...liest gerade „Frau im Mond“ von Pierre Jarawan

Am Anfang steht eine Rakete, die die ganze Hoffnung des Libanons mit sich trägt.

 

Am Ende die größte nichtnukleare Explosion der Geschichte, die das Land tief in die Krise stürzt.

 

Es ist die Leerstelle in all den Erzählungen ihres Großvaters, die Lilit in den Libanon verschlagen hat. Hier will sie endlich das Geheimnis um ihre Großmutter Anoush lüften, die vor über hundert Jahren als Findelkind nach Kanada gekommen war. Genauso wie ihr Großvater stammte auch sie aus der Levante. Doch während dieser noch lebt und ausschweifend von seiner Lebensgeschichte erzählt, bleibt die tote Großmutter ein unbeschriebenes Blatt.

 

Im Libanon selbst herrscht Chaos, täglich finden Demonstrationen statt, die Korruption wuchert, die Inflation ist außer Kontrolle und überall finden sich noch Spuren des Bürgerkriegs. Die Blütezeit des Landes, als das Bildungswesen als eines der besten der Welt gepriesen und sogar ein international angesehenes Raketenprogramm aufgebaut wurde, ist längst Geschichte. In all diesen Wirren schafft es Lilit, Spuren ihrer Großmutter zu finden und nähert sich einem Geheimnis an, das tief in die Geschichte reicht und bis heute Auswirkungen hat.

 

„Die Frau im Mond“ ist ein grandios komponierter Roman, der vor allem durch seine Erzähltechnik besticht. Hier wird mit Erzählhaltung sowie Leseerwartung gespielt, mal selbstreflexiv, mal ironisch, wobei schon mal Erzählzeit und erzählte Zeit miteinander kollidieren. Mit viel Witz und Leichtigkeit, aber auch Tiefe und Hintergrundwissen wird die Geschichte einer Familie erzählt, die selbst in dritter Generation noch als Migrantenfamilie gilt, verbunden mit der Geschichte des Libanons und der Levante im letzten Jahrhundert.

 

Darüber hinaus ist es aber vor allem ein Roman übers Erzählen an sich, denn Erzählungen verbinden nicht nur eine Familie über die Generationen miteinander, sondern auch Gesellschaften und Nationen. Was geben wir unseren Kindern weiter? Welche Geschichten überdauern die Zeit? Was wird im kollektiven Gedächtnis verankert, was eher verdrängt?

 

Auch wenn mich der erste Teil des Buches mehr überzeugte, ist der Roman unbedingt zu empfehlen!

Große Erzählkunst!

 

 

 

Pierre Jarawan: Frau im Mond

Roman

Hardcover, 496 Seiten

Berlin Verlag, 2025