Jahresrückblick 2021

Schon wieder winkt das Jahresende und bevor Miss Sophie ihren Butler James übers Parkett scheucht, soll einmal innegehalten und auf das vergangene Lesejahr zurückgeblickt werden.

 

Abermals bin ich in unzählige Welten hinabgestiegen, habe dutzende Leben gelebt, hunderte Erfahrungen gesammelt und tausende Male mitgelitten und gelacht. Aus den quadrillionen gelesener Romane in diesem Jahr habe ich die hervorragendsten Titel herausgepickt, 8 Titel, die mich ungemein begeisterten, die etwas in mir bewegten und die ich deshalb uneingeschränkt empfehlen möchte.

 

Deswegen hier eine kleine, aber feine Auslese dieses Jahres - natürlich wie immer nach ganz objektiven Richtlinien! Und mit Klick auf das Foto gelangt ihr zur ganzen Rezension.

 

 

 

"APEIROGON"

von Colum McCann

 

Dies ist die Geschichte einer Freundschaft, wie sie ungewöhnlicher nicht sein könnte. Die Geschichte Ramis und Bassams, der eine Isreali und Jude, der andere Palästinenser und Muslim, vereint durch einen Schicksalsschlag, der ihr beider Leben veränderte. Ungewöhnlich mögen zunächst die kurzen Kapitel wirken, die meist aus wenigen Sätzen bestehen und immer neue Erzählfäden aufnehmen. Doch mit der Zeit verbinden sich die Fäden und weben ein einzigartiges Bild von der Geschichte und Gegenwart Palästinas und Israels, einer Region, die geprägt ist durch tiefen Hass, durch Kriege und Verbechen, durch Politiker und Gruppierungen, die von der stets befeuerten Gewalt und Eskalation profitieren, durch Terrorismus und Apartheidsystem. Wer Apeirogon gelesen hat, schaut mit verändertem Blick auf den Nahen Osten, denn dieser Roman ist eine Wucht!

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"IDENTITTI"

von Mithu Sanyal

 

Was genau ist eigentlich Identität? Wird sie einem von außen zugeschrieben? Wenn ja, von wem und auf welcher Grundlage? Oder sucht man sich selbst eine Identität aus? Darf man zwischen Identitäten wählen? Darf ich sein, wer ich sein möchte oder gibt es dabei Grenzen? Höchst amüsant dreht sich dieser Debütroman um Identitäten, selbstgewählten und aufoktroyierten, um das Gefühl und den Wunsch nach Zugehörigkeit und ums Ausgestoßensein. Er handelt von Rassismus und kultureller Aneignung, vom Spagat zwischen liberalem Weltbild und Cancel Culture, von Political Correctness und ausufernder Empörung, von Sex und Gender, Rollen und Zuweisungen, von der Gesellschaft und ihrem Miteinander und das alles auf so spielend leichtem Wege, das man ungemein amüsiert und unterhalten wird, während einem der Kopf von all den Fragen schwirrt.

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"DIE UNSCHÄRFE DER WELT"

von Iris Wolff

 

Mit höchst eleganten und poetischen Sätzen lädt uns Wolff ein, auf ihrer melodischen und leichten Sprache die kurze, aber desto intensivere Geschichte einer deutsch-rumänischen Familie aus dem Banat zu durchfliegen. So leise, aber kraftvoll fügt die Erzählerin ein buntes Mosaik des letzten Jahrhunderts zusammen, von König Michael und den Wirren des Zweiten Weltkriegs, über die schreckliche Diktatur unter Ceaușescu und seiner Securitate bis hin zum Zerfall der Sowjetunion, so zart, aber ausdrucksstark erzählt sie über vier Generationen, über Wünsche, Ängste und Erinnerungen der Menschen, über Diktatur und Flucht, Heimat und Identität, dass man wahrlich mitgerissen wird. Ein bemerkenswerter Roman!

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"MR. LINCOLN & MR. THOREAU"

von Sebastian Guhr

 

Zwei Männer - zwei Kontrahenten. Der eine verlangt nach gesellschaftlichen Regeln, ficht für staatliche Gesetze und nimmt die Gemeinschaft in den Blick. Der andere flieht die Gesellschaft, lehnt den Staat ab und besinnt sich auf sich selbst. Zwei Lebensauffassungen prallen aneinander, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Denn was ist beim Lebensentwurf des Menschen höher zu bewerten? Die individuelle Freiheit oder der Gemeinschaftssinn? Steht über allem das Recht auf freie Entfaltung, auf absoluten Individualismus? Oder liegt der Zweck des Menschseins im Miteinander, in der Gemeinschaft, in einem Kollektiv, für das der Einzelne Opfer zu bringen hat? Der Roman ist für mich die Überraschung des Jahres und wirklich ein Lesehighlight, das nicht nur auf sehr kluge Weise unterhält, sondern auch die heutige Zeit spiegelt und reflektiert.

