...liest gerade „Red Pill“ von Hari Kunzru

Im Südwesten Berlins liegt ein idyllischer Ort, doch er täuscht.

Denn hier tötete Heinrich von Kleist seine Freundin und danach sich selbst.

Hier tagten hochrangige Vertreter des Nationalsozialismus und planten den Holocaust.

Und hier, an den Ufern des Wannsees, findet er nun die Spuren einer Weltverschwörung.

 

Es ist die Midlife-Crisis, die an ihm nagt. Das Gefühl, dass etwas grundlegend schiefläuft, quält den namenlosen Schriftsteller. Abhilfe soll das dreimonatige Stipendium im Deuter Zentrum verschaffen, einer renommierten Forschungseinrichtung für Sozial- und Kulturwissenschaften, in der er zu Kreativität und Inspiration zurückfinden will.

 

Doch statt Abgeschiedenheit findet er Großraumbüros vor, statt Einsamkeit gemeinsame Essen und Unternehmungen. Als er sich immer mehr in sein Zimmer zurückzieht, beginnt er plötzlich Zeichen zu sehen. Besonders in der gestreamten Krimiserie „Blue Lives“ fallen ihm neben literarischen Anspielungen auch Codes der rechten Szene auf, die nur er zu bemerken scheint. Im Internet stolpert er panisch von einem Begriff zum nächsten, gräbt sich immer tiefer durch den Sumpf rechter Parolen und begibt sich dadurch auf einen Weg, der ihm keine Rückkehr gewähren wird.

 

„Red Pill“ ist ein spannender Roman über die Blindheit unserer Welt, in der die Neue Rechte sich längst formiert hat, die Gesellschaft unterwandert und aushöhlt. Sprachliche und bildliche Codes sind längst in den Mainstream eingeflossen und setzen ihr Gift frei. Die Weitreiche und Anonymität des Internets bieten Verschwörungstheoretikern und Faschisten alle Mittel, um eigene Geschichten und Weltanschauungen millionenfach unters Volk zu bringen.

 

Beschränkte sich der Roman auf diese Themen, wäre er ein wilder Ritt durch das Territorium der Neuen Rechten, durch das Internet und die Deutungshoheit über Fakes und Wirklichkeiten. Doch leider rührt Kunzru zu viel Stoff in seinem Roman ineinander. So wird eine ganze Reihe an deutschen Dichtern aufgeboten und nicht nur mit den eben genannten Themen zusammengegossen, sondern auch mit der DDR gemischt, dem Überwachungsstaat, Flüchtlingen, Depressionen, Verfolgungswahn sowie dem Spiel von Wirklichkeit und Phantasie, so dass der Mixer am Ende einen Brei ausspuckt, bei dem ich mich frage: Wonach genau soll der schmecken?

 

Hier wäre etwas weniger Fülle an Themen sicherlich besser gewesen.

 

 

 

Hari Kunzru: Red Pill

Roman, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Hardcover, 352 Seiten

Liebeskind Verlag, Hamburg 2021