...liest gerade "Solenoid" von Mircea Cărtărescu

Sind es Träume? Sind es Halluzinationen?
Vielleicht Erinnerungen? Oder gar Psychosen?
Eine phantasmagorische Traumwelt bricht mit Gewalt in seinen Wachzustand ein. Die Wirklichkeit scheint zu fließen, unerklärliche Dinge ereignen sich. Das Leben will ihm etwas sagen, will ihn auf etwas stoßen, will ihm etwas zeigen.
Nur was?

 

Als Kind litt er an Tuberkulose, war rachitisch, schwächlich und blässlich. Als Außenseiter fand er Leben und Freude nur in der Literatur. Seitdem er seine Hoffnungen zu Grabe tragen musste, selbst Schriftsteller zu werden, irrt er durchs Leben, verdingt sich als Lehrer, indem er stumpfsinnige Kinder unterrichtet, und verirrt sich durch die Vororte Bukarests.

 

Sein Rückzugsort vor der prosaischen, verwirrenden Welt ist sein Haus, unter dem es wummert und brummt, denn in der Erde liegt ein Solenoid begraben. Vor dem Einschlafen schaut er sich Stücke seiner Vergangenheit an, die er in der Schublade seines Nachttisches sammelt, befremdliche Stücke eines früheren Lebens: Teile seiner Nabelschnur, die Zöpfe seiner Kindheit, die Reste seiner Milchzähne.

 

Seit den Träumen seiner Kindheit beherrscht ihn eine Unruhe, eine Unruhe hinsichtlich des Nichts, das hinter allem lauert. Er ist überspannt, neurotisch und sammelt die Teile seines früheren Ichs, als müsste er sich seiner selbst vergewissern. Nun schreibt er einen Bericht über die Anomalien, die sein Leben kennzeichnen, denn überall sieht er Zeichen und Hinweise. Es stellt sich allein die Frage: Wie soll er sie deuten?

 

Was für ein großartiges, geniales, wahnsinniges, grenzensprengendes Werk!

 

Mircea Cărtărescu versucht nichts weniger, als sich das Universum durch Sprache anzueignen. Essayistische Abhandlungen über das Leben und die Zeit, über die Milliarden Möglichkeiten jeden Augenblicks, über die Literatur und ihre Schattenseiten, über Bücher und ihre Macht, dazu ausführliche Biografien von Wissenschaftlern der Mathematik, Pathologie und Naturkunde, ebenso wie Gedankenexperimente, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen und nur auf ein Ziel ausgerichtet sind: die Bestimmung der vierten Dimension.

 

Bei der Lektüre wird einem schwindelig. Fiktion und Realität gehen Hand in Hand und schließlich ineinander auf. Träumerisch wird das Leben des namenlosen Protagonisten erzählt, immer bedrochlich, beängstigend, erschreckend, immer surreal. Man muss sich auf die 900 Seiten Wahnsinn einlassen, die durchaus Längen aufweisen, aber lohnen, denn man taucht daraus als ein anderer hervor.

 

Ein absolut größenwahnsinniges, im wörtlichsten Sinne unfassbares, aber geniales Werk, das ich wirklich nur empfehlen kann!

 

 

 

Mircea Cărtărescu: Solenoid

Roman

Hardcover, 912 Seiten

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019