...liest gerade "Je tiefer das Wasser" von Katya Apekina

Edith und Mae sind Schwestern.
Nachdem sich ihre Mutter das Leben nehmen wollte, wohnen sie bei ihrem Vater in New York.
Doch der ist nicht nur ein berühmter Schriftsteller, er ist ein Fremder, der Menschen für seine Romane missbraucht.

 

Die sechzehnjährige Edith fand ihre Mutter, als diese bereits blauangelaufen über den Küchenfliesen baumelte. Gedankenschnell rettete sie ihr das Leben. Seitdem wird die Mutter in einer Heilanstalt therapiert und Edith und ihre Schwester mussten zu ihrem Vater nach New York ziehen. Der Mutter zugeneigt hegt sie Wut und Hass gegen den diesen Mann, denn schließlich war er es doch, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat und nun verantwortlich für das Drama ist, das die Familie zerrüttet.

 

Die zwei Jahre jüngere Mae grollt hingegen der Mutter. Der berühmte Vater eröffnet ihr nun ein neues Leben, zerrt sie raus aus dem Würgegriff dieser Frau, deren Depressionen und Psychosen sie qualvoll miterlebte. Und so nähert sie sich ihm immer weiter an, schaut zu ihm auf, vergöttert ihn und schlüpft nach und nach durch ihre frappierende Ähnlichkeit in die Rolle der jungen Mutter, die den Vater vor vielen Jahren zu Meisterwerken inspirierte. Als sich Mae immer mehr zu der Muse ihres Vaters aufschwingt, beflügelt diesen erneut die Inspiration und er beginnt nach einer langen Blockade wieder zu schreiben. Doch um welchen Preis?

 

Dies ist die Geschichte einer toxischen Verbindung, die Geschichte einer Familie, die aneinander zerbricht und unter deren Trümmer die Kinder am meisten leiden. Es ist eine Geschichte über Kunst und Wirklichkeit, deren Grenzen ausgelotet, überschritten und verwischt werden. Es ist eine Geschichte über die Schattenseiten der Literatur, über die Ausbeutung von Lebensgeschichten und Persönlichkeiten, eine Geschichte, die unwiderruflich die Frage aufwirft, wie weit Literatur eigentlich gehen darf. Es ist aber auch eine Geschichte über die Stärke der Literatur, über den Antrieb zur Kunst, über die Heilung und Verarbeitung, die ihr inneliegt.

 

Anhand vieler unterschiedlicher Stimmen wird die anfangs so eindeutige Geschichte der Familie nach und nach entblättert, so dass man immer tiefer ins Wasser vordringt, bis man durch den Sumpf watet, der sich undurchsichtig auf dem Grund verbirgt. Die Polyphonie der Stimmen lässt eine Vielzahl an Meinungen erklingen, die sich teilweise widersprechen. Durch Briefe, Tagbucheinträge, Telefonate, Interviews, Personalakten und Rezensionen entsteht ein Mosaik an Realitäten, das der/die Leser/in selbst zusammenfügen muss. Und so bleibt ihr/ihm auch das abschließende Urteil dieser Geschichte überlassen, denn wer benutzt und missbraucht hier eigentlich wen. Und wofür?

 

Der Roman ist vielschichtig, belastend, verstörend, intensiv und zugleich verblüffend, kurz: absolut lesenswert!

 

 

 

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

Hardcover, 396 Seiten

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020