Brüdern bei der Halbschwester seiner Oma. Seine Mutter ist tot, seine Großmutter desinteressiert. Sie sind zwar Native Americans, aber ihre Traditionen sind erloschen. Als der Junge den rituellen Tanz seiner Vorfahren sieht, kennt er jedoch nur noch ein Ziel: Er will zum Powwow und tanzen.

 

Da ist aber auch Tony. Der Alkoholismus seiner Mutter spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Er verkauft Drogen für Octavio, mit dessen Gang er plant, das Powwow zu überfallen, um an Geld zu kommen.

 

Ihre Wege, so wie die vieler anderer, werden sich auf dem Festival unausweichlich kreuzen - zum Bedauern aller.

 

Eines vorweg: "Dort Dort" ist erschütternd. Es die Geschichte der Native Americans. Die Geschichte ihrer Ausrottung, Verfolgung, Umsiedlung und Assimilierung. Ein Bild, das die Ahnen der indigenen Bevölkerung in Szene setzt, heimatlose Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, ausgeschlossen, in Armut und Kriminalität, gezeichnet von Alkohol- und Drogenmissbrauch.

 

Tommy Orange, selbst Native, wirft mit seinem Roman die Frage nach der heutigen Verantwortung auf. Wie einen Zopf flicht er eine Geschichte, in der sich die Erzählfäden nach und nach ineinander verstricken. Durch die Vielzahl an Perspektiven, die sich überschneiden und bedingen, wird der Zopf eng und enger, bis er straff auf einen Punkt zuläuft: das Powwow.

 

Aufwühlend. Mitreißend. Bewegend. Und ein Ende, das schockiert. Ich habe den Roman ruhelos gelesen. Das Schicksal der Native Americans wurde wohl noch nie so plastisch dargestellt. Im Stil erinnert es an einen Roman, den ich als einen der besten preise, den ich je gelesen habe: "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" von Marlon James.

 

Und wenn mich "Dort Dort" auch nicht ganz so überwältigt hat wie sein Vorbild, so ist es doch ein grandioses Werk, das den Natives eine Stimme verleiht, eine Stimme, die sich tief einbrennt und nachhallt.

 

 

 

Tommy Orange: Dort Dort

Roman, aus dem Englischen von Hannes Meyer

Hardcover, 288 Seiten

Hanser Verlag, München 2019

...liest gerade "Winterbienen" von Norbert Scheuer

Es summt und brummt in der beschaulichen Eifel. Überall schwirren sie durch die Lüfte, Bienen, die nach Nektar suchen, Bienen, die von Leben zeugen, vom ewigwährenden Zyklus der Natur. Doch auch Flugzeuge verdunkeln den Himmel, Bomber, die ihre Fracht über den Städten des Rheinlandes abwerfen und Vernichtung bringen.
Denn es ist 1944.
Es ist Krieg.

 

Der Ich-Erzähler des Romans wurde wegen seiner Epilepsie durch das nationalsozialistische Regime vom Schuldienst ausgeschlossen. Nun widmet er sich der Bienenzucht und tritt damit in die Fußstapfen seiner Vorfahren. Der Bruder, ein angesehener Flugheld im Krieg, schickt ihm die dringend benötigte Medizin, um seine epileptischen Schübe in Grenzen zu halten. Doch als er keine Nachricht mehr von ihm erhält, muss er auf anderen Wegen an Geld gelangen. Und so betreibt er einen Schmuggelpfad nach Belgien. In seinen doppelbödigen Bienenkästen versteckt er seine Ware, gut getarnt unter tausenden Bienen.
Denn seine Ware ist einmalig.
Seine Ware sind Juden.

 

In Tagebuch ähnlichen Aufzeichnungen beschreibt der Imker die letzten Monate des Krieges, das Leben in der Eifel, seine Krankheit, Affären und Beziehungen zu den anderen Dorfbewohnern, die ihn meistenteils argwöhnisch beäugen. Er schreibt über die nahende Front, über Fieberschübe und Halluzinationen. Und natürlich schreibt er über Bienen. Systematisch in einem Volk organisiert, findet jede Biene ihren Platz in der Gemeinschaft. Jede einzelne trägt einen Teil zu dem Sozialsystem bei, in dem im Winter die nächste Generation herangezogen und geschützt wird. Bienen sind ein friedfertiges Volk, leben unter sich, stacheln keine Revolutionen auf und erobern keine anderen Völker. Sie sind der Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Volksgedanken.

 

Die unaufgeregte Erzählweise kommt sehr leichtfüßig daher und bildet einen krassen Kontrast zu der Zeit höchster Aufregung und Chaos zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Krieg wird meist aus der Ferne geschildert. Es schwirren Flugzeuge durch die Luft, Zwangsarbeiter placken am Straßenrand und Feldsoldaten betrinken sich in der Dorfbar.

