...liest gerade "Alle, außer mir" von Francesca Melandri

Die Straßen sind gesperrt, der Verkehr zu Umleitungen gezwungen. Gaddafi braust in weißen Limousinen durch die Stadt und wird herrschaftlich empfangen. Doch es ist nicht Tripolis, durch das er chauffiert wird, es ist das Rom Berlusconis, der einem alten Freund die Ehre erweist.

 

Ilaria findet die Inszenierung schrecklich. Als Linksliberale ist ihr Berlusconi und dessen Politik, die den Rechtspopulismus seit den 90er Jahren wieder salonfähig gemacht hat, tief verhasst. Sie hält dagegen an hohen ethischen und moralischen Ansprüchen fest, wenn auch ihr Selbstbild durch die Liason mit dem Staatssekretär Berlusconis, ihrer alten Jugendliebe, tiefe Risse bekommt, die sie zu ignorieren versucht.

 

Durch den Stau quält sie sich zu ihrer Wohnung, einem Geschenk des nun dementen Vaters. Neben ihr wohnt der Halbbruder. Erst mit 16 Jahren ist sie ihrem Vater auf die Schliche gekommen. Für die junge Tochter war das Doppelleben ihres Vaters ein Schock, der ihr Weltbild zerstörte.

 

Als Ilaria endlich zu Hause angekommen ist und das Treppenhaus hinaufsteigt, steht plötzlich ein Afrikaner vor ihrer Tür. Als Flüchtling abgestempelt, versucht sie ihm zu helfen, doch als dieser junge Mann ihr erzählt, dass er ihr Neffe sei, stockt sie. Und tatsächlich: Er trägt denselben Namen wie ihr Vater. Hatte ihr Vater also noch ein Kind? Ein Kind gar in Afrika? Ilaria geht der Spur nach und begibt sich auf eine langwierige Suche, bei der sie viel mehr entdeckt als sie befürchtet hatte. Über Italien, über ihre Familie und über sich selbst.

 

Über drei Generationen entblättert sich hier eine Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Italiens im letzten Jahrhundert verknüpft ist. Immer tiefer fällt das Licht in die hintersten Ecken der verdrängten Vergangenheit, immer deutlicher zeichnen sich die Kontinuitäten der Geschichte ab, die bis in die Gegenwart reichen. Die Erzählung spannt einen überaus weiten Bogen, um eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die bis in unsere heutige Zeit reicht, angefangen mit der Machtergreifung Mussolinis und der Zeit des Faschismus, die auch im heutigen Italien noch kleingeredet und teilweise verehrt wird. Fortgeführt über die bestialische Kolonialzeit in Abessinien, dem heutigen Eritrea und Äthiopien, wo Italien eine brutale Diktatur errichtete und selbst noch nach der eigenen Schande jahrezehntelang eine der brutalsten Diktaturen der Welt unterstützte. Bis hin zur heutigen Flüchtlingskrise, in der Menschen aus Eritrea, Äthiopien und Libyen, einem damals weiteren italienisch besetzten Land, unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Italien fliehen und dort stranden, abgelehnt, entrechtet und diskriminiert.

 

Schuld und Verdrängung spielen eine große Rolle, in der Familie wie in der Gesellschaft, tragische Schicksale, Lügen und Doppelleben, versteckt unter dem dolce vita Italiens, herrlich gespiegelt durch den Emfpang des libyschen Machthabers durch Berlusconi, deren Freundschaft die lange rechte und faschistische Tradition fortführt.

 

Obwohl ich in diesem Jahr sehr viel gelesen habe, ist "Alle, außer mir" für mich bislang ein Anwärter auf den Roman des Jahres. Herausragend, mitreißend, mit dem Blick in tiefe Abgründe einer Familie und eines ganzen Staates, der sonst für das unbeschwerte Leben steht, der aber seine Vergangenheit nie aufgearbeitet hat und in vielen Teilen immer noch Mussolini verehrt und seinen grausamen Kolonialismus als Nichtigkeit abtut.

 

Ein überwältigender Roman in einer sprachmächtigen Prosa und daher eine absolute Leseempfehlung!

 

 

 

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Roman, aus dem Italienischen von Esther Hansen

Hardcover, 608 Seiten

Wagenbach Verlag, Berlin 2018

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