EINE ENTGEGNUNG

Ist der Boykottaufruf der WM in Qatar nur wieder ein weiterer Beweis für die rassistische Weltsicht des „Westens“?

 

Gönnt man der arabischen Welt jetzt noch nicht einmal die erste WM in der Region?

 

Warum ist man nicht gegen das ebenso homophobe Russland 2018 aufgestanden?

 

Warum boykottiert man jetzt Qatar, warum hat man nicht auch Russland boykottiert?

 

Das ist doch vollkommen scheinheilig!

 

 

 

Wenn man kritisiert, muss man auch Kritik einstecken. Hier ist meine Gegenkritik, eine Entgegnung an alle Qatarverteidiger:

 

Vorab einmal, ich kritisiere Qatar nicht dafür, dass sie die WM gekauft haben. Sie haben nur nach den Regeln der FIFA-Mafia gespielt und das meiste Geld geboten. Andere Weltmeisterschaften vorher scheinen ebenso gekauft worden zu sein [1], sogar bei unserem Sommermärchen 2006 gab es dubiose Zahlungen.[2]

 

Die FIFA ist das große Probleme, diese Mafia, die eigentlich ein gemeinnütziger Verein ist und deshalb kaum Steuern zahlen muss. Es sind die korrupten Funktionäre, die sich Millionen in die eigene Tasche stecken und damit den Fußball an den Meistbietenden verschachern, angefangen bei dem Verbrecher Gianni Infantino. Bei den Entscheidungen spielen weder der Fußball noch die Bedingungen vor Ort eine Rolle, sondern nur das Geld, das sie einheimsen können.

 

In dieser Hinsicht werfe ich Qatar also gar nichts vor.

 

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Aus rein sportlicher Sicht gibt es allerdings keinen einzigen guten Grund, eine WM in Qatar abzuhalten – und weil der Vergleich immer wieder kommt, in Russland leider schon.

 

Russland ist ein Land mit über 140 Millionen Einwohnern. Es gibt ein Ligasystem mit vielen Fußballvereinen. Die Sowjetunion gewann sogar einmal die EM 1960. Die Frauennationalmannschaft, deren Existenz laut FIFA eine Bedingung für den Erhalt einer WM darstellt, spielt regelmäßig und belegt momentan Platz 26 der FIFA-Rangliste.

 

Eine Vergabe nach Russland macht aus rein sportlicher Betrachtung Sinn. Es gibt genug Menschen, die sich für Fußball interessieren. Die Stadien, die für Milliarden gebaut oder modernisiert wurden, sind nicht völlig nutzlos, auch wenn sie sich wahrscheinlich nicht selbst tragen können.[3]

 

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In Qatar gibt es das alles nicht. Qatar ist ein Land mit ungefähr 270.00 Einwohnern, dazu kommen nochmal circa 2,5 Millionen Arbeitsmigranten. Wie viele Menschen interessieren sich dort wirklich für Fußball? Wie viele der Einheimischen spielen oder gucken Fußball? Wie sinnvoll ist es, in ein Land, das ungefähr so viele Einwohner wie Wiesbaden hat (und wenn man noch all die Migranten dazu zählt, immer noch kleiner als Berlin ist), eine WM zu vergeben und für Abermilliarden acht Fußballstadien und die dazugehörige Infrastruktur zu bauen? Wie nachhaltig ist das? Was passiert mit all den Stadien nach den 4 Wochen Fußball? Werden Sie für weitere Milliarden wieder abgebaut? Verwaisen sie? Umbauten sind geplant, Malls, Fitnessstudios, Hotels, also weitere Milliarden, die ausgegeben werden, damit man 4 Wochen Fußball spielen konnte.[4]

 

Die bislang teuerste WM fand 2014 in Brasilien statt und kostete satte 15 Milliarden US $. Diese WM hat unglaubliche 220 Milliarden US $ verschlungen und es kommen wohl noch mehr hinzu. Das ist eine Steigerung von unfassbaren 1.466 %. Was für ein Wahnsinn! [5]

 

Hinzu kommt, dass es keine Frauennationalmannschaft in Qatar gibt. Sie wurde Ende 2010 eilig zusammengestellt, hat ein paar Spiele bestritten, um den Schein von einer gleichberechtigten Frauenwelt zu wahren, und existiert seit 2014 nicht mehr, wird auch nicht mehr bei der FIFA geführt. Sie ist verschwunden, obwohl sie eine Voraussetzung darstellt, um eine WM ausrichten zu dürfen.[6]

 

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Bei den ganzen Vergleichen mit Russland scheinen heute viele vergessen zu haben, dass auch die WM in Russland sehr umstritten war. England überlegte sogar, die WM ganz zu boykottieren - wohl eher wegen des Mordes an dem Agenten Skripal, doch zeigte schon allein die Drohung, dass auch diese WM eine andere war. Auch damals hagelte viel Kritik von allen Seiten auf den WM Gastgeber ein.[7]

 

Denn auch damals war bereits von Ausbeutung die Rede, besonders von Nordkoreanern. Auch damals starben anscheinend Menschen beim Bau von Stadien und Infrastruktur.[8] Allerdings ist die Größenordnung doch eine völlig andere. Internationale Schätzungen gehen von 15 - 21 Toten aus, bei Qatar liegen sie zwischen 6.500 und 15.000.

 

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Hätte man die WM 2018 also boykottieren sollen?

