Hinter den dicken Mauern des Schlosses knallen die Sektkorken.
In ausschweifenden Exzessen wird gefeiert, getrunken und getanzt.
Vor den Toren jedoch, tief im Wald, da spielt sich Ungeheuerliches ab.
Eine Tat, monströs und unfassbar – und doch alltäglich.
Es ist ein kleiner Ort, dieses Dunkelblum, idyllisch gelegen im österreichischen Burgenland. Früher residierten Grafen hier an der Grenze zu Ungarn. Heute gibt es nur noch ihre Gruft und eine Schlossruine, Zeugen der guten, alten Zeit. Seit Generationen bewohnen alteingesessene Familien den Ort und so bleibt man auch gerne unter sich. Argwöhnisch wird deshalb der fremde, alte Mann begutachtet, der in das Dorf kommt und Fragen stellt, unangenehme Fragen, Fragen nach Gräbern, die bereits im Umland gefunden worden sind, Fragen nach dem Fest des Fürsten am Kriegsende, Fragen nach Einwohnern, die seitdem als verschollen gelten.
Als auch noch ein DDR-Flüchtling ins Dorf stolpert und eine junge Frau verschwindet, stehen endgültig die Geister der Vergangenheit vor der Tür, denn über dem Ort liegt ein dunkles Geheimnis, ein Ungeheuer, das seit Jahrzehnten schläft und niemals geweckt werden sollte.
Nicht leicht verfalle ich in Überschwang – aber mein Jahreshighlight ist bereits gefunden! Besser kann es nicht mehr werden.
Was für ein intensiver, atmosphärischer und stilistisch brillanter Roman!
Wie bei einer Ausgrabung wird mühsam Schicht für Schicht von der Geschichte abgetragen, bis man in eine Tiefe vorstößt, die einen ängstigt. Ganz unten, da schlummert eine kollektive Erinnerung an ein Verbrechen, das ungesühnt geblieben ist und sich zur kollektiven Schuld eines ganzen Ortes ausgewachsen hat.
Brillant sind die Verstrickungen jedes einzelnen Dorfbewohners in die Geschichte des Nationalsozialismus verwoben. Die Charaktere werden so plastisch dargestellt, so lebendig und lebensnah, durch Sprechweisen und Dialekte, durch Wünsche, Ängste und Handeln, durch Lügen, Betrügen und Erpressen, durch Verheimlichen und Totschweigen, dass sie sich in ihrer ganzen Fülle aus dem Papier erheben und als Lebewesen aus Fleisch und Blut vor einem stehen.
Das Thema ist natürlich kein neues, es geht um die Zeit des Nationalsozialismus, um den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sowie die Verdrängungsmechanismen einer ganzen Generation, in der sich keiner erinnern möchte, in der jeder vorgibt, nur ein kleines Rädchen gewesen zu sein, nur Befehle ausgeführt zu haben, einer Generation, in der Erinnerung erst mit dem eigenen Leid einsetzt und das Leid so vieler anderer ausgespart wird. Doch die Komposition, in der sich die einzelnen Fäden zu einem beinahe undurchsichtigen Knäuel verdichten, als auch die bildhafte und ausdruckstarke Sprache, die ironisch gebrochen und mit ihren Mitteln das große Schweigen beschreibt, machen den Roman einzigartig und lassen ihn aus seinesgleichen herausragen.
Auch wenn Dunkelblum eine fiktive Geschichte darstellt, beruhen die Ereignisse auf den Vorfällen in Rechnitz kurz vor Kriegsende, ein Ort, der beinahe wie kein zweiter für die Schuld einfacher Bürger steht. Ein Ort, in dem bis heute über die Gräueltaten geschwiegen wird und es immer wieder Versuche gibt, die Massengräber ausfindig zu machen.
„Dunkelblum“ ist ein aufreibender, wahrer und verdichteter Roman, wie ich ihn lange nicht mehr gelesen haben.
Und so bleibt mir nur den Aufruf: Legt alle Bücher beiseite und lest diesen Roman!
Eva Menasse: Dunkelblum
Roman
Hardcover, 528 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2021