
Bereits 1994 im Original auf Japanisch erschienen, wurde der Roman erst 2020 ins Englische und Deutsche übersetzt und landete schließlich auf der Shortlist des International Booker Prize. Vielfach gelobt als Parabel über Diktaturen und als Meisterwerk der Literatur, ließ es mich erschreckend kalt.
Das liegt vor allem an der Sprache. Obwohl die Protagonistin und Ich-Erzählerin bereits erwachsen ist, bleibt die Sprache seltsam infantil. Zudem liegt wirklich über allem ein dicker Nebel. Weder Orte noch Namen, weder das politische System noch etwaige Hintergründe werden benannt oder gar erläutert. Diese Unschärfe bietet zwar reichlich Raum für Interpretationen, macht die Geschichte aber überaus schwammig.
Der größte Schwachpunkt liegt aber in der allzu simplen Geschichte, in der eine klassische Diktatur beschrieben wird, die Menschen bis aufs Äußerste gängelt. Ogawa selbst nennt das „Tagebuch der Anne Frank“ als eine ihrer wichtigsten Lektüren und so schreit es tatsächlich aus dem ganzen Text nach Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Menschen, die hier merkwürdigerweise durch besondere Gene als Art Übermensch gelten, werden in Kammern vor den Fängen des Regimes versteckt, Bücher werden verbrannt und spätestens, als auch Heines berühmtes Zitat über Bücherverbrennungen fällt, weiß auch der letzte, worauf der Roman anspielt. Das Ende ist schließlich nach dem ersten Drittel absehbar und hält keinerlei Überraschung bereit.
Der Text könnte sich als Jugendbuch eignen, um an das Thema Diktatur heranzuführen, mir aber bot der Roman keinerlei Mehrwert und hat mich schwer enttäuscht.

Yoko
Ogawa: Insel der verlorenen Erinnerung
Roman
Taschenbuch, 352 Seiten
atb Verlag, 2022