Mein Beitrag zu den Sommerbuchtipps der Buchhandlung JosFritz!
Es ist ein Buch, das das Leben der jungen Studentin Rakel in Aufregung versetzt. Je mehr sie in den Roman eintaucht, desto eindeutiger erkennt sie in der Protagonistin Züge ihrer Mutter, die vor Jahren spurlos verschwand.
Cecilia war emanzipiert, liebte Sprachen und Literatur und stand vor einer glänzenden Karriere als Wissenschaftlerin. Zusammen mit ihrem Mann Martin, der das eigene Dichten für eine Verlagsgründung aufgab, sowie dem gemeinsamen Freund Gustav, der durch Porträts von Cecilia zu einem berühmten Künstler avancierte, lebte sie in einer intellektuellen und sich gegenseitig inspirierenden Ménage-à-trois.
Dann aber verlässt sie plötzlich Mann und Kinder und wird nie mehr gesehen. Angestachelt durch die Lektüre begibt sich Rakel fünfzehn Jahre später auf eine Spurensuche, die sie tief in die Geschichte ihrer Eltern hineinzieht und bis vor eine Tür führt, hinter der all ihre Hoffnungen zu liegen scheinen. Doch was verbirgt sich wirklich dahinter?
Lydia Sandgren hat ein großartiges Debüt vorgelegt, in dem sie das Leben in all seinen Facetten porträtiert. Mit außerordentlicher Fabulierlust werden auf über achthundert Seiten so starke Verflechtungen zwischen den Protagonisten geknüpft, dass man nur zu gerne immer weiterläse. Im Mittelpunkt stehen dabei die unergründlichen Wege des Lebens, die oft erst rückblickend verstanden werden können. So werden über Jahrzehnte innige Freundschaften geschlossen, die ineinander wachsen und doch wieder zerfallen, es wird die Liebe des Lebens gefunden und wieder verloren, und es werden Lebensentwürfe gelebt, die retrospektiv als Lügen gestraft werden. Daneben wird in leisen Zwischentönen nicht nur der Kampf zwischen Individualität und Gesellschaft skizziert, sondern auch das Ringen mit der ewigen inneren Leere. Nicht zuletzt geht es aber auch um weibliches Aufbegehren in einer männerdominierten Welt, in der es immer noch normal erscheint, wenn ein Vater die Familie verlässt, jedoch skandalös, wenn diesen Schritt eine Mutter wagt.
Gesammelte Werke ist ein Entwicklungs- und Epochenroman, eine Familien- und Emanzipationsgeschichte, eine Hommage an die Literatur und die Kunst und ein Schmöker für den Sommer, aus dem man nicht mehr auftauchen möchte.
Mehr Sommerbuchtipps von Bloggern findet ihr hier.
Lydia Sandgren: Gesammelte Werke
Roman, aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig
Hardcover, 880 Seiten
mare Verlag, Hamburg 2021