Drei Männer, ein Name.
Der erste wohnt im Iran und lebt von den Ersparnissen seiner toten Pflegemutter.
Der zweite lebt in München und befindet sich mitten in der Midlife Crisis.
Der letzte floh als Kind vor dem Krieg und ist nun erfolgreicher Designer.
Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und beanspruchen doch dieselbe Identität.
Ali Najjar ist ein Macher. Er hat die Schrecken des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak als Kindersoldat überlebt, ist durch vermintes Gebiet gestolpert, getrieben von der Armee, die ihn dazu antrieb, als Märtyrer zu sterben. Während um ihn herum Freunde zerfetzt wurden, entkam er nur durch Handlungsschnelle dem Giftgas Saddam Husseins und floh über die Türkei nach Deutschland.
Als er sich mit 14 in einem Kofferraum versteckte und sich aus Angst um sein Leben einnässte, schwur er sich, nie wieder Opfer zu sein, nie wieder Schwäche zu zeigen. Die prägenden Kriegs- und Fluchterlebnisse bilden seinen Antrieb, der ihn in Deutschland als Designer ganz nach oben brachte. Die Medien reißen sich um ihn wegen seiner Geschichte und seines Aufstiegs. Ali Najjar scheint unverwüstlich.
Es ist ein Brief, der plötzlich die Betonmauer sprengt, die er um sich herum gezogen hat. Ein Brief, der ihn in Aufregung und Angst versetzt. Auf einmal bestürmen ihn Schuldgefühle, seine Fassade bröckelt, bricht und reißt. Der Brief stammt von seiner Mutter, die vor einem Jahr verstorben ist und ihn nun an die wahre Geschichte seines Lebens erinnert. Eine Geschichte, die ein anderer für ihn erleben musste.
Verschlungen erzählt Nava Ebrahimi über Krieg, Flucht und Ankommen in einer fremden Welt. Schonungslos wird der Krieg zwischen Iran und dem Irak in den 1980er Jahren dargestellt, die Schrecken und Gräueltaten, der Chemiewaffeneinsatz des Iraks, gefördert durch westliche Staaten, die an Chemikalien und Waffen fürstlich verdienten. Rücksichtlos wird von den Kindersoldaten des Irans berichtet, die in der Schule indoktriniert wurden, als Märtyrer auf den Schlachtfeldern zu sterben und deswegen als menschliche Minenräumer herhalten mussten.
Die in Teheran geborene Schriftstellerin breitet vor dem Leser ein aufwühlendes Verwirrspiel aus, denn die Leben der drei Männer verzahnen sich zusehends, greifen ineinander und aufeinander über. Zugleich versetzt die Geschichte dem Leser einen Faustschlag in den Magen, der sich zusammenzieht und verkrampft. Und doch liest man rastlos weiter und möchte nur eines wissen: Wer verdammt nochmal ist Ali Najjar?
Nava Ebrahimi hat mit ihrem Text "Der Cousin" den diesjährigen Bachmann Preis gewonnen. "Das Paradies meines Nachbarn" erschien letztes Jahr im btb Verlag und ist für mich ein absolutes Highlight dieses Jahres!
Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn
Roman
Hardcover, 224 Seiten
btb Verlag, München 202o