...liest gerade "Lincoln im Bardo" von George Saunders

Wieder und wieder wollte er auf seinem neuen Pony reiten. Die Eltern ließen ihn gewähren, obwohl es regnete und spürbar abkühlte.
Dann erkrankt das Kind und stirbt. Der Tod reißt den Vater aus dem Leben und verändert ihn grundlegend - ein Krisenmoment der amerikanischen Geschichte, denn der Vater ist nicht irgendjemand, der Vater ist Abraham Lincoln.

 

An dem Tag, an dem sein Sohn stirbt, lädt Lincoln zu einem seiner prunkvollen Staatsbankette in sein Anwesen. Die Gäste staunen ob der Kostspieligkeiten, die ihnen geboten werden. Prächtige Gerichte und Getränke werden aufgetischt, exotische Blumen und mehrstufige Lüster zieren die Räumlichkeiten. Atemberaubende Düfte umwehen die Anwesenden. Tanz und Musik werden gegeben, obwohl Krieg herrscht, ein Krieg, in dem Tausende sterben. Und obwohl Willie, der junge Sohn der Lincolns, in seinem Bett liegt und vom Fieber dahin gerafft wird.

 

Als das Kind schließlich den Tod findet und begraben wird, kann Lincoln den Verlust des Lieblingssohnes nicht verkraften. Nachts schleicht er auf den Friedhof, öffnet den Sarg, um seinen geliebten Sohn noch einmal in den Arm zu nehmen. Er hadert, mit sich selbst, mit dem Leben, will nicht loslassen, will es nicht wahrhaben.

 

Und plötzlich geschieht etwas mit ihm. Denn ist der Sohn tatsächlich schon im Jenseits? Ist er schon entschwunden? Oder irrt er noch umher, in einer Zwischenwelt, irgendwo zwischen Hier und Da?

 

George Saunders hat eine einfühlsame Geschichte geschrieben, die zutiefst berührt, eine Geschichte über ein doppeltes Loslassen, ein Loslassen von den Toten, aber auch ein Loslassen vom Leben. Das herausstechendste Merkmal ist dabei jedoch die Form, die keinen einheitlichen Erzähler aufweist, sondern sich in zwei Handlungsstränge aufteilt. Die Geschichte um den verzweifelten Vater wird aus Ausschnitten aus Briefen, Büchern, Memoiren, Berichten, Essays, Tagebüchern, Zeitungen u.a. rekonstruiert, die stimmgewaltig nicht nur die damalige Zeit heraufbeschwören, sondern sich auch teilweise widersprechen. Im Bardo, im Zwischenzustand des Geistes, in den Willie eingetreten ist, treten dagegen eine Vielzahl an Geistern aus vielen vorangegangenen Jahrzehnten auf, die munter miteinander plappern und die doch alle dasselbe eint: Sie hängen noch am Leben und können nicht gehen. Sie können nicht loslassen.

 

"Lincoln im Bardo" ist ein Geisterroman, der durch die Themen Trauer und Tod bewegt und zugleich mit Witz und Scharfsinn, mit Komik und schwarzem Humor aufwartet. Es ist ein Pamphlet für das Leben, der durch seine Einzigartigkeit besticht. Ein sehr lesenswerter Roman!

 

 

 

George Saunders: Lincoln im Bardo

Roman

Taschenbuch, 448 Seiten

btb-Verlag, München 2019