... liest gerade "Herzfaden" von Thomas Hettche

Das kleine Mädchen flieht vor dem Vater, damit er ihre Tränen nicht sieht. Mitten im Theater findet sie eine verborgene Ecke und einen Aufgang. Als sie diesem folgt, erwarten sie auf dem Dachboden die zum Leben erwachten Marionetten der Augsburger Puppenkiste. Doch nicht nur sie, sondern auch die Geschichte Hatüs und der BRD sowie der linkisch grinsende Kasperl, der Schlimmes birgt.

 

Hatü, mit bürgerlichem Namen Hannelore Oehmchen, erscheint aus dem Reich der Toten und erzählt dem Mädchen die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, der sie sich mit ganzem Herzen und Leben gewidmet hat. Schon im Zweiten Weltkrieg hat ihr Vater Walter Oehmchen, einst ein berühmter Schaupieler, ein Marionettentheater gegründet. An seiner Seite waren stets seine Frau Rose und seine beiden Töchter. Hatü erzählt von den Erfahrungen des Kriegs, des Faschismus und Antisemtismus, von Bombardierungen, Flucht und Tod und wie diese Schrecken ihr Theater prägten.

 

Nach dem Krieg eröffnete die Familie ein Theater, das sich rasch großer Beliebtheit erfreute. Zusammen schnitzten sie die Figuren, die sie vor den Zuschauern zum Leben erweckten. Irgendwann fiel ihr erneut der Kasperl in die Hände, jene Figur, die sie während des Krieges als erstes erschaffen hatte. Doch hier stockt ihr Erzählfluss. Ein Schatten legt sich über sie und taucht die Szenerie in trübes Licht. Hatü hütet ein Geheimnis, ein Geheimnis, das sich um den grimmig grinsenden Kasperl rankt, einem Außenseiter zwischen den Puppen. Und so liegt es schließlich an dem kleinen Mädchen, das Geheimnis zu lüften. Ängstlich, aber mit Hilfe anderer Marionetten, stellt sie sich dem Kaspar, der mit einem Schicksal aufwartet, das sich tief in die Magengrube wühlt.

 

Der Roman wartet mit zwei Erzählsträngen auf, einer Rahmen- und einer Binnenerzählung. Märchenhaft ist der Ton in der Rahmenerzählung, in der das kleine Mädchen wie Alice im Wunderland durch einen Fuchsbau auf den geheimen Dachboden des Theaters gelangt und auf Puppengröße schrumpt. Farblich voneinander abgesetzt stehen die Texte sich gegeneinander über und fließen doch zusammen.

 

Denn dies ist die Geschichte von Walter Öhmchen und seiner Tochter Hannelore. Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, die so viele Generationen an Kindern verzaubert hat. Und so treten auch alle bekannten Marionetten auf, wie z.B. das Ürmli, Jim Knopf und König Kalle Wirsch. Aber die Geschichte ist noch so viel mehr, denn sie ist auch die Geschichte Deutschlands zu seiner dunkelsten Zeit. Die Geschichte des (Über)Lebens im zerstörerischen Krieg, in dem das Gift des Nationalsozialismus bis in die Kinder sickerte, sowie in den finstren Nachkriegsjahren, in denen man aus dem Alten wieder Neues erschaffen musste.

 

Ein märchenhafter Roman mit ernstem Hintergrund, der dieser Tage aktueller ist denn je.

 

 

 

Thomas Hettche: Herzfaden

Roman

Hardcover, 288 Seiten

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2020