 

Allerdings bleibt ein verwirrender Rest, der vor dem Hintergrund des Nationalsozialimus schwer im Magen liegt. Denn in einer Zeit, in der der Volksgedanke über allem steht, wird mit ebendiesem Begriff eine andere Gemeinschaft beschrieben, eine Gemeinschaft, die ebenfalls eine Führerin kennt, die Königin des Bienenvolkes, die ihr Volk leitet. Zudem werden einzelne Bienen von ihren Artgenossen aussortiert und getötet, sobald sie ihren Nutzen für die Gemeinschaft verlieren.

 

Das Positivbild des Bienenvolkes ächzt und knarzt, wenn man sich den damaligen Volksgedanken vergegenwärtigt, dessen Konnotation unwiderruflich mitschwingt. Es entstehen Reibung und Spannung, die sich nicht auflösen lassen. Zurück bleibt so ein interessanter Roman, der hinsichtlich des Volksbegriffes Verwirrung hinterlässt. Genau darin liegt jedoch meines Erachtens die Besonderheit dieses Romans. Denn muss Literatur immer auflösbar sein?

 

 

 

Norbert Scheuer: Winterbienen

Roman

Hardcover, 319 Seiten

C.H.Beck Verlag, München 2019

...liest gerade "Auf Erden sind wir kurz grandios" von Ocean Vuong

Ein Brief voller Zärtlichkeiten, voller Liebe und Poesie.
Ein Brief voller Gewalt, voller Auseinandersetzung und Traumata.
Ein Brief, wie es ihn wohl noch nie zuvor gegeben hat.
 
Als sich Little Dog entscheidet seiner Mutter zu schreiben, ist er 28 Jahre alt. Geboren in Vietnam, schlägt er sich in den USA mit der Andersartigkeit herum, die ihn und seine Familie als Migranten an den Rand der Gesellschaft verschlagen hat. Er rekapituliert sein Leben, die Gewalt, die ihm von der Mutter entgegenschlug, aber auch die Fürsorglichkeit, mit der sie ihn umtätschelte. Er erzählt seine Familiengeschichte, erzählt von Vietnam und dem Krieg, von den Frauen seiner Familie, denen Wunden gerissen wurden, die nicht mehr verheilen. Er schreibt über die Muttersprache, die ihm abhandengekommen ist, und die neue Sprache, in der er zu denken und leben gelernt hat. Schreibt über das Leben in der neuen Heimat, über Anpassung und Assimilierung, über Verlust und Erinnerung, Rassismus und Drogen. Und er schreibt über die erste Liebe, das erste Mal, da er sich vollkommen fühlte und sich selbst annahm.
 
Mit dem Brief an seine Mutter folgt er den Spuren seiner Identität, derer er sich Wort für Wort selbstvergewissert. Wie ein Mosaik setzt er sich Buchstabe für Buchstabe selbst zusammen, bis er ein Bild von sich in den Händen hält, in dem er sich wiederfindet. Und so schreibt er sich sein Leben von der Seele - und findet in der Sprache ein neues.
 
Denn diese ist es auch, die den Roman hervorhebt. Die Sprache ist so kraftvoll und zugleich feinfühlig, melancholisch und doch voller Sprachwitz, poetisch und bildhaft, voller Energie und Eleganz. Dass Ocean Vuong Lyriker ist, fällt einem gleich nach den ersten Sätzen auf. Und so braucht man erstmal eine Weile, bis man in die Sprache des Romans findet. Wenn man sich aber schließlich auf ihre Bildhaftigkeit und Nuancen einlässt, wird man geradezu durch die Geschichte getragen. Durch sie entsteht ein Flickenteppich aus zahlreichen Themen, die der Roman streift. Fragmente, die wie Verse in einem Gedicht schillern.
 
Allerdings gleitet diese Virtuosität in manchen Fällen auch ins Pathetische ab. An einigen Stellen sind mir die Bilder doch zu larmoyant und die Geschichte zu schleppend, so dass ich die Begeisterungsstürme der Kritiken nicht ganz teilen kann, die diesen Roman als einen der wichtigsten der letzten Jahre bezeichnen. Fraglos ist es jedoch ein außergewöhnlicher Roman, der durch sein Sprachgefühl heraussticht. Ein Sprachgefühl, das man nur selten findet.
 

 

 

Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios

Roman, aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag

Hardcover, 240 Seiten

Hanser, Berlin 2019

...liest gerade "Vater Unser" von Angela Lehner

Eva ist redselig. Sie ist klug, intelligent, jung und nervig.
Und vor allem ist sie eins: in der Psychiatrie.

Der Roman beginnt mir ihrer Einlieferung in das Otto-Wagner-Spital in Wien. In den Sitzungen mit ihrem behandelnen Arzt Doktor Korb werden nach und nach Bruchstücke ihrer Kindheit zutage gefördert. Sie gibt zu, dass sie und ihr Bruder vom Vater vergewaltigt worden seien, und sie deshalb eine Kindergartengruppe erschossen habe. Doch bei ihren Aussagen zeigt sie keinerlei Gefühlsregungen, sondern redet flappsig daher und nimmt kein Blatt vor den Mund. Kann man ihr also trauen?

