Ein Brief voller Zärtlichkeiten, voller Liebe und Poesie.
Ein Brief voller Gewalt, voller Auseinandersetzung und Traumata.
Ein Brief, wie es ihn wohl noch nie zuvor gegeben hat.
Als sich Little Dog entscheidet seiner Mutter zu schreiben, ist er 28 Jahre alt. Geboren in Vietnam, schlägt er sich in den USA
mit der Andersartigkeit herum, die ihn und seine Familie als Migranten an den Rand der Gesellschaft verschlagen hat. Er rekapituliert sein Leben, die Gewalt, die ihm von der Mutter
entgegenschlug, aber auch die Fürsorglichkeit, mit der sie ihn umtätschelte. Er erzählt seine Familiengeschichte, erzählt von Vietnam und dem Krieg, von den Frauen seiner Familie, denen
Wunden gerissen wurden, die nicht mehr verheilen. Er schreibt über die Muttersprache, die ihm abhandengekommen ist, und die neue Sprache, in der er zu denken und leben gelernt hat.
Schreibt über das Leben in der neuen Heimat, über Anpassung und Assimilierung, über Verlust und Erinnerung, Rassismus und Drogen. Und er schreibt über die erste Liebe, das erste Mal, da
er sich vollkommen fühlte und sich selbst annahm.
Mit dem Brief an seine Mutter folgt er den Spuren seiner Identität, derer er sich Wort für Wort selbstvergewissert. Wie ein Mosaik
setzt er sich Buchstabe für Buchstabe selbst zusammen, bis er ein Bild von sich in den Händen hält, in dem er sich wiederfindet. Und so schreibt er sich sein Leben von der Seele - und
findet in der Sprache ein neues.
Denn diese ist es auch, die den Roman hervorhebt. Die Sprache ist so kraftvoll und zugleich feinfühlig, melancholisch und doch
voller Sprachwitz, poetisch und bildhaft, voller Energie und Eleganz. Dass Ocean Vuong Lyriker ist, fällt einem gleich nach den ersten Sätzen auf. Und so braucht man erstmal eine Weile,
bis man in die Sprache des Romans findet. Wenn man sich aber schließlich auf ihre Bildhaftigkeit und Nuancen einlässt, wird man geradezu durch die Geschichte getragen. Durch sie entsteht
ein Flickenteppich aus zahlreichen Themen, die der Roman streift. Fragmente, die wie Verse in einem Gedicht schillern.
Allerdings gleitet diese Virtuosität in manchen Fällen auch ins Pathetische ab. An einigen Stellen sind mir die Bilder doch zu
larmoyant und die Geschichte zu schleppend, so dass ich die Begeisterungsstürme der Kritiken nicht ganz teilen kann, die diesen Roman als einen der wichtigsten der letzten Jahre
bezeichnen. Fraglos ist es jedoch ein außergewöhnlicher Roman, der durch sein Sprachgefühl heraussticht. Ein Sprachgefühl, das man nur selten findet.
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios
Roman, aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Hardcover, 240 Seiten
Hanser, Berlin 2019