...liest gerade "Ich bleibe hier" von Marco Balzano

Es ist der Brief einer Mutter an die Tochter.

Ein Brief über die Schrecken des letzten Jahrhunderts, über die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten.

Ein Brief über den Zweiten Weltkrieg und den Untergang eines ganzen Dorfes.

Es ist ein Brief, der niemals ankommen wird.

 

Trina wohnt in Graun, ein idyllisches Dorf in Südtirol an der Grenze zu Österreich und der Schweiz. Das Leben ist einfach, aber unbeschwert. Doch mit dem Einmarsch von Mussolinis Schwarzhemden 1923 beginnt eine Odyssee, die im wahrsten Sinne des Wortes im Untergang endet.

 

Die deutsche Sprache wird verboten, die Deutschsprechenden unterdrückt. Immer mehr italienische Siedler strömen in die Region und übernehmen wichtige Funktionen und Ämter. Es geht ein Riss durch die Gesellschaft, der nicht mehr zu kitten ist. Viele Einwohner setzen deswegen ihre Hoffnung auf Hitler. Doch dadurch verästelt sich der Riss in der Gesellschaft nur noch mehr und sprengt neue Gräben, denn nicht alle sind so euphorisch ob des neuen Führers.

 

Es ist aber nicht nur die Weltpolitik, die das Dorf in Atem hält. Es ist auch das verhasste Projekt Mussolinis, an dem die Jahrzehnte hindurch immer weiter gearbeitet wird. Ein Staudamm soll vor den Häusern Grauns entstehen. Ein Staudamm, der Energie liefern soll. Ein Staudamm allerdings, der das Ende Grauns besiegeln würde.

 

Marco Balzano hat mit "Ich bleibe hier" einen beeindruckenden Roman über Südtirol geschrieben, dessen Geschichte die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert widerspiegelt.

 

Geschildert wird besonders die Zerrissenheit von Einwohnern, die zwischen den Grenzen stehen, keiner Nation zugehören, kein Land ihr eigen nennen, Menschen, deren Kultur unterdrückt und ausgelöscht werden soll, die seit Jahrhunderten das Land kultivierten und nun Fremde sind, Minderheiten in Nationalstaaten, gezwungen sich anzupassen oder zu fliehen.

 

Der nüchterne, klare und einfache Stil des Briefes stellt die Geschichte umso größer heraus, eine Geschichte, die von Unterdrückung und Widerstand handelt, von Mut, Willenskraft und Trotz, von Heimat, Verlust und Vergänglichkeit, die letztendlich alles mit sich reißt.

 

Graun, das Dorf am Dreiländereck existierte wirklich und ist nunmehr Touristenattraktion. Zu Füßen des wiederauferbauten Grauns liegt das alte Dorf mitten in einem Stausee, aus dem nur noch der Kirchturm herausragt, als Mahnung der Nachwelt, als Belustigung von Touristen.

 

Mit seinem Roman hat Balzano der Stadt, der Region und damit den einstigen Minderheiten in den Nationalstaaten ein Denkmal gesetzt.

 

 

 

Marco Balzano: Ich bleibe hier

Roman, aus dem Italienischen von Maja Pflug

Hardcover, 288 Seiten

Diogenes Verlag, Zürich 2020