In den Therapiestunden wird schnell klar, dass Eva eine notorische Lügnerin ist. Sie erfindet Geschichten, um ein Bild von sich zu stricken, einen Schutzmantel, hinter dem sie sich versteckt. Und so liegt der wahre Grund ihrer Einweisung wohl in dem Versuch, ihrem Bruder näher zu kommen, der in derselben Klinik wegen seiner Magersüchtigkeit therapiert wird. Sie sucht seine Nähe, will den abgebrochenen Kontakt zu ihm wieder aufnehmen. Doch der Bruder weist sie schroff ab, ist genervt und will nichts mit ihr zu tun haben.

Als schließlich auch noch die Mutter hinzukommt, verwandelt sich die Therapie in eine Familiensitzung. An allem, was diese Familie belastet, gibt Eva dem Vater die Schuld. Der Vater, der sie verlassen hat und eine neue Familie gründete, während Mutter und Kinder dem Untergang entgegen fielen. Und so macht Eva sich eines Tages auf, ihn zu töten. Sie will Rache. Doch statt Genugtuung findet sie die Wahrheit und steht plötzlich vor dem Trauma ihrer Kindheit.

Gute Kritiken führten den Roman bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Vor einigen Tagen wurde Angela Lehner dann mit dem Debütpreis des Österreichischen Buchpreises ausgezeichnet. Und wie der Schutzumschlag verrät, würde Joachim Meyerhoff diese Eva sogar am liebsten immerzu würgen und küssen, denn sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Lobeshymnen, die ich nur schwerlich teilen kann. Natürlich sind manche Szenen witzig gestaltet und man fragt sich als Leser, was denn mit dieser Protagonistin eigentlich nicht stimmt. Doch auf Dauer nervt nicht nur Eva, sondern auch die Lektüre. Von Anfang an versteht man, dass sie nur Geschichten spinnt, um von einem unverarbeiteten Trauma abzulenken, das in ihr schwelt. Aus Selbstschutz tischt sie sich und ihren Mitmenschen deswegen fortwährend Lügen auf. Allerdings wird man dabei kaum auf falsche Fährten gelockt, wie viele Kritiker behaupten, sondern man durchschaut ihr Spiel nach wenigen Seiten. Der Reiz des Themas, von dem ich mir viel mehr erhofft hatte, dieses Spiel von Illusion und Wirklichkeit, von einem unzuverlässigen Erzähler, verlor so schnell an Sogkraft. Zurück bleibt so ein Roman, der die Psyche einer Familie zu beleuchten versucht, doch durch Komposition und Audruck auf der Oberfläche verweilt.

 

 

 

Angela Lehner: Vater Unser

Roman

Hardcover, 284 Seiten

Hanser, Berlin 2019

...liest gerade "Kafka am Strand" von Haruki Murakami

Kafka Tamura ist gerade 15 Jahre alt geworden, da verlässt er sein Zuhause und begibt sich auf eine Reise. Er flieht vor der Prophezeiung seines Vater, die schwer auf ihm lastet, und möchte am liebsten in einer Bibliothek leben. Als er den Ort seiner Sehnsucht findet, trifft er nicht nur auf eine Bücherwelt, sondern auch auf die Frau seiner Träume. Die alternde Inhaberin der Bibliothek übt eine seltsame Aura auf ihn aus und erscheint ihm des Nachts als schmachtende 15jährige, die um ihre verlorene Liebe trauert. Irgendwann befällt Kafka eine dunkle Ahnung. Fühlt er sich so zu ihr hingezogen, weil sie seine Mutter ist?

 

Nakata hingegen, ein einfältiger, älterer Mann, sucht im Auftrag ihrer Herrchen entlaufene Katzen. Durch einen außergewöhlichen Vorfall in seiner Kindheit hat er zwar irreparable kognitive Schäden erlitten, beherrscht seitdem aber die Katzensprache. Als er eines Tages auf die Fährte eines Katzenmörders stößt und gezwungen wird, einen Mord zu begehen, flieht auch er. Er weiß selbst nicht wohin, aber eine Kraft treibt ihn an, treibt ihn immer weiter, als müsste er etwas erledigen. Nur was?

 

Gewohnt surreal verstrickt Murakami in seinem Roman zwei Handlungsstränge miteinander, die in einer Neuerzählung des Ödipuskomplexes gipfeln. Spannung entsteht durch die omnipräsente Frage, was hier eigentlich Traum und was Wirklichkeit ist. Oder ist alles nur Metapher? Nur Allegorie?

 

Ich muss zugeben, dass es mein erster Roman von Murakami war. Und er hinterlässt ein zwiegespaltenes Gefühl. Einerseits war die surreale Erzählweise erfrischend und interessant. Zudem baut sich durch die zwei ineinander verworrenen Handlungsfäden eine Spannung auf, die man als Leser zu entwirren versucht. Auf der anderen Seite nervte mich der infantile Sprachstil auf Dauer gewaltig. Auch die Weisheiten, die sich im Roman finden, gleichen eher Plattitüden, die man wahrscheinlich reifer bei Paolo Coelho finden könnte. Und was der große Namenspatron Franz Kafka mit dem Protagonisten zu tun hat, außer dass dieser sich gezielt nach jenem benennt, da er ein paar seiner Geschichten mag, bleibt mir ebenso ein Rätsel, wie vieles andere, was in dem Roman geschieht.