 

Auf jeden Fall! Denn jedes Menschenleben zählt! Egal, ob für eine WM 20 oder 15.000 Menschen sterben, es ist eine Schande!

 

Aus heutiger Sicht stimme ich vollkommen zu, dass man auch Russland hätte boykottieren sollen, allein wegen des brutalen Vorgehens in Syrien, in dem Russland ganze Städte in Schutt und Asche gelegt hat, ähnlich wie jetzt in der Ukraine. Auch natürlich wegen der Menschrechtslage vor Ort, besonders wegen der Repressalien gegen die LGBTQIA+ Community, oder aber wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. All das waren gute Gründe, auch diese WM zu boykottieren.

 

Aus heutiger Sicht würde ich ebenso zum Boykott aufrufen. Aus heutiger Sicht würde ich diese Spiele ebenfalls nicht schauen. Aber heute bin ich auch ein anderer als vor 4-5 Jahren, heute ist diese Welt eine völlig andere, denn sie hat sich in den letzten Jahren nochmal mit einem Tempo weitergedreht, dass man oft nicht mehr hinterherkommt. Durch all die Krisen, Kriege, Affären und Skandale in den letzten Jahren hat sich diese Welt stark gewandelt. Die Menschen haben sich ungemein politisiert und viele sind sensibler geworden für Themen wie Menschenrechte, Umwelt- und Minderheitenschutz.

 

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Wer wusste schon vor 4-5 Jahren, was LGBTQIA+ bedeutet? Wer hat sich vor wenigen Jahren für queere Menschen interessiert? Wer wusste überhaupt, was transgender und intersexuell heißt?

 

Wer hat damals schon gegendert? Wer wusste überhaupt, was gendern bedeutet? Heute gendern sogar Moderator*innen der rechtlich-öffentlichen Anstalten und egal, wie man zum Gendern steht, dadurch wurde eine enorme Sensibilisierung für das Thema geschaffen und die Lage der LGBTQIA+ Community rückte in den Fokus.

 

Genauso könnte man fragen: Wer hat sich vor 4-5 Jahren schon wirklich fürs Klima interessiert? Erst Fridays for Future hat das Thema in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt. Heute achten immer mehr Menschen auf die Umwelt, die Grünen sind so stark wie nie zuvor, Firmen werben mit ihren nachhaltigen Produkten und veganes Essen aus biologischem Anbau bekommt man auf einmal an jeder Straßenecke.

 

Was will ich damit sagen?

 

Diese Welt hat sich in den letzten Jahren enorm verändert, die Menschen haben sich verändert, die Gesellschaft ist so sensibilisiert und politisiert wie lange nicht.

 

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Ist es jetzt also rassistisch, die WM in Qatar zu boykottieren?

Gönne ich es der arabischen Welt nicht?

Messe ich mit verschiedenen Standards?

 

Mitnichten!

 

Ich boykottiere diese WM nicht, weil sie in einem arabischen Land stattfindet, geschweige denn weil wir sie im Winter sehen müssen. Ich finde es sogar sehr gut, dass die arabische Welt die WM ausrichten darf. Ich boykottiere sie wegen der Bedingungen vor Ort. Hätte es all die tausenden Toten nicht gegeben, all die Leibeigenen, die unter unmenschlichen Bedingungen diese WM erst ermöglicht haben, und würden Menschenrechte ausnahmslos für alle gelten, hätte ich sie wohl auch geschaut, auch wenn ich sie aus rein sportlicher Sicht immer noch total schwachsinnig gefunden und die FIFA weiter kritisiert hätte.

 

Allerdings bin ich auch fest davon überzeugt, dass in Zukunft jede weitere WM in einem autokratischen, diktatorischen, Menschenrechte verachtenden oder kriegerischen Land ebenso stark von Boykottaufrufen begleitet wird wie diese WM.

 

 *

 

Wenn Menschen dafür sterben müssen, dass ich Fußball schauen kann, nur damit sich ein Land in kurzer Aufmerksamkeit sonnen darf, werde ich das nicht mehr unterstützen, egal ob die nächste WM in Afrika, Amerika, Asien, Europa oder auf dem Mond stattfinden wird.

 

Und das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit Menschlichkeit.

 

 

 

#fuckfifa #fuckqatar #BoycottFIFA #BoycottQatar2022

 


[1] https://www.spiegel.de/sport/fussball/fifa-wm-2010-2018-und-2022-laut-us-justiz-gekauft-a-0f9ade23-7c45-4301-8491-f5109289b47a

 

[2] https://www.zeit.de/sport/2020-04/dfb-sommermaerchen-prozess-schweiz-fifa-deutschland-fussball-wm-affaere-2006?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

 

[3] https://www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-nach-der-fussball-wm-russlands-schwierige-rechnung-100.html

 

[4] https://www.watson.de/sport/wm%202022/845308792-wm-2022-wie-kurios-die-stadien-nach-der-weltmeisterschaft-genutzt-werden

 

[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1332930/umfrage/kosten-fuer-die-austragung-von-fussball-weltmeisterschaften/

 

[6] https://www.br.de/themen/sport/inhalt/recherche/sport-recherche-katar-frauen-fussball-100.html

 

[7] https://www.sportbuzzer.de/artikel/die-kritik-an-der-fussball-wm-2018-in-russland/

 

https://www.20min.ch/story/mindestens-17-arbeiter-starben-auf-baustellen-795443607770

 

[8] https://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/wm-2018-in-russland-todesfaelle-und-ausbeutung-beim-stadionbau-14955847.html

 

 

 

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