Wenn das Unrecht übernimmt - "Februar 33" von Uwe Wittstock

In wenigen Wochen zur Diktatur

Es ist die Zeit der Straßenkämpfe.

 

Die Zeit der Anschläge und Extremisten, die sich unversöhnlich gegeneinanderstehen.

 

Es ist die Zeit, in der der Nationalismus erstarkt, in der man sich geordnete Verhältnisse durch starke Hand wünscht, in der Politik und Justiz ein Auge zudrücken, wenn es um die Verurteilung rechtsextremistischer Straftäter geht.

 

Es ist die Zeit, in der die Demokratie ihrem Ende entgegenstolpert und ein greiser Präsident per Notverordnungen Gesetz erlassen kann.

 

Es ist die Zeit zwischen der ersten deutschen Republik und der sich aufschwingenden nationalsozialistischen Diktatur, die Deutschland und Europa in den Abgrund reißen wird.

 

Am 30.1.1933 wird Hitler zum Reichskanzler ernannt. Nur 5 Tage später treten Notverordnungen in Kraft, die der rechtsextremistischen Clique weitreichende Befugnisse einräumen. Sofort werden die schwarzen Listen aus den Schubladen geholt und penibel abgearbeitet. Die Verfolgung aller Kontrahenten beginnt, Konzentrationslager werden errichtet und Folterkeller geschaffen. Ein Exodus setzt daraufhin in den kommenden Wochen ein, der seines gleichen sucht und der das Ende des intellektuellen und künstlerischen Deutschlands bedeutet.

 

In dieser Zeit fliehen auch Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Anna Seghers, Else Lasker-Schüler und viele andere, meist Hals über Kopf und um ihr Leben fürchtend. Manche werden niemals mehr zurückkehren, manche werden von den Schergen gefunden und getötet, andere wiederum werden Suizid begehen oder für immer verstummen.

 

Als Ende Februar auch noch der Reichstag brennt und einen Tag später die zweiten weitreichenden Notverordnungen verabschiedet werden, liegt die Demokratie in Trümmern. Am 5.3. gewinnt die NSDAP die neuen Wahlen, die unter stärksten Repressionen stattfanden, und stellt mit der DNVP eine Mehrheit im Parlament, die Jagd auf alle macht, die ihr nicht genehm sind.

 

In den vier Wochen des Februars 1933 entschied sich das Los Deutschlands für die kommenden 12 Jahre und weit darüber hinaus. Es ist also nicht zu verwegen, diese Zeit als den Wintereinbruch der deutschsprachigen Literatur zu lesen.

 

Nachdem mich die Lektüre von „Marseille 1940“ im Frühjahr vollends begeistert hatte, musste ich nun auch den Vorgänger lesen. Und es hat sich gelohnt. Wittstock malt ein minutiöses Panorama der sehr kurzen Übergangszeit von der Weimarer Republik zum 3. Reich. Erschreckend ist es mitanzusehen, wie nur in wenigen Tagen die Reste der Demokratie in sich zusammenbrachen und auf den Trümmern der Hoffnung eine Diktatur errichtet wurde, die sich den Anstrich von letzter Rettung gab. Erschreckend auch, wie sehr sich die Verhältnisse ähneln und stets wiederholen. Propagandafeldzüge gingen damals schon den realen Kämpfen voraus, Hetze und Fake News wurden massenhaft verbreitet und wie Gift unters Volk geschüttet, Sündenböcke wurden gesucht, die man für die eigene Misere verantwortlich machen konnte, Andersdenkende wurden eingeschüchtert und mundtot gemacht oder gleich getötet.

 

Und immer wieder beginnt man dabei mit den Intellektuellen, da einer Diktatur die Denkenden zuwider sind. Man verfolgt sie, bedrängt sie, schüchtert sie ein, schlägt und misshandelt sie und bringt sie letztlich um. Doch sie sind nur die ersten auf der langen Liste der Feinde. Schließlich beginnt im Februar 1933 die 12 Jahre währende Diktatur des Grauens, denen 60 Millionen Menschen zum Opfer fallen werden.

 

Spannend wie ein Thriller, dabei so klar und gut recherchiert wie eine Dissertation veranschaulicht Wittstock die Ereignisse dieses einen Monats, in dem sich alles änderte. Ein Monat genügte, um eine Demokratie zu zerschlagen und eine Diktatur zu errichten. Nie zuvor in den letzten 90 Jahren war dies wohl so aktuell wie heute. Denn unerlässlich schwingt eine Frage während der Lektüre ständig mit: Wäre unsere Demokratie heute standhafter?

 

„Februar 33. Der Winter der Literatur“ sollte Pflichtlektüre für alle werden.

 

 

Hier geht es zur Rezension des Nachfolgebands: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur

 

 

 

Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur

Sachbuch

Gebunden, 288 Seiten

C.H. Beck Verlag, München 2022

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags

 

 

 

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