 

Aber vielleicht ist genau das wiederrum das Besondere des Romans, weil er ist wie das Leben. Auch das geschieht meist ohne Sinn, einfach so, ohne je eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu erhalten.

 

 

 

Haruki Murakami: Kafka am Strand

Roman

Taschenbuch, 640 Seiten

btb, München 2006

(Erstausgabe: DuMont Literatur- und Kunstverlag, Köln 2004)

...liest gerade "Faserland" von Christan Kracht

Noch eine Zigarette, noch ein Bier, noch ein wenig die Leute angaffen in ihren dekadenten Klamotten, noch ein paar oberflächliche Gespräche führen. Dann die nächste Zigarette, das nächste Bier, das nächste uninteressante Gespräch. Dann endlich weg, die Barbour Jacke schnappen und abhauen. Weiter in die nächste Stadt. Irgendwo einquartieren und erstmal eine Zigarette, dann einen Drink. Und wieder los zur nächsten Party, zur nächsten Zigarette, zum nächsten Bier, zu den nächsten uninteressanten Leuten und immer so weiter und immer so fort...

 

Krachts Roman ist ein witziges und zugleich tieftrauriges Gesellschaftspanorama der Schönen und Reichen in einer untergehenden Epoche. Unter ihnen der namenlose Protagonist, dessen innerer Monolog den Roman füllt und der innerhalb weniger Tage von Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg und München bis nach Zürich gelangt. Überall gibt es die gleichen Partys mit den gleichen langweiligen Menschen. Drogen, Sex, Alkohol und Markenartikel sollen die Leere im Leben füllen, doch man sieht die Brüche, die sich über die Fassade legen und den Körper bald zum Bersten bringen.

 

In diesem Milieu gibt es keine Freundschaften, nur Bekanntschaften. Und wenn man alleine ist, weint man schon mal oder macht seinem Leben gleich ein Ende. Es ist ein Leben, das durch Überfluss zum Überdruss wird. Es ist der Ekel, der einen befällt, der ennui, der einen bestimmt.

 

Und so zeigt Kracht die Oberflächlichkeit der Welt auf, in der nichts heilig ist, sondern alles verloren scheint. Es ist ein witziger und zugleich tief deprimierender Roman, ein Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur und absolut lesenswert.

 

 

 

Christian Kracht: Faserland

Roman

Taschenbuch, 160 Seiten

dtv, München 2002

(Erstausgabe: Kiepenheuer und Witsch, Köln 1995)

...liest gerade "América" von T.C.Boyle

Als Delaney den Canyon hinaufkurvt, geschieht es. Aus dem Busch am Wegesrand springt eine dunkle Gestalt vor seinen Wagen. Delaney kann nicht mehr ausweichen - es gibt einen dumpfen Knall und das Auto kommt zum Stehen. Unter Schock steigt er aus und findet einen schwerverletzten Mann im Graben liegen. Er will den Krankenwagen rufen, doch der Mann winkt ab und bäumt sich unter Schmerzen wieder auf. Um sein Gewissen zu beruhigen, drückt Delaney ihm 20 Dollar in die Hand und verschwindet. Auch der Mann wankt davon - blutüberströmt. Er will so wenig Aufmerksamkeit wie möglich provozieren, denn er ist Ausländer. Mexikaner. Ein Mensch zweiter Klasse.

 

Mit diesem Unfall beginnt der Roman, in dem anhand wechselnder Perspektiven die Lebenswirklichkeiten zweier Einwohner Kaliforniens kontrastiert werden. Da stehen auf der einen Seite Delaney und seine Frau, die über den Dächern von Los Angeles leben, in einem abgeschirmten Villenviertel auf den Hügeln im Hinterland. Sie geben sich weltoffen, umweltbewusst, liberal und achten penibel auf die Ernährung ihres Kindes. Auf der anderen Seite stehen Cándido und seine junge Frau, zwei illegale Immigranten aus Mexiko, die in den Canyons wie Hunde hausen und ums Überleben kämpfen, indem sie ihre Arbeitskraft für wenige Dollar zur Verfügung stellen. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft und werden doch nur ausgebeutet und fortgewünscht.

