Wer bin ich? - "Außer sich" von Sasha Marianna Salzmann

Wer bestimmt eigentlich, wer wir sind? Dieser Frage geht Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman nach. Auf der Suche nach einer Antwort führt die Erzählung den Leser nicht nur durch einen Flickenteppich an Ländern und Zeiten, sondern stellt zugleich Fragen nach Identitäten und Rollenmustern, sprengt Zuschreibungen und Vorurteile und geht sprachlich sowie formal höchst eigene Wege. Stets dreht sich dabei alles um die eine große Frage dieses Lebens: Wer zum Teufel bin ich eigentlich?

Alissa, die von allen Ali genannt wird, verlässt als Kind mit ihrer Familie die UdSSR, die sich gerade in Auflösung befindet, und zieht Richtung Westen. Da die Familie jüdisch ist, nimmt Deutschland sie als Kontingentflüchtlinge auf. In der neuen Heimat angekommen, müssen sie zunächst mehrere Flüchtlingsheime durchlaufen, bis sie in eine eigene Wohnung ziehen dürfen. Doch auch dort finden sie keinen Frieden. Der Vater trinkt und wird gewalttätig, es kommt zu Streit und Auseinandersetzungen. Der ältere Bruder zieht als erstes aus, besetzt Häuser und verübt Straßenkrawallen. Auch Ali hält es nicht lange aus und verlässt mit 16 Jahren das Elternhaus. Sie lässt sich treiben, bricht später sogar ihr Mathematikstudium ab, weil sie sich aufs Boxen konzentrieren möchte. Sie irrt durchs Leben, fühlt sich heimatlos und unverstanden, weiß nicht mehr, wohin sie gehört. Überall ist sie Außenseiterin. Da verschwindet plötzlich Anton, ihr geliebter Bruder.

 

Ali reist in die Türkei, um seiner Spur zu folgen. Sie irrt durch das fremde Land, begegnet ihm oft in Tagträumen und denkt unentwegt an ihn. Anstatt aber ernsthafte Versuche zu unternehmen, ihn ausfindig zu machen, verliert sie sich immer mehr, scheint ruhelos und umtriebig. Während sie auf diese Weise Istanbul durchstreift, reflektiert sie nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern die der ganzen Familie. Sie trinkt, geht in Bars, verbringt schließlich eine Nacht mit einer Frau. Ist sie lesbisch? Fühlt sie sich gar als Junge? Oder ist ihre Affäre doch ein Mann? Ein Verwirrspiel von Zugehörigkeiten und Identitäten beginnt, das Ali nun zwischen Zeiten und Orten, Körpern und Sehnsüchten treiben lässt,  stets auf der Suche nach Wahrheit und Halt, stets auf der Suche nach sich selbst.

 

 

THEMENEXPLOSION

 

Eines ist nach der Lektüre des Romans sicher: Er bietet eine unaufhörliche Explosion an Themen, von denen viele vertieft und manche nur gestreift werden. Aktuelle gesellschaftspolitische Ereignisse, besonders jene in der Türkei bis zum Putschversuch 2016, finden ebenso Eingang in die Erzählung, wie historische. Anhand der Familiengeschichte von vier Generationen bekommt der Leser die weltpolitischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts vor Augen geführt, von der Russischen Revolution über den Stalinismus und den Zweiten Weltkrieg, bis hin zur Nachkriegzeit, dem Zusammenbruch der UdSSR und der Wende. Durch Einzelschicksale wird so die Weltgeschichte porträtiert.

 

Es geht aber auch ums Judentum und um Antisemitismus, es geht um Flüchtlinge und Außenseitertum, es geht um Transgender, sexuelle Orientierung und Homophobien. Und es geht noch um so vieles mehr. Allem gemein ist jedoch das übergeordnete Thema des Romans, das überall wiederkehrt und mehr als nur zwischen den Zeilen aufblitzt. Es ist der ewige Kampf zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, es ist der ewige Kampf um ein emanzipiertes und eigenständiges Leben, ein Kampf, dem sich alle Charaktere im Roman stellen müssen. Besonders in Alis Familiengeschichte gab es stets Außenseiter, die andere Lebensideen entwarfen, die gegen Rollenmodelle ankämpften, gegen konventionelle Zuschreibungen, was ein Mann oder eine Frau zu tun, was ein Vater oder eine Mutter zu sein habe, was ein Jude mache, wie sich ein Russe verhalte, wie ein Deutscher sei. Doch alle Verwandten scheiterten, alle wurden geschliffen und fügten sich letztlich den Rollenklischees, die ihnen aufgezwungen wurden. Ali versucht sich nun ebenfalls den Rollenzuschreibungen zu widersetzen und gerät in einen Irrgarten ihrer Existenz.

