Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet - "Zerbrochene Länder" von Scott Anderson

Der Journalist und Schriftsteller Scott Anderson bekam vom The New York Times Magazine den Auftrag, eine umfassende Reportage über den Nahen und Mittleren Osten zu schreiben. Er sollte den gegenwärtigen Krisen nachgehen und Antworten auf die Frage finden, warum so viele arabische Staaten im Chaos versinken. Seine Reise führte ihn von Lybien und Ägypten, durch Syrien und Kurdistan, bis hin zum Irak. Herausgekommen ist ein sehr eindrucksvolles und persönliches Buch, das tiefe Einblicke in Geschichte und Lage der Region bietet.

Scott Andersons Reise war lang und weit. Auf der Suche nach Gründen für den Zerfall so vieler arabischer Länder, für die Gewalt, die sich in einer Endlosschleife fortzudrehen scheint, sowie für den Hass, der immer wieder neuen Hass entfacht, begleitete er viele verschiedene Menschen auf ihren Wegen und interviewte sie.

 

Herausgekommen ist eine Reportage, die überaus anschaulich, informativ und persönlich geworden ist, eine Reportage, die einen tiefen Einblick in die Lebensumstände im Mittleren und Nahen Osten ermöglicht.  Dabei hebt sich sein Bericht ab vom Rest der Darstellungen zur arabischen Welt. Denn Anderson stellt sechs Menschen aus unterschiedlichen Ländern in den Mittelpunkt, in deren Geschichten sich die Geschichte des jeweiligen Landes bzw. Volkes widerspiegelt. Es ist eine Reportage, die das Schicksal einzelner verfolgt, dabei jedoch die Zusammenhänge der arabischen Welt ins Licht rückt.

 

So unterschiedlich die einzelnen Schicksale der Menschen auch sind, so unterschiedlich sich die einzelnen Staaten auch entwickelt haben, so handeln die Geschichten doch alle von großen Verfehlungen und Enttäuschungen, von ständiger Unterdrückung und Repression, von Hoffnung und Aufbegehren.

Und immer wieder vom Tod.

 

 

DER URSPRUNG DES CHAOS

 

Karte vom 8. Mai 1916: Mark Sykes und François Picot teilen die Levante in eine französische „blaue Zone“ A, eine britische „rote Zone“ B und ein international verwaltetes Palästina.
Karte vom 8. Mai 1916: Mark Sykes und François Picot teilen die Levante in eine französische „blaue Zone“ A, eine britische „rote Zone“ B und ein international verwaltetes Palästina.

Wer das Heute will verstehen, muss in die Geschichte gehen. Auch wenn es manchmal abwegig erscheint, liegt der Ursprung vieler Umstände und Situationen unserer heutigen Zeit im Ersten Weltkrieg und seiner Nachkriegsordnung begründet. 1917 greifen die USA erstmals im Namen der Menschenrechte in einen Krieg außerhalb ihres Territoriums ein, der Auftakt eines anscheinend erst dieser Tage endenden Interventionismus, der das ganze letzte Jahrhundert und den Anfang dieses Jahrtausends kennzeichnet. Auch in der UdSSR werden vor hundert Jahren die Weichen gestellt, die Russland bis heute kennzeichnen.

 

Ebenso verhält es sich mit dem Nahen Osten. Die Teilung des zerschlagenenen Osmanenreichs zwischen Großbritannien und Frankreich, festgehalten im zunächst geheimem Sykes-Picot-Abkommen von 1916, ist der Beginn der fragilen Ordnungen im Nahen und Mittleren Osten. So haben bereits britische Beamte die Aufteilung in ein französisches und britisches Gebiet "The Great Loot" genannt, was der Heuchelei nur zu gut Ausdruck verleiht. Denn nicht nur wurde zuvor den Arabern ein souveräner Staat in Aussicht gestellt, man versprach einen Teil des Landes ebenso den Juden. In Wahrheit wollte man sich aber eher bereichern.

 

Das von US-Präsident Wilson deklarierte Selbstbestimmungsrecht aller Völker wird für die Araber unter den Tisch gekehrt. Trotz dieser ersten großen Enttäuschung folgt eine Phase relativer Stabilität. Das ändert sich jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg.

 

 

DER WEG ZUR KATASTROPHE

 

Der weitere Weg ist besonders gekennzeichnet durch die Gründung Israels 1948. Eine Art panarabischer Nationalismus entsteht, den der ägyptische Staatspräsident Nasser als Hoffnungsträger gegen Kolonialismus und Ausbeutung personalisiert. Kriege mit Israel werden geführt, man wendet sich von den USA ab, hin zu Russland.

 

In den 1970er und 1980er Jahren gelangen in fast allen arabischen Ländern Despoten an die Macht. Viele beginnen hoffnungsvoll, doch schon bald unterdrücken sie das eigene Volk brutal mit ausgefeilten Repressionsapparaten und Notstandsverordnungen. So regiert Muammar al-Gaddafi seit 1969 in Lybien, Hafiz al-Assad seit 1971 in Syrien, Saddam Hussein seit 1979 im Irak, Husni Mubarak seit 1981 in Ägypten und Zine Ben Ali seit 1987 in Tunesien. Dabei regieren sie Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten auf dem Reisbrett durch willkürliche Grenzziehungen geformt worden sind, ungeachtet jeglicher Konfessionen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Manchmal mithilfe der USA und anderen Westmächten, manchmal mithilfe der UdSSR können die Diktatoren die Macht konsolidieren. Denn so grausam sie auch vorgehen mögen, sie halten religiöse Fanatiker klein, verfolgen und töten sie. Dadurch scheinen die unheiligen Allianzen gerechtfertigt. Doch es sind gerade diese manchmal wechselnden Allianzen, die dazu beitragen, den Westen und besonders die USA zu verteufeln.