 

Obwohl schon 1995 geschrieben, hat der Roman nichts an seiner Aktualität und Brisanz eingebüßt. Es geht um Migration und Flüchtlinge, Rassismus und Abschottung, das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, täglichen Überlebenskampf und slavereiähnliche Ausbeutung und natürlich - Donald Trump lässt grüßen - auch um die Mauer. Durch den klug inszenierten Perspektivwechsel wirken dabei die Probleme der Reichen wie Hohn im Leben der Armen. Auch die Doppelmoral der Oberschicht tritt zutage, denn einerseits fühlen die Bürger mit den "armen Schweinen", andererseits profitieren sie von der billigen Arbeitskraft der Migranten und fühlen sich zunehmend bedroht von den Fremden, die ihre Umgebung bevölkern. Zum Ende hin treibt Boyle das Szenario immer weiter auf die Spitze, so dass man sich eines Grinsens nicht erwehren kann. Als zum Schluss auch noch die Natur zuschlägt, überstürzen sich die Ereignisse.

 

"América" ist ein witziger, unterhaltsamer, dennoch ernster und politischer Roman, der die Auswirkungen und Probleme der Migration mit viel Sarkasmus aufzeigt.

 

 

 

T.C. Boyle: América

Roman, übersetzt von Werner Richter

Taschenbuch, 398 Seiten

dtv, München 1998

...liest gerade "Max, Mischa und die Tet-Offensive" von Johan Harstad

"Ich werde von jedem von euch erzählen. Denn ich schreibe das alles für euch, für uns, für mich. Ich schreibe es, bevor es mir abhandenkommt, wie es auch vielleicht längst abhandengekommen ist."

 

So beginnt der Erzähler seine ausschweifende Lebensgeschichte, die er um jeden Preis festhalten möchte, bevor sich der Schleier der Vergessenheit wie ein Leichentuch über sie legt und sein ganzes Leben damit in die Bedeutungslosigkeit reißt.

 

Max ist Norweger und wird Ende der 70er Jahre in Stavanger geboren. Seine Eltern sympathisieren mit dem Kommunismus, wodurch er schon in seiner Kindheit als Außenseiter gilt. "Apocalypse Now" von Francis Ford Coppola stellt schließlich sein Erweckungserlebnis dar und fortan gibt es nicht Schöneres für den Jungen, als den Kampf gegen die Imperialisten nachzuspielen. Doch dann zerbricht seine Welt und mit ihm geht sein Glaube unter. Als der Vater ein lukratives Angebot als Pilot aus den USA erhält, ziehen sie in das Land der dereinst verhassten Unterdrücker. Der Teenager versteht das Leben nicht mehr, verliert sich und verschließt sich der Außenwelt. Erst zwei Begegnungen reißen ihn aus der Einsamkeit. Er trifft auf Mordecai, der ganze Dialoge von "Apocalypse Now" rezitieren kann, und als er wenig später auch noch Mischa kennen und lieben lernt, eine sieben Jahre ältere Künstlerin am Anfang ihrer Karriere, verästeln sich die drei Leben immer mehr ineinander. Sie spenden sich Halt in einer zunehmend unüberschaubareren Welt und über zwanzig Jahre erleben sie Höhen und Tiefen, trennen und finden sich wieder, und kreisen dabei stets um eines - um das Verhältnis von Heimat und Kunst.

 

Der Roman ist nichts weniger als ein Abriss unserer Zeitgeschichte der letzten 50 Jahre. Kollektive (meist amerikanische) Erinnerungen - von Vietnam über das Ende des Kalten Krieges, hin zu 9/11 und der Finanzkrise bis zum Tropensturm Sandy - sind verflochten mit den Leben der drei Protagonisten, ihren Erfolgen und Tragödien. Dabei wirft der Roman eine Vielzahl an Themen auf, wirbelt sie durcheinander, reflektiert und spiegelt sie und stellt dadurch das Lebensgefühl einer ganzen Generation heraus. Kapitalismus und Sozialismus, Auswanderung und Heimatlosigkeit, Freundschaft und Liebe, Sinnsuche und Identität sind nur einige Beispiele aus der endlos scheinenden Themenvielfalt dieses weitschweifigen Panoramas. Im Mittelpunkt stehen jedoch Kunst und Kultur, denn nicht nur Mischa feiert Erfolge als Künstlerin, sondern auch Mordecai, der ein gefeierter Schauspieler wird, und Max, der Ich-Erzähler, Regisseur und Dramatiker.

 

Johan Harstad hat der Generation Pop mit seinem Roman ein Denkmal gesetzt, ein zugegebenermaßen - mit über 1200 Seiten - sehr langes und mehr als ausuferndes Denkmal, das an manchen Stellen durch zu viel Detailverliebtheit und Langatmigkeit Risse aufweist. Dennoch ist es ein intelligenter, scharfsinniger, unterhaltsamer Roman, der trotz des desillusionierenden und melancholischen Erzähltons witzig und berauschend ist.

 

 

 

Johan Harstad: Max, Mischa und die Tet-Offensive

Roman, übersetzt von Ursel Allenstein

gebunden, 1248 Seiten

Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2019

...liest gerade "Mogador" von Martin Mosebach

Die Vorladung aufs Polizeipräsidium war zu viel. Er sieht nur einen Ausweg - er muss fliehen. Fliehen vor dem Arm der Justiz, der bereits nach ihm greift. Fliehen vor den Journalisten, die auf ihn warten und wolllüstig danach trachten, ihn zu zerschreiben. Fliehen vor seinem schlechten Gewissen, das tief in ihm nagt und sich immer energischer in ihn hineinbohrt.
Fliehen ins Ungewisse.