 

Anhand dieses Labyrinths werden viele Fragen nach der eigenen Identität aufgeworfen: Inwieweit spielen vorgegebene Identitäten eine Rolle in unserem Leben? Woher nehmen wir unsere Identität? Wer sagt uns, was und wer wir sein wollen? Was macht das Ich aus? Was bin ich fern ab von Nationalität, Heimatland, Muttersprache und Geschlecht? Was definiert mich? Wozu gehöre ich? Und was geschieht, wenn ich anders sein will, wenn ich gegen den Strom schwimmen möchte? Was geschieht, wenn der auserkorene Lebensstils abgelehnt wird, wenn er nicht anerkannt, nicht akzeptiert wird?

 

 

 IM LABYRINTH VON ZEIT, ORT UND KÖRPER

 

Doch das Labyrinth erschöpft sich nicht nur im Inhalt. Auch in Form und Sprache spiegelt sich die Verwirrung der Protagonistin wider. So fällt sogleich ins Auge, dass es von Anfang an zwei abwechselnde Erzählinstanzen gibt, einen Ich-Erzähler und einen personalen Erzähler. Der Unterschied mutet seltsam an, da man schnell begreift, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, eben nur aus einer unterschiedlichen Perspektive. Warum also dieses Spiel?

 

Die Geschichte wird überdies anachronistisch erzählt. Dabei wechseln aber nicht nur Zeit und Ort immer wieder, sondern auch Körper. Manchmal weiß man nicht mehr, ob die beschriebene Person ein Mann oder eine Frau ist. Die Erzählinstanz spielt hier auch formal mit Identitäten, indem sie die Personalpronomen sie und er aufhebt und ad absurdum führt. Denn er kann manchmal sie sein und sie er . Oder ist die Person beides?

 

Ebenso wird man als Leser immer tiefer in die Verwirrung um den Bruder gezogen, an dessen Existenz man zu zweifeln beginnt. Lebt er tatsächlich? Ist er vielleicht nur ein Phantasieprodukt? Oder ist es gar Alissa selbst?

 

Eine Unmenge an schrägen Vergleichen und Metaphern setzt dem Verwirrspiel die Krone auf, denn wenn bereits zu Beginn Schnürsenkel zu kriechenden Insekten werden und ein Wimpernschlag mit Flügeln von Fliegen gleichgesetzt wird, dann muss man doch schon mal schlucken.

 

 

FAZIT

 

Der Roman ist anstrengend. Der Verwirrung, die er stiftet, ist an manchen Stellen nur mit Zähneknirschen zu begegnen, ebenso ist die bildreiche Sprache nicht jedermanns Sache. Themen stecken so viele in dem Roman, dass er manchmal überfrachtet scheint. Und doch, je weiter man liest, desto mehr blickt man hinter das vermeintliche Chaos. Denn die Erzählerin führt den Leser nicht nur ins Labyrinth hinein, sondern auch wieder hinaus. Der Titel und die Aufspaltung in zwei Erzählinstanzen ergeben irgendwann Sinn, selbst die Metaphern lassen einen schließlich schmunzeln und sind an vielen Stellen originell und durchdacht.

 

So überladen an Themen der Roman also auch sein mag, so sehr man sich erstmal in der Sprache zurecht finden muss und so verwirrend die Geschichte auch beim Lesen anmutet, stellt der Roman doch eine Besonderheit dar. Thema, Stil und Sprache sind so außergewöhnlich, dass dem Roman eine Ausnahmestellung zukommt. Die Form ist radikal und spiegelt dadurch doch nur den Inhalt wider, so dass Form und Inhalt in der geschilderten Disharmonie schließlich perfekt harmonieren.

 

"Außer sich" stand zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 und wäre meines Erachtens ein verdienter Sieger gewesen.

 

 

 

Sasha Marianna Salzmann: Außer sich

Roman

Gebunden, 366 Seiten

Berlin: Suhrkamp 2017

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags