...liest gerade "Für immer die Alpen" von Benjamin Quaderer

Johann Kaiser ist untergetaucht.
Im Zeugenschutzprogramm blickt er auf sein Leben zurück und dabei wird ihm eines klar: Wenn die Falschen ihn finden, ist seine Geschichte vorbei, bevor er sie zu Ende erzählt hat.

 

Johann Kaiser schreibt seine Memoiren. Er erzählt von seiner Kindheit in Liechtenstein, diesem kleinen Staat zwischen der Schweiz und Österreich, wo jeder jeden kennt, er erzählt vom frühen Verlust seiner Mutter, den er nicht wahrhaben will und auf deren Suche er sich Zeit seines Lebens befindet, und er erzählt von dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der ihn mit solch Gleichgültigkeit behandelt, als wäre er nicht sein Sohn. Er erzählt von den Waisenhäusern, in denen er sein Dasein fristen musste, obwohl er bereits als Kind hoch veranlagt, wenn nicht sogar genial war.

 

Eines Tags findet er eine große Fürsprecherin, die ihn aus der Kälte der Heime herausholt. Es ist keine geringere als die Fürstin von Liechtenstein, die ihm eine angemessene Erziehung und ein sorgenfreieres Leben beschert. Allerdings wird genau diese Verzahnung mit dem Herrscherhaus die Grundsteinlegung für ebenjenes zwiespältige Verhältnis zur Heimat, das ihm zum Verhängnis wird.

 

Als die Fürstin stirbt, sucht er nach Halt in einer Welt, die ihm keinen Halt schenkt und irrt umher. Er versucht sein Umfeld zu bezirzen, prahlt, gibt sich als reicher Erbe aus, kauft Häuser und Yachten, bis er auf die Falschen stößt, die ihn nach Argentinien entführen, gefangenhalten und misshandeln. Nach seinem Martyrium will er Gerechtigkeit, die der Staat Liechtenstein ihm jedoch größtenteils verwehrt. Und als wäre es ein Wink des Schicksals, fallen ihm plötzlich die Steuersünderdatein Liechtensteins in die Hände, mit denen er seinem Wunsch nach Gerechtigkeit Nachdruck verleihen kann.

 

"Für immer die Alpen" ist wahrscheinlich das erstaunlichste Debüt, das ich jemals gelesen habe. Es ist die Lebensbeichte Johann Kaisers, der in der Verbannung lebt, einsam und verlassen, und nur weiter leben kann, solange er erzählt und so lange seine Geschichte weiter erzählt wird. Erzählt wird aber auch mit viel Fachwissen über den tatsächlichen Fall von Heinrich Kieber, dessen Lebensgeschichte den Grundstock der Erzählung bildet.

Es ist ein Hochstaplerroman, beinahe ein Schelmenroman, der mit allerlei literarischen Tricks spielt. So gibt es geschwärzte Passagen, Unmengen an Fußnoten, die mal mehr, mal weniger Sinn ergeben, EMails, doppelte Geschichten, synoptische Gegenüberstellungen, Auszüge aus Sachbüchern und vieles mehr. Dem Leser bietet sich während der Lektüre ein Sammelsurium an literarischen Einfällen, die die Literatur in ihrer ganzen Fülle neben stringend erzählten Welten zu bieten hat.

 

Der Roman ist witzig, schräg, verrückt, großartig und größenwahnsinnig. Er ist mutig und verspielt und von einer besonderen Leichtigkeit des Erzählens durchzogen. Ein Roman über Liechtenstein und seine Machenschaften. Ein Roman über die Literatur und ihre Möglichkeiten. Ein Roman über das Erzählen und dessen Sinn.

Vielleicht wiederholen sich manche Spielchen zu oft, vielleicht sind manche Stellen nicht ganz ausgefeilt, und trotzdem ist es für mich einer der großartigsten und ambitioniertesten Romane dieses Jahres!

 

 

 

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen

Roman

Hardcover, 592 Seiten

Luchterhand Verlag, München 2020