 

Patrick Elff ist jung, doch hat die Karriereleiter schon weit erklommen. Als Abteilungsleiter einer Bank hat er einen steilen Aufstieg hinter sich und könnte ein sorgenfreies Leben genießen. Doch der Selbstmord einer seiner Mitarbeiter wirft Fragen auf. Fragen, die er nicht beantworten kann - oder will. Und so springt er aus dem Fenster des Polizeipräsidiums und lässt von einem auf den anderen Augenblick alles zurück: seinen hochdekorierten Job, seine Ehefrau, sein bisheriges Leben.

 

Marokko ist sein Ziel, wo er einen einflussreichen und gut situierten Geschäftspartner zu finden hofft, für den er vor einigen Jahren ein dubioses Geschäft getätigt hat. Doch vor Ort wird er in eine Welt gezogen, die unter dem Schleier der Sittsamkeit ihren Sündenpfuhl versteckt. Zwischen Religion und Aberglaube, zwischen Huren und Magiern, mitten in einer archaischen und scheinbar vormodernen Zeit begibt er sich auf eine Reise, die sein Leben ins Wanken bringt.

 

Martin Mosebach hat einen verblüffenden Roman geschrieben. Durch die poetische Sprache taucht man tief in die Zauberwelt und den Alltag Marokkos ein. Dabei changiert die Geschichte zwischen den Genres. Was als (Wirtschafts-)Krimi beginnt, blüht immer mehr zum Märchen auf, in dem Realität und Fantasie zusehends ineinander fließen. Ein besonderer Kniff zu Zeiten endloser Flüchtlingsdebatten ist zudem die umgekehrte Fluchtbewegung, bei der die wirtschaftlichen Vorzeichen verkehrt wurden.

 

 

 

Martin Mosebach: Mogador

Roman

gebunden, 368 Seiten

Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2016

...liest gerade "Schlafes Bruder" von Robert Schneider

Er ist eigenartig.
Er ist seltsam.
Er ist genial.

 

Als Elias 1803 in einem Vorarlberger Bergdorf das Licht der Welt erblickt, beginnt er erst durch das Singen der Hebamme zu atmen. Den ersten Laut stößt er aus, als er die Orgel der Kirche vernimmt und nachts schrickt er regelmäßig auf, wenn die Schneeflocken als musikalische Intonation hinunterrieseln.

 

Bereits als Kleinkind nimmt er die Welt anders wahr, anders als die Dorfbewohner in ihrem alltäglichen, von Intrigen gesponnenen Leben. Als ihn schließlich ein verführerisch singender Stein zu einem Bach lockt, überkommt ihn eine Art Epiphanie. Die Geräusche des Waldes, des Baches und der Tiere fallen über ihn her und in ihn ein. Die Komposition steigert sich in einem wahnwitzigen Crescendo, dehnt sich aus wie eine Welle um einen ins Wasser geworfenen Stein, bis er die Laute des ganzen Universums in nur einem Augenblick vernimmt. Und dann hört er es. Ein Ton sticht aus der Polyphonie heraus, ein Pochen, das ihn bannt: es ist der Herzschlag eines neugeborenen Menschen, für den seine Liebe sogleich entflammt. Es ist seine Cousine Elsbeth.

 

Obwohl hochtalentiert, nimmt niemand im Dorf seine Begabung wahr. Vielmehr wird er verstoßen, gilt als Sonderling und Außenseiter. Sein musikalischer Aufstieg bleibt begrenzt. Und als seine Cousine als Jugendliche ihren Nachbarn heiratet, erinnert er sich an einen Wanderprediger, der einmal in das Dorf gekommen war und geraunt hatte: "Wer liebt, schläft nicht."
Und so fasst Elias einen Plan.

 

Erzählt werden dem Leser Leben und Leiden des zu früh Gestorbenen durch einen Chronisten, der auch die Lebensumstände in den Bergen detailliert schildert. Immer wieder unterbricht dieser sich, kommentiert, fasst zusammen und schaut voraus, warnt und (ver)tröstet. Seine derbe, altbackene Sprache ist dabei der rauen Bergwelt entlehnt und zeugt von wunderbarem Klang.

 

Der Roman ist eine Künstlergeschichte, beinahe eine Heiligenvita eines verkannten Musikgenies. Zugleich ist sie mit einer tragischen Liebesgeschichte versponnen. Eine imposante Erzählung, die noch lange nachhallt und nicht zu Unrecht als ein moderner Klassiker der deutschen Literatur gilt.

 

"Schlafes Bruder" ist bereits 1992 im Reclam Verlag erschienen.

 

 

 

Robert Schneider: Schlafes Bruder

Roman

Taschenbuch, 212 Seiten

Reclam, Leipzig

...liest gerade "Verschwörung gegen Amerika" von Philip Roth

Keiner hat mit ihm gerechnet, doch jetzt ist er Präsident.