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"DAS PARADIES MEINES NACHBARN"

von Nava Ebrahimi

 

Drei Männer und eine Frage: Wer von ihnen ist Ali Najjar? Verschlungen erzählt Nava Ebrahimi über Krieg, Flucht und Ankommen in einer fremden Welt. Schonungslos wird der Krieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren dargestellt, die Schrecken und Gräueltaten, der Chemiewaffeneinsatz des Iraks, gefördert durch westliche Staaten. Rücksichtlos wird von den Kindersoldaten des Irans berichtet, die in der Schule indoktriniert wurden, als Märtyrer auf den Schlachtfeldern zu sterben und deswegen als menschliche Minenräumer herhalten mussten. Vor dem Leser breitet sich ein aufwühlendes Verwirrspiel aus, denn die Leben der drei Männer verzahnen sich zusehends, greifen ineinander und aufeinander über. Zugleich versetzt die Geschichte dem Leser einen Faustschlag in den Magen. Und doch liest man rastlos weiter und möchte nur eines wissen: Wer verdammt nochmal ist Ali Najjar?

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"ICH BLEIBE HIER"

von Marco Balzano

 

Im Kleinen ist dies die Geschichte Grauns, eines Dorfes, das dem Untergang geweiht ist. Im Großen ist es eine Erzählung über die Zerrissenheit von Einwohnern, die zwischen den Grenzen stehen, keiner Nation zugehören, kein Land ihr eigen nennen, Menschen, deren Kultur unterdrückt und ausgelöscht werden soll, die seit Jahrhunderten das Land kultivierten und nun Fremde sind, Minderheiten in Nationalstaaten, gezwungen sich anzupassen oder zu fliehen. Der nüchterne, klare und einfache Stil  stellt die Geschichte umso größer heraus, eine Geschichte, die von Unterdrückung und Widerstand handelt, von Mut, Willenskraft und Trotz, von Heimat, Verlust und Vergänglichkeit, ein beeindruckender Roman über Südtirol, dessen Geschichte die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert widerspiegelt.

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"FRANKENSTEIN IN BAGDAD"

von Ahmed Saadawi

 

Ein Monster geht um. Es ist der Tod, der auf leisen Sohlen Verbrecher jagt. Doch wer steckt hinter dem selbsternannten Rächer? Dieser klug inszenierte Roman erzählt über das Bagdad von 2005 und schenkt einen tiefen Einblick in das Alltagsleben eines von Diktatur und Krieg gebeutelten Landes. Ein Leben, das nunmehr von Angst und Misstrauen kontrolliert wird. Es ist die Geschichte über einen niemals endenen Kreislauf, in dem Morde neue Morde nach sich ziehen, Täter zu Opfer werden und Opfer zu Tätern, die Geschichte einer endlosen Gewaltspirale, in der vergossenes Blut immer wieder nach neuem Blut schreit und der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld verwischt. Mit tiefschwarzem Humor entsteht ein polyphones Bild, eine Parabel auf die Missstände der Gesellschaft,  die oft schmunzeln und im nächsten Moment erschaudernd zusammenzucken lässt.

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"DAS PERFEKTE GRAU"

von Salih Jamal

 

Was für ein poetischer, einfühlsamer und durchaus wahrer Roman!? Ein Roadtrip, der die Zerbrechlichkeit des Lebens gefühlvoll vor Augen führt. So unterschiedlich die Charaktere auch sein mögen, so vereint sie doch die Flucht. Die Flucht vor der Vergangenheit, die Flucht vor sich selbst und den inneren Dämonen, aber auch die ewige Suche nach Sinn, die Suche nach Heimat, Akzeptanz und vor allem: die Suche nach sich selbst. Genau darum kreist der Roman, in dessen Inneren schließlich die Freundschaft aufblitzt. In zarten Tönen wird die ständige Reise in diesem Leben zum Erklingen gebracht, jene Reise, an deren Ende man hofft, sich selbst zu finden und endlich diese ewige Leere im Herzen zu füllen.