
Verfolgte Oppositionelle in der Türkei.
Die mordende NSU in Deutschland.
Und die Unterdrückung Schwarzer in den USA.
Wie soll das bitte zusammenpassen?
Doğan Akhanlı verknüpft, was auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheint – und webt daraus einen großartigen Roman!
Türkei, Ende der 70er Jahre. Ein junger Mann bricht aus dem Gefängnis aus. Der zuständige Oberleutnant macht sich auf die Suche nach dem Entflohenen und findet 2370 Briefe, die der Inhaftierte seiner Frau aus der Gefangenschaft hat zukommen lassen. Er beginnt sie zu lesen und schon bald bringen die Worte einen Stein in ihm zum Rollen, einen Stein, der rasch zu einer Lawine anschwellen und eine folgenschwere Entscheidung anstoßen wird.
Jahrzehnte später trifft er auf den Entflohenen in Köln, wo beide seit langer Zeit leben. Für den Oberleutnant wird es eine schicksalhafte Begegnung, denn plötzlich stehen die Gespenster seiner Vergangenheit wieder vor ihm. Indem er zurückblickt, stellt er sich ihnen zum ersten Mal und bringt so Geschichte für Geschichte ans Tageslicht.
Da ist zunächst jene von Tayfun, einem Oppositionellen, der Ende der 70er Jahre in den Fokus des skrupellosen türkischen Staates gerät, wo wahllose Verhaftungen, Verhöre und Folter an der Tagesordnung sind. Spätestens 1980, nach dem Militärputsch, muss er zusammen mit seiner Frau nach Deutschland fliehen.
Da ist aber auch die Geschichte von Maria, die zwangsverheiratet werden soll, sich dagegen auflehnt und um ihr Leben fürchten muss. Auf ihrer Flucht erleidet sie Tragisches und muss mitansehen, wie sich die Rache Jahre später an ihrem Kind entlädt. Oder die Geschichte von Saxarat, einem kurdischen Künstler, der nach Jahrzehnten in der Fremde entgegen der gängigen Fluchtrouten zu Fuß zurück in seine Heimat aufbricht. Oder May, die sich mit den Morden der NSU beschäftigt und Grauenvolles aufdeckt. Alle Stricke laufen in Köln zusammen, wo auch der Autor lange Zeit lebte.
Doğan Akhanlı schlägt in seinem letzten Roman einen ungeheuren Erzählbogen und führt uns die türkisch-deutsche Geschichte der letzten 50 Jahre vor Augen, eine spezielle Geschichte, die universelle Probleme aufzeigt, denn Rassismus, Faschismus, Nationalismus, Ausgrenzung und Unterdrückung scheinen welt- und zeitumspannende Übel zu sein, die nicht auszurotten sind.
Anhand von einer Vielzahl an ineinander verflochtenen Geschichten gelingt es Akhanlı, ein ausuferndes Panorama der Zeit von 1980 bis 2020 zu malen. Erzählt werden diese Geschichten in vier großen Büchern, die durch die Erinnerungen des Oberleutnants zusammengehalten werden. Jede Geschichte hat dabei ihren eigenen Charakter und Ton und ist so mitreißend und lebendig in Szene gesetzt, dass man kaum aufhören kann zu lesen. Unzählige Stränge werden so aufgeworfen, komplex angelegte Stränge, die durch Zeit und Raum miteinander verflochten und filigran ineinander gesponnen werden, sodass sich am Ende ein kunstvoller Teppich ergibt, der sich aus dutzenden Einzelfäden zusammensetzt.
Dabei ist Doğan Akhanlıs Stil einfach großartig, denn er erinnert an orientalische Erzähltraditionen, versetzt mit unheimlich vielen frischen Bildern und Vergleichen. Zugleich sind die Geschichten so berührend und mitreißend, dass Flucht und Vertreibung, Heimatverlust und Heimweh nochmal ganz neu ins Licht gerückt werden.
2018 durfte ich den Autor, der selbst 1991 ausgebürgert wurde, noch bei einer Lesung in Köln kennenlernen, nachdem er in Granada auf Geheiß der Türkei verhaftet worden war. Leider ist er kurz nach Beendigung des Romans 2021 verstorben, gerade so als hätte er mit diesem Werk wie in 1001 Nacht gegen seinen eigenen Tod angeschrieben.
Sankofa ist übrigens ein sehr bemerkenswerter Vogel: Er blickt zurück in die Vergangenheit, um für die Gegenwart und Zukunft gewappnet zu sein. Zurückschauen, um voran zu kommen – das wünschte man sich so oft in unserer heutigen Zeit. Dieser Roman macht es.
Ein wirklich herausragender Roman, wichtig und bedeutend, und schon jetzt ein absolutes Jahreshighlight!

Doğan Akhanlı: Sankfofa
Roman, aus dem Trükischen von Recai Hallaç
Hardcover, 563 Seiten
Sujet Verlag, 2024