 

Am Tag nach der Wahl herrscht ungläubiges Staunen bei den Meinungsforschern. Es war ein Wahlkampf voller Täuschungsmanöver, in dem sich der Kandidat zu präsentieren wusste und mit seinem Slogan "America First" die Wählerschaft auf seine Seite gerissen hat. Die Menge glaubt, er sei einer von ihnen und werde sie beschützen. Es ist ein Erdrutschsieg.

 

Doch unter seiner Herrschaft verändert sich Amerika plötzlich mit unglaublichem Tempo. Ausgrenzung und Hetze nehmen täglich zu. Die Gesellschaft spaltet sich. Das Klima wird rauer. Übergriffe auf Minderheiten finden statt, Angriffe, die die Politik versucht kleinzureden. Die unabhängige Presse wird immer weiter diskreditiert, bis auch sie sich Übergriffen ausgesetzt sieht. Der Präsident ist egozentrisch und sieht sich über dem Gesetz. Er will sich so weit wie möglich von seinem Vorgänger absetzen und schließt deswegen Verträge mit Despoten und Diktatoren, die er zu seinen Freunden zählt. Seine Präsidentschaft ist unbestritten die größte Bedrohung, die die amerikanische Demokratie jemals erlebt hat.

 

Nein - die Rede ist nicht von Donald Trump. Die Parallelen sind zwar verblüffend, aber in dem Roman aus dem Jahr 2004 (!) geht es um Charles Lindbergh, dem Fliegerheld Amerikas aus den 1920er Jahren. Er ist Antisemit, verehrt den Nationalsozialismus und trägt sogar das Großkreuz des Deutschen Adlerordens, verliehen von Hermann Göring höchstpersönlich.

 

Was wäre gewesen, wenn...

 

Was wäre gewesen, wenn sich der beliebte Held - so wie es einige Republikaner damals tatsächlich anstrebten - 1940 gegen Franklin D. Roosevelt zur Wahl des Präsidenten gestellt und gewonnen hätte?

 

Der Roman geht dieser Frage bedrückend und eindringlich nach. Anhand einer jüdischen Familiengeschichte, erzählt aus der Sicht eines Kindes, beschreibt er das Chaos und die Panik, die ein autoritärer Antisemit, Faschist und Egomane als Präsident heraufbeschwört. Er beschreibt, wie eine Gesellschaft umschwenkt, immer mehr Hass und Spaltung erlebt, wie sie zerfällt und durch eine Verschwörung droht, zu kapitulieren, angestachelt durch Worte und Taten des Präsidenten und seiner Regierung.

 

Ich habe den Roman regelrecht verschlungen. Dabei ist es kaum zu glauben, dass er bereits aus dem Jahr 2004 stammt. Geradezu prophetisch hat Roth darin die starke Führungsgsmacht beschrieben, nach der sich so viele Amerikaner (und viele weitere Nationen) sehnen. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind so frappierend, dass man fast einen zeitgenössischen Roman zu lesen meint, einen Roman, der einem mehr und mehr die Kehle zudrückt und durch den man eine Ahnung davon bekommt, was es heißt, einer Minderheit in einem autoritärem Regime anzugehören.

 

Ein großartiger Roman! Faszinierend und absolut lesenswert!

 

 

 

Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika

Roman, Deutsch von Werner Schmitz

Taschenbuch, 544 Seiten

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007

...liest gerade "Babel" von Kenah Cusanit

Es ist eines der größten archäologischen Ereignisse der Menschheit. Der deutsche Architekt und Bauforscher Robert Koldewey entdeckt um 1900 das antike Babylon und gräbt nicht nur das weltbekannte Ischtar-Tor aus, das heute im Berliner Pergamonmuseum zu finden ist, sondern auch den legendären Turm zu Babel.

 

Doch am Ende seiner Ausgrabungen liegt Koldewey erschöpft im Bett und versucht seine eingebildete oder tatsächliche Krankheit mit Rezinusöl zu lindern. Seine Gedankengänge führen uns von den Quellen des jüdisch-christlichen Kulturraums, deren Geschichten nur Abschriften von älteren babylonischen und assyrischen Texten sind, über die weltpolitische Lage kurz vor dem 2. Weltkrieg in Deutschland und Nahost sowie über die Spuren, die Franzosen, Engländer und Deutsche in den größtenteils kolonialisierten Gebieten hinterlassen, hin zu den Ausgrabungen vor Ort.

 

Der Roman gibt schnell zu verstehen, dass die Geschichte der Menschheit seit Anbeginn ein in sich verflochtenes Geben und Nehmen ist. Dabei spielt er mit vielen Formen von Überlieferungen, denn es gibt eine Vielzahl an essayistischen Abhandlungen, es gibt Listen, Dialoge, Briefe, sogar Fotos.

 

Denis Scheck schrieb, der Roman sei "turmhoch allem überlegen, was sonst in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in diesem Frühjahr erscheint", und so bin ich mit großen Erwartungen an die Lektüre gegangen.

