...liest gerade "Herbst" von Ali Smith

Das Paar könnte gegensätzlicher nicht sein.
Sie - ein junges Mädchen, aufgeweckt, oft allein gelassen.
Er - Rentner, gebildet und kunstinteressiert.
Doch zwischen ihnen entspinnt sich eine Freundschaft, die ein Leben lang halten wird.

Als Elisabeth vom Zustand ihres Freundes hört, bricht sie ihre Zelte in London ab, wo sie als Kunsthistorikerin an der Universität arbeitet, und quartiert sich bei der Mutter ein. Sie will ihrem alten Freund nahe sein und besucht ihn im Krankenhaus, wo der mittlerweile 101jährige Daniel Gluck vor sich hin phantasiert. An seinem Bett liest sie ihm vor und blickt auf die einmalige Freundschaft zurück, die sie immer noch verbindet.

Als Elisabeth ein Kind war, passte der schon damals uralte Nachbar zeitweise auf sie auf. Zu zweit gingen sie spazieren und unterhielten sich angeregt. Dabei öffnete Daniel ihr nicht nur die Welt der Bücher, sondern auch die Augen für die Kunst und die Wunder des Lebens.

Nun irrt Elisabeth durch ihre Heimatstadt, die genauso zerrissen scheint wie der Rest des Landes. Denn nicht nur der alte Freund siecht dahin, sondern auch das Großbritannien der Gegenwart, in dem Abgrenzung, Hass auf Fremde und Wut auf Eliten ansteigen. Es ist 2016 - die Abstimmung über den Brexit ist erst wenige Wochen alt. Und Elisabeth schaut skeptisch in die Zukunft.

Ali Smith schreibt eine Tetralogie über das gegenwärtige Großbritannien. "Herbst" ist dabei der erste Band der Reihe, der im Original schon 2016 erschienen ist. Eine Besonderheit liegt in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Schreibakt und der Veröffentlichung der Bücher. Denn so bewahren die Romane ihre hohe Aktualität. Momentan arbeitet Ali Smith am vierten und letzten Band: "Sommer". Ob es darin um das Corona Virus geht, wird bald zu sehen sein.

In Anlehnung an Pauline Boty, die erste und wohl einzige Künstlerin der britischen Pop-Art, entsteht die Erzählung in "Herbst" wie eine Collage, in der sich aus einzelnen Stücken das Bild ergibt. Die Kritiken überschlagen sich mit Lob über die feinfühlige Poesie der Sprache und betiteln den Roman als DEN Brexitroman.

Ich frage mich derweil allerdings, ob ich denselben Roman gelesen habe, denn mich hat er weder berührt noch bewegt. Die Collagenhaftigkeit finde ich hier eher nervig, die Verbindung zwischen der alten Freundschaft und dem Brexit langweilig, die Sprache - womöglich auch wegen der Übersetzung - keineswegs so poetisch. Viele Themen werden aufgeworfen, aber nur gestreift. Und am Ende weiß ich nichts damit anzufangen. So bleibt ein gepriesener Roman, der keinerlei Nachklang in mir findet.

 

 

 

Ail Smith: Herbst

Roman

Hardcover, 272 Seiten

Luchterhand Literaturverlag, München 2019