 

 

DER BEGINN DER KATASTROPHE

 

Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat mit angeblichen Beweisen von Massenvernichtungswaffen im Irak, 5. Februar 2003
Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat mit angeblichen Beweisen von Massenvernichtungswaffen im Irak, 5. Februar 2003

Die größte Katastrophe betrachtet Scott Anderson schließlich im völkerrechtswidrigen Einmarsch der US-Streitgruppen und ihrer Verbündeten in den Irak 2003. Dabei werden so viele Fehler begangen, durch die neuer Hass geschürt wird, dass es zur Katastrophe kommen muss. So hetzen die USA z.B. Clans gegeneinander auf, die sich immer noch bekämpfen. Ganze Stammeswesen und Familienbanden werden verfolgt, werden arbeitslos und in die Enge getrieben. Auch die Entlassung sämtlicher irakischer Soldaten, militärisch ausgebildete Kämpfer, die nicht mehr wissen, wie und wovon sie leben sollen, ist eine der großen Fehlentscheidungen. Denn so werden tausende und abertausende Menschen verprellt und finden keinen Platz in einer Nachkriegsordnung, die die USA ohnehin nicht parat hat. Viele von ihnen bilden später die Keimzelle des IS.

 

Als die USA 2011 beginnt, ihre Truppen abzuziehen, hinterlassen sie verbrannte Erde.

 

 

 

ARABISCHER FRÜHLING ENDET IM EXODUS

 

2011 erfasst die ganze arabische Welt eine Welle von Protesten. Abertausende Menschen gehen auf die Straße, um gegen die brutalen Regime aufzustehen und zu demonstrieren. Die zunächst friedlichen Proteste in Tunesien, Ägypten, Syrien, Lybien und anderen Staaten werden mit Gewalt aufgelöst und unterdrückt. Dennoch scheinen sie in manchen Regionen zunächst erfolgreich zu verlaufen. So wird Ben Ali ebenso wie Mubarak gestürzt. Gaddafi wird mithilfe westlicher Fliegerbomber zu Fall gebracht. Allein Assad hält sich an der Macht.

 

In Syrien geht er mit solcher Brutalität, geht so erbarmungslos gegen die Demonstranten vor, dass sich die Gewaltspirale von ganz allein zu drehen beginnt. Da der Westen nur zuschaut, sind die Menschen auf sich allein gestellt. Die Opposition zerfällt in viele Gruppen, von moderat bis islamistisch. Ganze Städte werden dem Erdboden gleichgemacht. Als auch Giftgas gegen die Bevölkerung eingesetzt wird und sowohl die UN als auch die USA, die zuvor einen Giftgaseinsatz als rote Linie bezeichneten, untätig bleiben, radikalisieren sich viele Gruppen. Es ist der einzige Weg zu überleben. Schließlich erwächst aus dieser hochexplosiven Mischung der IS, der Teile des Iraks und Syriens überrennt.

 

Auch in Lybien zerfällt der Staat. Gaddafi wurde gelyncht, doch eine Ordnung für danach gibt es nicht. Clans streiten um die Vorherrschaft, bis heute.

 

In Ägypten hingegen wird in den ersten freien Wahlen des Landes Mohammed Mursi zum Präsidenten gewählt, ein Anhänger der Muslimbrüder. Dieser wird nur wenig später wieder gestürzt. Massaker an Muslimbrüdern werden verübt. Der General und von Mursi selbst ernannte Verteidigunsminister Abd al-Sisi übernimmt die Regierung und wird Präsident Ägyptens, ein Präsident, der das Volk ebenso brutal unterdrückt wie Mubarak zuvor.

 

Der Zerfall der arabischen Ländern hat schließlich einen Exodus zur Folge. Die Menschen fliehen vor Krieg, fliehen vor Unterdrückung, Heucheleien und Repressionen. Sie fliehen vor Tod und Zerstörung, vor endloser Gewalt und Hoffnungslosigkeit und machen sich auf den beschwerlichen Weg nach Europa.

 

 

 FAZIT

 

Andersons Reportage ist aufwühlend, zugleich jedoch gibt sie einen Einblick in die vielen verschiedenen Realitäten arabischer Länder und zeichnet historische, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge nach. Sie durchleuchtet die Geschichte auf anschauliche und informative Weise und versucht dadurch den Gründen der ewigen Gewaltspirale nachzugehen. Besonders die eindrücklichen Lebensbeschreibungen und Interviews mit den sechs Menschen, die hier im Vordergrund stehen, verleihen der Reportage eine sehr persönliche Note. Mögliche Schuld wird aber nicht nur im Westen gesucht, sondern auch bei den Menschen vor Ort, denen oft der eigene Clan über allem anderen steht. Die Reportage bietet damit eine differenzierte Sicht auf die Lage im Mittleren und Nahen Osten.

 

Eines steht jedoch unwiderruflich fest: Die arabische Welt brennt immer noch. Syrien, der Irak und Lybien verkommen immer mehr zu failed states. In Ägypten sitzen unter al-Sisi mehr politische Inhaftierte in den Gefängnissen als jemals unter Mubarak. Krieg, Unterdrückung, Repression, Verfolgung - die Gewaltspirale dreht sich immer weiter.

 

Dieses Buch legt eindrücklich Zeugnis davon ab.

 

 

 

Scott Anderson: Zerbrochene Länder - Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet

Sachbuch, aus dem Englischen übersetzt von Laura Su Bischoff

Paperback, 264 Seiten

Berlin: Suhrkamp Verlag 2017

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags

 

 

 

 

Bildnachweis: Sykes-Picot-Abkommen, Royal Geographical Society // Quelle: FAZ

  Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, United States Government// Quelle: Wikipedia