 

Doch die Faszination kann ich leider nicht teilen. Mir ist der Roman zu essayistisch, zu konstruiert, zu gewollt. In jedem Satz merkt man dem Text an, dass eine Altorientalistin versucht, ihr Metier darzustellen, und den Roman dadurch mit Informationen überfrachtet, die den Erzählfluss stören und das Textgefüge sprengen.

 

 

 

Kenah Cusanit: Babel

Roman

gebunden, 272 Seiten

Hanser Verlag, München 2019

...liest gerade "Die Frau in den Dünen" von Kobo Abe

Sein Ziel ist der Strand und das Meer. Eigentlich will er nur raus aus der Stadt und seiner Leidenschaft nachgehen: ein paar der legendären Sandläufer fangen. Diese Käfer locken ihre Beute in die Wüste, um sie dann, wenn sie kraftlos und durstig sterben, aussaugen zu können. Als es Abend wird und er nicht mehr nach Hause zurückkommt, übernachtet er in einem Dorf, das in den Dünen liegt. Untergebracht wird er bei einer Frau, die in einem riesigen Sandloch wohnt. Da es viele dieser Löcher gibt, alle versehen mit Strickleitern, nimmt er das Angebot gerne an. Am nächsten Tag ist die Strickleiter jedoch hochgezogen und er sitzt in der Falle.

 

Fortan soll er der Frau bei ihrer Arbeit helfen. Es ist eine Sisyphosarbeit, denn alles dreht sich in dem Loch um den Sand, der endlos hinabrieselt. Täglich muss er weggeschaufelt werden, um das obenliegende Dorf am Leben zu halten. Der Mann kann sich mit seiner Gefangenschaft nicht abfinden und versucht mehrmals zu fliehen, scheitert jedoch immer wieder. Und so muss er die Situation akzeptieren, bis sich ihm schließlich eine einmalige Gelegenheit bietet, doch noch zu entkommen.

 

Bereits 1962 in Japan veröffentlicht, gilt der Roman heute als ein Klassiker der modernen japanischen Literatur. Und das völlig zurecht!

 

Die surreale Situation, die leisen kafkaesken Untertöne, das Aufwerfen großer Themen von Existenzialismus über Entwurzelung hin zu Gesellschafts- und Systemkritik, gepaart mit einer reinen und klaren Prosa machen diesen Roman einzigartig. Verschiedene Lesarten und Interpretationsmöglichkeiten halten ihn in der Schwebe und verankern ihn so desto stärker im Gedächtnis .

 

Ein wirklich hervorragender Roman!

 

Die Taschenbuchausgabe mit einem langen Nachwort ist im Unionsverlag erschienen.

 

 

 

Kobo Abe: Die Frau in den Dünen

Roman, aus dem Japanischen von Oscar Benl und Mieko Osaki

Taschenbuch, 256 Seiten

Unionsverlag, Zürich 2018

...liest gerade "Das Ungeheuer" von Terézia Mora.

Es ist immer da. Hängt an ihr wie eine zweite Haut. Es gibt kein Entkommen. Gibt kein Entrinnen. Ihr ganzes Leben wird von ihm bestimmt, von diesem Monster, von diesem Ungeheuer. Schließlich sieht sie nur noch einen Ausweg - und erhängt sich.

 

Darius Kopp, ihr Ehemann, kann es nicht verstehen. Warum hat sie sich das Leben genommen? Nach zehn Monaten der Abschottung hält er es nicht mehr aus und begibt sich auf eine zweifache Reise, immer dabei: die Urne seiner Frau. Er versucht sie zu finden, Spuren ihres Daseins aufzuspüren, fährt mit dem Auto in ihre ungarische Heimat, fährt an Orte der Vergangenheit, um das Unbegreifliche zu verstehen. Zugleich reist er in eine andere Welt, in eine düstere Welt, die die ganze Zeit am Abgrund steht, stets fragil und gefährdet ist. Zehn Jahre war er mit Teodóra verheiratet und erkennt erst jetzt, dass er nichts von ihrem Leben wusste. Auf der Reise entlang des Mittelmeers liest er das Tagebuch seiner Frau und stößt auf Unglaubliches, auf das Ungeheuer ihres Lebens, auf ihre lebensverzehrende, todbringende Krankheit. Auf die Depression.

 

Terézia Mora erhielt für ihren Roman im Jahr 2011 den Deutschen Buchpreis. Mag der Text auch an manchen Stellen nicht leicht zugänglich sein, so ist die Beschreibung der Krankheit, die Leere und Schwärze, die Sinnlosigkeit und der Verlust der Lebensfreude, erschreckend plastisch und damit verstörend dargestellt. Dazwischen gibt es immer wieder kleine Augenblicke voller Poesie, die die Sprache hervorzaubert und diesen Text zu einem wirklich lesenswerten Roman macht.

 

 

 

Terézia Mora: Das Ungeheuer

Roman

gebunden, 688 Seiten

Luchterhand, München 2013